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Frankreich ist ein wunderbares Land. Es hätte mich als einen völlig hoffnungslosen Fall aufgeben und gleichgültig zusehen können, wie ich mich immer tiefer in kriminelle Machenschaften verstricke. Stattdessen hat es mir eine zweite Chance gegeben, damit ich ein anständiger Mensch werde. Ich habe die Chance genutzt, zumindest nach außen hin. Frankreich ist ein verlogenes Land. Es lässt alle möglichen Gaunereien, Betrügereien, Mauscheleien zu, solange man diskret vorgeht. Frankreich ist ein Land, das sich zum Komplizen seiner abgezocktesten Bürger macht. Das habe ich schamlos ausgenutzt.

Ein paar Monate vor Ablauf meiner Haftstrafe hat ein Sozialpädagoge meinen Fall übernommen. Er kam mich besuchen, war sehr freundlich und wollte mir zeigen, dass es eine Alternative zu Diebstahl und Körperverletzung gibt: einen Beruf! Das Justizsystem und seine Sonderbotschafter wollten also erreichen, was dem Schulsystem nicht gelungen war.

»Wir besorgen Ihnen einen Ausbildungsplatz, Monsieur Sellou. Im nächsten Monat werden Sie von Fleury-Mérogis in den offenen Vollzug nach Corbeil-Essonnes verlegt. Sie sind dann verpflichtet, sich jeden Morgen an Ihren Arbeitsplatz zu begeben und abends zum Schlafen in die Anstalt zurückzukehren. Das Wochenende dürfen Sie bei Ihrer Familie verbringen. Wir werden regelmäßig überprüfen, welche Fortschritte Sie im Verlauf der Ausbildung machen, und auf dieser Grundlage entscheiden, wie es mit Ihnen weitergeht.«

Amen. Ich konnte ja so tun, als würde mich dieser Vorschlag genauso begeistern wie den Sozialpädagogen. In Wahrheit dachte ich keine Sekunde daran, ihn brav in die Tat umzusetzen. Wie naiv musste man sein, um zu glauben, dass ein Junge, der noch nie gehorcht hatte, weder seinen Eltern noch seinen Lehrern, noch den Bullen, plötzlich bekehrt wird? Und überhaupt: Welche Argumente hatte er, um mich zu überzeugen? Keine! Wobei dieser Softi in Anzug und Krawatte gut beraten war, nicht allzu viele Worte zu verlieren … Ich hatte seiner kleinen Rede aufmerksam zugehört und mir nur die Freiheiten gemerkt, die mir versprochen wurden, nicht die Pflichten. Vor allem hatte ich mir gemerkt, dass ich am Wochenende pennen konnte, wo ich wollte. Also würde ich Corbeil-Essonnes jeden Freitagmorgen verlassen und mich erst Montagabend wieder dort einfinden. Vier Tage in freier Wildbahn … Ich hab sofort unterschrieben.

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Drei Wochen nach Beginn meiner Schnupperlehre – als Elektriker, wie Papa! – werde ich vom Sozialpädagogen vorgeladen.

»Gibt es Probleme an Ihrem Ausbildungsplatz, Monsieur Sellou?«

»Äh, nein … Warum?«

»Wie ich höre, sind Sie die letzten vier Tage dort nicht erschienen.«

Jetzt kapiere ich. Ich war kein einziges Mal dort, um mir zeigen zu lassen, wie man mit Kabel, Schalter und Unterbrecher umgeht. Ich hatte einen Kumpel hingeschickt, sozusagen als Vertretung. Dieselbe Größe, dieselbe Statur: Er sieht mir ähnlich, und ich schau sowieso auf jedem Foto anders aus. Der Schwindel ist erst aufgeflogen, als mein Kumpel blaumachte … Er hätte mir wenigstens Bescheid geben können! Mit dem werd ich noch ein Hühnchen rupfen. Doch jetzt muss ich erst mal den Sozialpädagogen abfertigen. Ich versuch’s auf die Mitleidstour:

»Na ja … Die Sache ist die: Ich hab mich da nicht richtig wohl gefühlt … Es kostet schon genug Kraft, sich wieder einzugliedern, aber wenn dann auch noch fremdenfeindliche Witze gerissen werden …«

»Und was wollen Sie jetzt tun? Wenn Sie Ihre Ausbildung nicht fortsetzen, kann ich Sie nicht im offenen Vollzug belassen. Sie müssen dann nach Fleury-Mérogis zurück.«

Oh … Jetzt hab ich aber mächtig Muffensausen! Der Softi weiß also nicht, dass die Bettwäsche in Fleury viel kuschliger ist als in Corbeil! Ich schlucke meinen Stolz runter, mache ein zerknirschtes Gesicht und fange an zu betteln.

»Geben Sie mir eine Woche Zeit, um einen neuen Ausbildungsplatz zu finden. Bitte, Monsieur …«

»Eine Woche. Danach ist Schluss.«

Sieh an! Er hält sich auch noch für knallhart!

»Eine Woche, versprochen.«

An Corbeil stört mich vor allem, dass wir keinen Fernseher im Zimmer haben. Abends muss man spätestens um 21 Uhr zurück sein, trägt sich in eine Anwesenheitsliste ein, unter Aufsicht eines Wärters in Uniform, der ungefähr so schlau aussieht wie der Gendarm von Saint-Tropez … Am nächsten Morgen gehen die Türen schon bei Sonnenaufgang wieder auf, damit die tapferen Insassen rechtzeitig malochen gehen können. In der Zwischenzeit dreht man Däumchen. Ich mach das nicht länger mit.

Ich habe die Kleinanzeigen studiert. Eine Pizzeria-Kette suchte Ausfahrer. Ich hatte schon so viele Mofas und Vespas geklaut, dass ich sie auch steuern konnte, und ich war so oft durch die Straßen von Paris gerannt, dass ich jedes Arrondissement kannte wie meine Westentasche. Man gab mir den Job. Ein paar Tage lang habe ich die Calzones im Gepäckfach meines Mopeds verstaut, habe an den Haustüren geklingelt und mich schwarz geärgert, wenn niemand aufmachte, habe die Türcodes verwechselt, meine Quattro-Formaggis den unverschämten Typen verweigert, die nicht zahlen wollten, und den Obdachlosen um die Ecke ein paar Margheritas spendiert. Dann habe ich mir eine Bescheinigung ausstellen lassen, die ich dem Sozialpädagogen mit engelsgleichem Lächeln überreichte.

»Gratuliere, Monsieur Sellou. Machen Sie nur so weiter.«

»Mach ich. Ich will mich sogar richtig ranhalten.«

Der Pädagoge traut seinen Ohren nicht.

»Was meinen Sie damit, Monsieur Sellou?«

»Na ja … Ich will ein bisschen höher hinaus. Um nicht mein Leben lang als Ausfahrer zu arbeiten. Jetzt gehe ich dem Manager in der Filiale zur Hand.«

»Dann wünsche ich Ihnen von Herzen viel Erfolg.«

Er ahnt nicht, wie weit ich es bringen werde. Sehr weit.