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In meinem Viertel wurde auch gestorben, aus Einsamkeit und Verzweiflung – wie man in Städten eben stirbt. Man beging Selbstmord, meistens durch einen Fenstersturz. Das sorgte jedes Mal für Aufsehen. Wir waren Hunderte, insgesamt wohl knapp tausend, in der kleinen Cité, jeder kannte jeden. Wenn einer von uns so plötzlich den Abgang machte, war das ein richtiges Ereignis. Die Alten, die ihre Wohnung normalerweise nicht verließen, kamen ins Treppenhaus, um mit ihren Nachbarn zu sprechen. Eigentlich sagten sie nichts. Einige wollten bloß den Schein wahren, den anderen zeigen, dass ihnen der arme Monsieur Benboudaoud leidtat, der es schließlich nicht mehr ausgehalten hatte. Andere wollten mit ihrem Scharfsinn prahlen, indem sie den Grund für diesen Selbstmord erklärten, natürlich kannten sie als Einzige die Wahrheit.

»Youssef hat das Alleinsein nicht mehr ertragen, seit dem Tod seiner Frau war er so unglücklich, wann ist sie eigentlich gestorben?«

»Das ist mindestens fünf Jahre her. Aber Sie täuschen sich, er hat sich nicht wegen seiner Frau umgebracht.«

Stille, atemlose Spannung, Trommelwirbel, mit offenem Mund wartet der Nachbar auf die große Enthüllung.

»Er hat sich umgebracht, weil er seine Post gelesen hat!«

»Ach ja? Was hat er denn heute Morgen für Post gekriegt?«

»Haben Sie das nicht gesehen? Er hielt den Brief noch in der Hand, als er aufgeschlagen ist.«

Stimmt. Der alte Youssef ist zusammen mit seinem Steuerbescheid aus dem siebten Stock gesprungen. Er hat den Wisch unterwegs nicht losgelassen, das muss ihm erst mal einer nachmachen.

Ich sehe diesen anderen Typen wieder vor mir, einen Franzosen, zerstört vom Alkohol und gezeichnet von der Last seines Versagens. Er wohnte zusammen mit seiner Frau, ebenfalls eine Säuferin, im Treppenhaus nebenan. Als sie ihn für einen anderen verließ, stürzte er sich aus dem Fenster. Bloß, dass er im ersten Stock wohnte … Er brach sich sämtliche Knochen, blieb auf dem Rücken liegen, ein Arm irgendwie unter dem Nacken gequetscht, ein Bein auf Taillenhöhe, ein Ellbogen in die Rippen gebohrt. Als die Feuerwehrleute eintrafen, wussten sie nicht, wo sie diesen ausgerenkten Hampelmann anpacken sollten. Sie breiteten eine Rettungsdecke über ihm aus, eine schöne goldene Folie. Der Arme funkelte wie ein Stern, als er starb.

Noch eine Geschichte fällt mir ein, über die meine Kumpels und ich furchtbar lachen mussten, obwohl wir sie furchtbar eklig fanden: Leila, eine stark übergewichtige Frau, die gar nicht mehr aus dem Haus ging, sprang aus dem sechsten Stock. Ihr Körper explodierte auf dem Asphalt mit einem gewaltigen Platsch, wie eine überreife Tomate. Und wieder steckte eine Liebesgeschichte dahinter: Ihr Kerl hatte sich in der gemeinsamen Wohnung mit einer anderen Frau zusammengetan. Gegen Ende des darauffolgenden Sommers wurde er dann halb verwest in seinem Bett aufgefunden: Er litt an Krebs im Endstadium, während seine neue Herzensdame sich in den Urlaub verabschiedete. Danach ließ sie die Zweizimmerwohnung von Profis putzen, sie lebt immer noch dort.

Was für ein Pech, wenn ich es recht bedenke: Ausgerechnet ich, der sonst ständig unterwegs war und mich höchstens einmal alle zehn Tage bei meinen Eltern zum Essen blicken ließ, war jedes Mal dabei, wenn ein Nachbar Harakiri machte. Und jedes Mal suchte ich schleunigst das Weite. Die Polizei war nämlich immer gleich zur Stelle, um die Ermittlungen einzuleiten. Auch wenn ich nie genau wusste, weshalb sie nun schon wieder hinter mir her waren, wusste ich eins genau: dass ich ihnen lieber aus dem Weg gehen sollte.

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Sie suchten mich wegen des Mordes von Châtelet-Les Halles. Die Place Carrée war bereits mit Überwachungskameras ausgerüstet, die den ganzen Tatverlauf gefilmt hatten, bloß dass die Bildqualität zu wünschen übrigließ: Der Mörder ließ sich nicht identifizieren. Ein großer Schwarzer in Trainingsanzug und Turnschuhen, die gab’s wie Sand am Meer. Mich hatten sie jedoch wiedererkannt. Ich hatte ja oft genug mit den Bullen zu tun gehabt. Jedes Mal, wenn sie mich erwischten, hielten sie mich so lange fest, wie es das Gesetz erlaubte und versprachen mir beim Abschied, dass wir uns schon bald wiedersehen würden.

Das Wiedersehen erfolgte nach einer simplen Ausweiskontrolle, eines Morgens in einem Vorstadt-Bahnhof, wo ich gerade aufgewacht war. Ich ging praktisch nie mehr zur Schule oder nach Hause. Meine Nächte verbrachte ich in den Vorortzügen, wie die Typen von Châtelet, mit denen ich abends immer rumhing. Wir vertrieben uns die Zeit bis zum Morgengrauen, und wenn der Bahnverkehr gegen vier oder fünf Uhr früh wieder einsetzte, stiegen wir in irgendeinen Waggon und schliefen ein paar Stunden. Ab und zu blinzelte ich und sah Typen im billigen Anzug und mit Krawatte vor mir, das Aktentäschchen auf den Knien, ihnen fehlten nur die Handschellen, um sich daran zu ketten. Unsere Blicke trafen sich, und es war schwer zu sagen, wer den anderen mehr verachtete. Insgeheim dachte ich Geh schön schuften, ja, steh jeden Morgen mit den Hühnern auf, um dir deinen Hungerlohn zu verdienen. Für mich ist die Nacht noch nicht zu Ende.

Ich döste wieder ein, die Nähte der Sitze hinterließen Streifen auf meiner Wange, ich duftete sicher nicht nach Rosen, aber wo duftet es in Paris schon nach Rosen. Aus dem Lautsprecher ertönte eine Stimme:

»Saint-Rémy-lès-Chevreuse, Endstation. Bitte alle aussteigen.«

In meinem Ohr ertönte eine Stimme.

»Abdel, wach auf, verdammt, wach endlich auf! Wir müssen hier raus. Der Zug fährt jetzt ins Depot!«

»Lass mich schlafen …«

Eine andere, schärfere Stimme, deren Besitzer an meinem Arm rüttelte:

»Ausweiskontrolle. Zeig deine Papiere her!«

Ich setzte mich schließlich auf, gähnte herzhaft und wollte gerade einen Blick auf meine Uhr werfen, als mir dämmerte, dass das keine gute Idee war. Der Hungerleider in Uniform hätte bestimmt erraten, dass ich sie nicht zur Kommunion geschenkt bekommen hatte.

»Zum Kaffee hätte ich gern noch ein kleines Croissant …«

»Schön, dass du schon beim Aufwachen Humor beweist!«

Entspannt reichte ich ihm meine Papiere, die natürlich in Ordnung waren. Als gebürtiger Algerier besaß ich eine Aufenthaltsgenehmigung, die erst vor kurzem verlängert worden war. Außerdem lief bereits mein Einbürgerungsverfahren: In den achtziger Jahren konnte jeder, der länger als zehn Jahre in Frankreich lebte, den blau-weiß-roten Pass bekommen. Da hab ich nicht lange gefackelt. Im Gegensatz zu meinem Bruder, diesem Idioten, der nicht aufgepasst hatte und 1986 nach Algerien zurückgeschickt worden war. Belkacem und Amina verloren einen Sohn, vermutlich denjenigen, den sie lieber behalten hätten. Den anderen würden sie bald auf der Wache abholen müssen.

»Sellou, die Kripo will dich befragen, wir nehmen dich mit.«

»Kripo? Was ist das?«

»Tu nicht so. Kriminalpolizei, das weißt du ganz genau.«

Ich wusste sofort, dass es sich um den Mord vom Châtelet handelte. Der einzige Vorfall, der schwer genug war, um mir eine Audienz auf der Île de la Cité zu bescheren. Ich wusste aber auch, dass man mir nichts anhaben konnte: Ich war bloß Zeuge gewesen und konnte den Mörder noch nicht mal identifizieren. Ausnahmsweise würde ich nicht lügen müssen. Tricksen war nicht nötig: Mir wurde nichts vorgeworfen, ich konnte die Wahrheit sagen, nichts als die Wahrheit. Es hatte eine Rangelei gegeben, eine Messerstecherei, der Typ war zu Boden gegangen, Ende.

Und Anfang meiner Gerichtslaufbahn.