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Madame Pozzo di Borgo heißt mit Vornamen Béatrice. Ich fand sie auf Anhieb sympathisch, offen, einfach, kein bisschen spröde. Ich nenn sie Madame. Das steht ihr gut, Madame.

Madame wird bald sterben.

Zu ihm sag ich Monsieur Pozzo. In meinem Kopf sag ich nur »der Pozzo« oder »Pozzo«. Er hat es mir heute Morgen anvertraut: Seine Frau ist krank. Eine Art Krebs. Als er vor zwei Jahren den Unfall mit dem Gleitschirm hatte, der schuld an seinem jetzigen Zustand ist, sagte man ihm, dass sich seine Lebenserwartung auf sieben, acht Jahre beschränkt. Aber Tetrapaks sind ziemlich robust: Gut möglich, dass er uns alle überlebt.

In diesem Haus gibt es nicht die Familie auf der einen und das Personal auf der anderen Seite. Alle nehmen die Mahlzeiten gemeinsam ein. Man isst von fast normalen Tellern, ich nehme mal an, sie stammen nicht unbedingt vom Supermarkt um die Ecke, aber sie sind absolut in Ordnung, gehen sogar in die Spülmaschine. Céline, das Kindermädchen, übernimmt die Küche. Ausgezeichnet übrigens. Viel mehr verlangen die Gören nicht von ihr. Laetitia, die älteste, ist ein typisch versnobter Teenager. Sie ignoriert mich komplett, und ich versuche es ihr gleichzutun. Robert-Jean, zwölf, ist ein Muster an Verschwiegenheit. Ich weiß nicht, wer von ihnen mehr unter der Situation leidet. Für mich haben so reiche Gören keinen Grund zu leiden. Das Mädchen, diese Zicke, würde ich am liebsten durchschütteln, wann immer sie mir über den Weg läuft. Und ihr das wahre Leben zeigen, damit sie mal zwei Sekunden aufhört zu flennen, wenn es die Handtasche, die sie sich vor Wochen ausgeguckt hat, nicht mehr in Karamellbraun gibt. Für den Anfang würde ich mit ihr einen kleinen Ausflug nach Beaugrenelle unternehmen und dann weiter zu den Besetzern der leerstehenden Lagerräume, wo Junkies auf Entzug zusammen mit Familien, Gören und Babys hausen. Natürlich ohne Wasser, Heizung und Strom. Schmuddelige Matratzen direkt auf dem Boden. Ich tunke mit einem Stück Baguette meine Sauce auf. Laetitia stochert in ihrem Essen herum, lässt die halbe Rinderroulade übrig. Béatrice ermahnt sanft ihren Sohn, weil er die Zwiebelscheiben aussortiert hat. Er spielt mit ihnen, häuft sie mit der Gabelspitze am Rand seines Tellers auf. Bald wird Béatrice nicht mehr die Kraft haben, mit uns am Tisch zu sitzen. Sie wird in ihrem Bett bleiben, hier in der Wohnung oder in einer Klinik.

Nicht zu fassen eigentlich … Was diese Aristokraten nur für Unglück anhäufen. Ich schau mich um. Die Gemälde, die Intarsienmöbel, die Empire-Kommoden mit Griffen aus Feingold, der hektargroße Garten inmitten von Paris, das Apartment … Wozu das alles, wenn man nicht mehr lebendig ist? Und warum geht mir das nahe?

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Der Pozzo leidet. Der Pozzo nimmt Schmerztabletten. Der Pozzo leidet kaum weniger. Als es ihm etwas besser geht, fahre ich mit ihm nach Beaugrenelle. Wir steigen nicht aus. Ich lasse seine Scheibe herunter, die Hand eines Kumpels schmeißt meinem Fahrgast ein kleines Päckchen auf den Schoß, wir brausen davon.

»Was ist das, Abdel?«

»Etwas, das hilft, damit es einem bessergeht. Das gibt’s nicht in der Apotheke.«

»Aber Abdel, lass das nicht hier herumliegen! Versteck das!«

»Ich fahre, ich lass doch das Lenkrad nicht los …«

Nachts schläft der Pozzo nicht immer. Er hält seinen Atem an, weil es ihm weh tut zu atmen, dann zieht er ganz schnell ganz viel Luft ein, und es ist noch schlimmer. Es gibt nicht genug Sauerstoff im Zimmer, im Garten auch nicht, in der Flasche auch nicht. Manchmal weckt er mich: Dann muss ich ihn auf der Stelle ins Krankenhaus bringen. Auf einen Krankenwagen zu warten, der für den Transport eines Tetraplegikers geeignet ist, würde zu lange dauern. Ich aber bin bereit.

Der Pozzo leidet vor allem, wenn er sieht, wie schlecht es seiner Frau geht und wie machtlos er gegen ihre Krankheit ist. Genauso wie gegen seine eigene Behinderung. Ich erzähle Witze, ich singe, ich tische ihm Heldentaten auf, die nur in meiner Phantasie stattgefunden haben. Er trägt Stützstrümpfe. Ich streife mir einen über den Kopf und inszeniere einen Überfall.

»Hände hoch … Hände hoch, habe ich gesagt! Sie auch!«

»Ich kann nicht.«

»Ach so? Sind Sie sicher?«

»Ganz sicher.«

»Pech gehabt … Na, ich will das Wertvollste, was es in dieser verdammten Bruchbude gibt. Kein Silberzeug, keine Gemälde; nein! Ich will … Ihr Hirn!«

Ich stürze mich auf Pozzo und tu so, als würde ich ihm den Schädel aufschneiden. Das kitzelt. Er bittet mich aufzuhören.

Ich schlüpfe in eine seiner für mich zu großen Smoking-Jacken, schlage mit der Faust in seinen Stetson, um aus dem Cowboyhut eine Melone zu machen, pfeife eine Ragtime-Melodie, marschiere um sein Bett und vollführe dabei immer schnellere Schraubbewegungen, wie Charlie Chaplin in Moderne Zeiten. Und warum das alles? Diese Leute sind mir egal. Ich kenne sie gar nicht.

Aber andererseits, warum auch nicht? Was ändert es, ob ich hier den Clown mache oder draußen in der Cité? Fast alle meine Kumpels führen mittlerweile wie Brahim ein anständiges Leben. Da ist niemand, mit dem ich abhängen könnte. Hier ist es warm, die Umgebung angenehm und es ist Potential vorhanden, Spaßpotential.

Der Pozzo fühlt sich gar nicht gut in seinem Körper. Ich bin so taktvoll – was ist denn auf einmal mit mir los? –, ihn nicht zu fragen, warum. Der andere Probekandidat schwänzelt um den Rollstuhl herum und ergeht sich in Gebeten. Er hat ständig eine Bibel in der Hand, hebt die Augen zum Himmel, ohne daran zu denken, dass die Zimmerdecke dazwischen ist, reiht Wörter mit »us« aneinander wie in den Asterix-Heften und psalmodiert selbst, wenn er um eine Tasse Kaffee bittet. Ich schieße mit einem Song von Madonna hinter seinem Rücken hervor.

»Like a vördschin, hey! Like a vö–ö–öhör-dschin …«

Fehlt nur noch, dass der barmherzige Bruder Jean-Marie von der Auferstehung der Heiligen Dreifaltigkeit Unserer lieben Frau der unbefleckten Empfängnis die Finger kreuzt, um sich vor dem Abgesandten des Teufels zu schützen, der ich bin. Laurence, die Sekretärin – wir nennen uns inzwischen bei unseren Vornamen, alle duzen mich, ich bin nicht prüde –, prustet verschämt los. Okay, vielleicht ist sie doch nicht so verklemmt …

Sie weiht mich sogar heimlich ins Mysterium ein.

»Er ist ausgetreten.«

Ich lache laut auf.

»Wie meinst du das, er musste mal austreten?«

»Na, aus dem Orden … Er war Priester, aber er hat beschlossen, wieder ins Zivilleben zurückzukehren, wenn du so willst.«

»Tja, sag mal, dein Boss wird aber nicht viel zu lachen haben mit so ’ner Type um sich herum …«

»Woher willst du wissen, dass er ihn behält?«

Tatsächlich ist der Seelenhirte nach acht Tagen von der Bildfläche verschwunden. Er soll den Pozzo vor dem muslimischen Teufel gewarnt haben, den er unvorsichtigerweise ins Haus gelassen hat. Ich, ein Moslem? Ich habe in meinem ganzen Leben noch nie einen Fuß in die Moschee gesetzt! Und ein Teufel, na ja … Ein bisschen vielleicht noch, aber mal ehrlich: doch immer weniger, nicht?