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So fahre ich also den Pozzo im Jaguar ins Krankenhaus, wo sich seine Frau Béatrice einer Knochenmarktransplantation unterzogen hat. Die Operation ist ihre letzte Chance: Die Ärzte gaben ihr nur noch vier bis sechs Monate zu leben. Operation und Narkose sind gut verlaufen, aber es ist noch nicht ausgestanden. Sie hat keine Abwehrkräfte. Sie muss auf einer Isolierstation bleiben, hinter einem sterilen Zelt.
Wochenlang trage ich den Pozzo jeden Morgen in den Jaguar und bringe ihn zu ihr. Zu ihr … soweit das möglich ist mit dieser Kunststoffwand. Eine Haube auf dem Kopf, Plastikfüßlinge über die edlen Westons gezogen, rollt er bis an die Grenze, die nicht überschritten werden darf. Stundenlang betrachtet er seine Frau, die in ihrem Bett liegt und manchmal ein wenig phantasiert. Am Abend verlassen wir sie in der Angst, sie am nächsten Morgen nicht mehr lebend anzutreffen. Und tatsächlich fällen die Ärzte ihr Urteil.
Madame Pozzo wird sterben.
Auf der Rückfahrt schweige ich.
Keine Hilfspflegerinnen mehr. Keine Krankenschwestern. Von da an war ich das letzte Gesicht, das Philippe Pozzo di Borgo abends sah, und mein Blick war der erste, dem er morgens begegnete. Seit ich ihn trug, brauchten wir fast niemand anderen mehr. Jetzt, wo seine Frau tot war, schlief er allein. Er hatte ihr beim Sterben zugesehen, ungläubig, voller Wut. Er hat sie immer nur als Kranke gekannt und sie trotz der Krankheit, trotz des beschwerlichen Alltags geliebt, schon damals, als es ihm noch gutging, als er jedes Wochenende auf dem Land joggte, als er über den Bergen schwebte. Dann, am 23. Juni 1993, kam dieser fatale Gleitschirmunfall, und zwei Jahre lang besserte sich ihre Krankheit. Alle dachten an eine Heilung, die Medikamente täten endlich ihre Wirkung, sie werde noch lange leben, warum auch nicht? Sie hatte die Kraft gefunden, das Leben der gesamten Familie neu zu regeln und auf die Behinderung ihres Mannes einzustellen. Sie verließen ihr Haus in der Champagne und zogen nach Paris in die Nähe der Krankenhäuser. Sie hatten sich ein bequemes Umfeld geschaffen – was mit Geld natürlich leichter ist –, und die Kinder schienen mit ihrer neuen Existenz in der Hauptstadt einigermaßen zurechtzukommen, mit einem Vater im Rollstuhl und einer kranken Mutter … Und als alles arrangiert war, als sie fast ein normales Leben hätten führen können, erlitt Béatrice Pozzo einen Rückfall.
Ich lebte seit ungefähr einem Jahr bei ihnen, als es passierte. Madame Pozzo war nicht zu Rate gezogen worden bei der Wahl des Intensivpflegers, die keine war. Sie hatte auch kein Veto eingelegt, als sie diesen jungen, schlecht erzogenen und unberechenbaren Araber bei sich aufkreuzen sah. Sie sah ihn sich unvoreingenommen an und akzeptierte ihn auf der Stelle. Sie lachte über meine Späße, ohne sich daran zu beteiligen, mit einer gewissen Distanz, aber immer wohlwollend. Ich weiß, dass sie manchmal ein bisschen Angst hatte, wenn ich mir ohne Vorwarnung ihren Mann schnappte und ihn entführte, ohne zu sagen, wohin es ging. Ich weiß, dass sie über den Kauf einer Luxuskarosse nicht begeistert war. Ihre protestantische Seite: Sie mochte den demonstrativ zur Schau getragenen Reichtum nicht. Sie war eine bescheidene Frau, ich respektierte sie. Ich verurteilte sie nicht dafür, dass sie eine Bourgeoise war, und das zum ersten Mal in meinem Leben.
Was wir ein ganzes Jahr lang gemacht haben, der Pozzo und ich? Bekanntschaft geschlossen. Er hat versucht, sich nach meinen Eltern zu erkundigen, ich glaube sogar, er wollte sie kennenlernen. Ich wich aus.
»Weißt du, Abdel, es ist wichtig, mit seiner Familie im Frieden zu sein. Kennst du Algerien, dein Heimatland?«
»Mein Land ist hier, und ich bin im Frieden mit mir selbst.«
»Da bin ich mir nicht so sicher, Abdel.«
»Schon gut.«
»Schon gut, Abdel. Reden wir nicht mehr darüber …«
Der Viehtransporter war nicht das Richtige für Rodeos auf der Ringautobahn, da eignete sich der Jaguar besser. Ich war es, der aufs Gaspedal drückte, aber die Grenzen haben wir gemeinsam überschritten. Ein Wort hätte genügt, und ich wäre auf die Bremse getreten. Der Pozzo hatte seine Frau sterben sehen, hatte keinen Schmerz gezeigt, er sah, wie sich der Film seines Lebens ohne ihn abspielte, er war Zuschauer. Ich drückte auf die Tube. Er drehte leicht den Kopf zu mir, der Motor röhrte, ich lachte laut auf, so laut ich konnte, und er drehte den Kopf auf die andere Seite. Er ließ es geschehen. Wir düsten gemeinsam los. Wir gehörten nun mal zusammen, in guten wie in schlechten Zeiten.
Ein Jahr, das war genug, um uns klarzumachen, dass ich bleiben würde, ohne dass es ausgesprochen wurde. Hätte ich gehen müssen, wäre es früher geschehen. Und ich hätte nicht ein paar Wochen vor der Transplantation die Reise nach Martinique zugesagt.
»Das werden für Béatrice die letzten Ferien sein für lange Zeit, gehen wir alle drei!«, sagte der Pozzo zu mir, um mich zu überzeugen.
Ich war noch nie über Marseille hinausgekommen, es brauchte keine großen Überzeugungskünste. Es wurden ihre letzten Ferien überhaupt … Wir kannten die Gefahren der Knochenmarktransplantation für Béatrice. Und dann war es ihr Mann, der auf Martinique krank wurde. Lungenverschleimung. Um die Sache einfach zu erklären: In den Bronchien hatten sich Sekrete angesammelt, das Atmen fiel ihm entsetzlich schwer. Er wurde auf die Intensivstation gebracht und blieb dort bis zum Ende der Ferien. Ich aß gemeinsam mit Béatrice am Strand. Wir sprachen nicht viel, das war nicht nötig, und es gab auch keine Verlegenheit zwischen uns. Ich war nicht der Mann, den sie liebte. Ich war nicht der Mann, den sie gerne vor sich gehabt hätte, mit zwei beweglichen Armen, von denen der eine seine Gabel zum Mund führen würde und der andere bereit wäre, über den Tisch zu greifen und ihre Hand zu streicheln. Dieser Mann existierte sowieso nicht mehr, sie musste auf ihn verzichten seit dem Gleitschirmunfall, warum sollte sie sich also nicht mit diesem etwas schwerfälligen, schlecht erzogenen, wenn auch nicht gerade gefährlichen jungen Typen zufriedengeben.
Mir gefällt die Vorstellung, dass sie mir zutraute, mich sogar in den bevorstehenden schweren Zeiten gut um ihren Mann zu kümmern. Mir gefällt die Vorstellung, dass sie mir vertraute. Aber vielleicht ging ihr gar nichts von alldem durch den Kopf. Vielleicht ließ auch sie es einfach geschehen. Wenn man nichts mehr im Griff hat, ist das wahrscheinlich das Einzige, was man tun kann, oder? Loslassen, wenn man mit zweihundert über die Straßen am Ufer der Seine braust oder wenn man an einem paradiesischen Ort vor dem türkisblauen Meer bequem auf seinem Stuhl in der Sonne sitzt.
Ich dachte, er werde den Tod seiner Frau nicht überleben. Wochenlang wollte er sein Bett nicht mehr verlassen. Seine Familienangehörigen besuchten ihn, er schenkte ihnen kaum einen Blick. Céline kümmerte sich um die Kinder, fürsorglich und pragmatisch zugleich, sie hielt sie auf Distanz, dachte, sie hätten schon genug an ihrem eigenen Kummer. Und ich kreiste wie ein Satellit ununterbrochen um den Pozzo herum. Aber er ließ sich nicht mehr von mir ablenken. Würdig selbst in der Depression, legte er nur noch Wert darauf, einigermaßen vorzeigbar zu den medizinischen Terminen zu erscheinen. Ein paar Monate hatten wir auf die Hilfspfleger und Krankenschwestern verzichtet, weil er willensstark war, weil es ihm eine diebische Freude bereitete, zu zeigen, dass er einzig mit den Armen und Beinen von Abdel wunderbar zurechtkam. Wir mussten wieder nach ihnen rufen, und sie sind sofort gekommen, kompetent und ergeben. Monsieur Pozzo ertrug es schlecht, dass sich so viele Leute um seinen dreiviertel toten Körper sorgten, während man nichts für den seiner Frau hatte tun können.
Zum Glück war ich jung und ungeduldig. Zum Glück habe ich rein gar nichts verstanden. Ich sagte stopp.