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Ich hatte zu Monsieur Pozzo schon stopp gesagt, bevor ich meinen Unfall hatte. Ich war nicht mehr sein Angestellter. Ich war noch an seiner Seite, brachte ihn noch immer überallhin, wo er hinmusste, ich erfüllte jeden Tag die Aufgaben, die ich seit Jahren zu erfüllen hatte, aber ich war nicht mehr seine Lebenshilfe. Ich war einfach da in seinem Leben.

Im Oktober 1997 bat er mich zu Beginn der Herbstferien, seinen Sohn zu seiner Großmutter in die Normandie zu bringen. Der Kleine, noch immer genauso still und sympathisch, nahm hinten Platz. Auch Yacine hatte Lust auf einen Tapetenwechsel, er setzte sich neben mich. Ich klemmte mich hinters Steuer des Renault Safrane, der übrigens mein Safrane war (für ihn hatte ich den Renault 25 verkauft). Wir kamen nicht sehr weit: An der Porte Maillot, gleich nach dem Tunnelausgang Richtung La Défense blieb der Wagen stehen. Motorpanne, einfach so, ohne Vorwarnung, auf dem mittleren Fahrstreifen. Ich setzte den Warnblinker, die anderen Autofahrer hupten erst, dann kapierten sie, dass wir ihnen nicht absichtlich den Tag vermiesten, und fuhren rechts und links an uns vorbei. Ein Fahrzeug der Verkehrsüberwachung war schnell vor Ort. Zwei Männer im Sicherheitsanzug stellten um den Safrane herum Poller auf, um den Verkehr umzuleiten. Wir brauchten nur noch zu warten.

Yacine und Robert-Jean sind im Auto geblieben. Ich lehnte mich an die Tür zum Fahrersitz und hielt nach dem Bergungsfahrzeug Ausschau. Ich hatte keine Angst, ich war mir überhaupt keiner Gefahr bewusst. Gute zehn Minuten lang sah ich zu, wie die Autos im Abstand von eineinhalb Metern hinter den grellorangenen Kegeln an mir vorbeifuhren. Dann sah ich einen Sattelschlepper, der nach links auswich. Und schließlich sah ich den hinteren Teil des Lastwagens, der dem Safrane und damit mir immer näher kam. Der Fahrer scherte etwas zu früh wieder ein. Ich wurde zwischen seinem Anhänger und dem Safrane eingeklemmt. Ich hatte gerade noch Zeit zu schreien, dann lag ich auf dem Boden und verlor für einen Augenblick das Bewusstsein.

Ich erinnere mich vage, dass ich von einem Rettungswagen weggebracht wurde. Als sie mich hochhoben und auf die Trage legten, spürte ich einen so heftigen Schmerz, dass ich wieder ohnmächtig wurde. Ich erwachte im Krankenhaus von Neuilly mit der Aussicht, am nächsten Tag operiert zu werden. Philippe Pozzo di Borgo hat subito einen neuen Pfleger aufgetrieben. Ich kann mir vorstellen, wie sich der arme Kerl gefühlt haben muss, als er seinen neuen Job antrat! Sein Chef bat ihn als Erstes, ihn ins Krankenhaus zu bringen, um seinem Vorgänger Gesellschaft zu leisten. Wir schickten ihn in die Cafeteria, um eine Schokolade zu kaufen, damit wir ihn loswurden.

»Und, wie ist er so, der Neue?«

»Er ist … professionell.«

»Also nicht gerade eine Spaßkanone …«

»Dafür wirst du, Abdel, immer mehr zu einer Euphemismus-Kanone!«

»Genau … Und wer ist der Beste?«

»Der bist du, Abdel. Der bist du, wenn du auf deinen Beinen stehst!«

Er hatte recht, wer in einem Glaskrankenhaus sitzt, sollte besser keine Steine werfen. Man muss sich das mal vorstellen: Der tetraplegische Aristokrat und der kleine Araber mit kaputter Hüfte, die nebeneinander in ihren Rollstühlen sitzen und den Krankenschwestern begehrliche Blicke hinterherwerfen.

»Wie lange wird es dauern, Abdel?«

»Ein paar Wochen mindestens. Die Ärzte sind nicht sicher, dass die Operation lange vorhält.«

»Du bist bei mir immer willkommen, das weißt du doch?«

»Logisch, wo ich doch der Beste bin!«

Es ist nicht immer leicht, danke zu sagen …

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Einige Monate nach diesem Unfall nahm ich meine Arbeit, oder besser meine Geschäftsbeziehung mit Monsieur Pozzo wieder auf. Damals nämlich brachten wir Teleloc auf den Weg, anschließend die Wohnungsversteigerungen bei brennender Kerze und zu guter Letzt das Projekt in Marokko. Während all dieser Jahre musste ich mehrmals aussteigen, um mich operieren zu lassen, von den Reha-Wochen ganz zu schweigen. Ich war noch keine dreißig und fand, dass ich zu jung war, um als Schwerinvalide durchzugehen, knapp unter dem Schwerstinvaliden Monsieur Pozzo. Die Krankenversicherung schrieb mir, ich dürfe nicht arbeiten, zu gefährlich für meine Gesundheit! Die haben sie doch nicht mehr alle, dachte ich … Das zeigt vielleicht, dass ich mich zu dem Zeitpunkt schon verändert hatte. Aber zugegeben hätte ich es niemals. Ich tönte herum, wie immer, ohne zu überlegen, was ich vom Stapel ließ.

»Jetzt ist Schluss mit den Dummheiten, Abdel, jetzt wirst du das richtige Leben kennenlernen«, sagte Monsieur Pozzo.

»Stimmt, ich werde es noch mehr genießen! Jetzt wo ich ausrangiert bin, lasse ich mich fürs Nichtstun bezahlen. Das schöne Leben erwartet mich!«

Er tat, was er konnte, um etwas Grips in mein Gehirn zu pflanzen. Ich tat, was ich konnte, um ihn zu überzeugen, dass das keinen Sinn hatte. Bezahlt zu werden, um auf dem Sofa herumzulümmeln, interessierte mich nicht mehr: Ich konnte nicht stillsitzen!

Monsieur Pozzo sprach wie ein Vater zu mir, ein Ratgeber, ein Weiser, er versuchte mir Ordnung und Moral beizubringen, Werte, die mir lange Zeit fremd gewesen waren. Er machte das vorsichtig, klug, um mich nicht gegen sich aufzubringen wie die Lehrer, Polizisten und Richter früher. Er sprach wohlwollend mit mir und tat fast, als wäre das alles nicht so wichtig. Er wollte, dass ich die Gesetze respektierte. Zum Teil bestimmt auch, um die Gesellschaft vor mir zu schützen, aber vor allem, um mich vor der Gesellschaft zu schützen. Er hatte Angst, dass ich mich in Gefahr bringe, dass ich mich wieder dem Gericht und dem Gefängnis, aber auch meiner eigenen Gewalttätigkeit ausliefere. In einem Moment der Schwäche oder der Prahlerei muss mir mal herausgerutscht sein, dass ich Fleury-Mérogis von innen kenne. Ich weiß nicht, ob er mir geglaubt hat, aber er hat nicht weiter nachgefragt. Er wusste seit unserer ersten Begegnung, dass ich keine Fragen beantworte oder einfach irgendeinen Stuss erzähle, wenn es um meine Vergangenheit geht. Er wusste, dass man warten muss, bis ich von selbst komme, und dass man unter Umständen lange warten konnte. Er wusste, dass ich unberechenbar war, aber er lenkte mich in halbwegs geordnete Bahnen. Das Spielzeug, das Tier, die Puppe war ich, ich war in seinen unbeweglichen Händen die Marionette. Abdel Yamine Sellou, der erste ferngesteuerte G. I. Joe in der Geschichte.