39

Ich sage über mich, was ich will und wann ich es will. Wenn ich es will. Hinter einer Wahrheit kann sich eine Lüge verbergen. Eine andere Wahrheit wird so aufgemotzt, dass sie als Lüge erscheint, die Lügen kommen so übertrieben daher, dass man sich schließlich fragt, ob nicht doch ein Fünkchen Wahrheit dahintersteckt … Mal sag ich die Wahrheit, mal lüge ich, so blickt keiner durch. Aber es kommt vor, dass ich mich überlisten lasse. Die Journalisten, die mich für Mireille Dumas’ Dokumentarfilm interviewten, haben nicht auf jede Frage eine Antwort bekommen, aber ihnen ist es gelungen, mich mit meinen eigenen Waffen zu schlagen. Sie haben mein Schweigen gefilmt. Haben mein Gesicht ganz nah herangezoomt. Haben einen Blick aufgefangen, der auf Monsieur Pozzo ruht. Und diese Bilder sprechen für sich. Sie sagen viel mehr, als ich mit Worten zugegeben hätte.

Als ich mich auf dieses Buch einließ, dachte ich ganz naiv, ich könnte so weitermachen wie bisher: keine Kameras diesmal, keine Mikrophone. Ich sage, was ich will, und wenn es mir gefällt, dann halte ich den Mund! Ich war mir, bevor ich loslegte, überhaupt nicht bewusst, dass ich bereit zu sprechen war. Bereit war, den anderen, in diesem Fall den Lesern, zu erklären, was ich mir selber noch nie erklärt hatte. Ganz richtig, ich sagte erklären, ich sagte nicht »rechtfertigen«. Ich mag selbstgefällig sein, das dürfte sich inzwischen herumgesprochen haben, aber ich bin kein Mitleidstyp. Mich packt das Grauen, wenn ich sehe, wie die Franzosen alles analysieren und jedes Verhalten mit einer anderen Kultur, einer mangelhaften Erziehung oder einer unglücklichen Kindheit entschuldigen, auch das Unentschuldbare. Meine Kindheit war nicht unglücklich, im Gegenteil! Ich bin aufgewachsen wie ein Löwe in der Savanne. Ich war der König. Stark, intelligent, verführerisch, der Beste. Wenn ich die Gazelle unbehelligt an der Quelle trinken ließ, dann hatte ich keinen Hunger. Aber wenn ich Hunger hatte, fiel ich über sie her. Als Kind warf man mir meine Gewalttätigkeit genauso wenig vor, wie man einem Löwenjungen den Jagdinstinkt vorwirft. Und das soll eine unglückliche Kindheit gewesen sein?

Es war einfach eine Kindheit, die nicht darauf vorbereitete, erwachsen zu werden. Ich war mir darüber nicht im Klaren und meine Eltern sich genauso wenig. Das kann man keinem vorwerfen.

Ich habe mit Monsieur Pozzo nie über meine Vergangenheit gesprochen. Er versuchte mich, ganz vorsichtig, zum Sprechen zu bringen. Ich fing sofort an, Witze zu reißen, und er verstand, dass ich keinen Einblick in mein Inneres geben wollte, nicht ihm, nicht mir selbst, und drängte nicht weiter. Aber manchmal schubste er mich vorsichtig an.

»Geh doch mal deine Familie besuchen.«

»Geh auf die Menschen zu, die dich ernährt haben.«

»Warum fährst du nicht mal in deine Heimat?«

Und als Letztes:

»Diesen Vorschlag, ein Buch zu schreiben, nimm ihn an. Es ist die Gelegenheit, dir über einiges klarzuwerden. Es ist interessant, du wirst sehen!«

Er wusste, wovon er sprach. Vor seinem Unfall hatte er ständig auf der Überholspur gelebt, ohne jemals zurückzublicken. Als er dann von einem Tag auf den anderen gestoppt wurde und sich achtzehn Monate lang in einem Reha-Zentrum behandeln lassen musste, umgeben von lauter genauso unglücklichen – und manchmal noch jüngeren – Frauen und Männern, da hat er Bilanz gezogen. Er hat entdeckt, wer er war, wer er in seinem Innersten war, und hat gelernt, die Augen für den Anderen – mit großem A, wie er sagt – zu öffnen, wofür er davor nie die Zeit gehabt hatte.

Philippe Pozzo erkannte, dass mein Schweigen und meine Blödeleien bedeuteten, dass ich mich weigerte, den Fuß vom Gaspedal zu nehmen. Doch er hörte nicht auf, mich zu ermutigen.

Erst als Dinge passierten, die ich nicht mehr unter Kontrolle hatte, fing ich an, auf seinen Rat zu hören.

Und für den Anfang bin ich in das Land meiner Geburt zurückgekehrt und habe meine Familie besucht.