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Die Weichen waren gestellt. Ich konnte mich nicht mehr ändern. Schon mit zwölf Jahren war klar, dass ich nicht der anständige Mitbürger werden würde, den die Gesellschaft gern gehabt hätte. Die anderen Jungs aus der Cité waren alle auf der gleichen Schiene unterwegs und würden nicht mehr von ihrem Weg abkehren. Man hätte uns die Freiheit und unseren gesamten Besitz nehmen müssen, uns voneinander trennen … Und selbst das hätte wohl nicht gereicht. Da wäre schon eine komplette Neuformatierung nötig gewesen, wie bei einer Computerfestplatte. Aber wir sind keine Maschinen, und niemand wagte es, uns mit unseren eigenen Waffen zu schlagen, der nackten Gewalt nämlich, die keine Grenzen und Gesetze kennt.

Wir haben sehr früh begriffen, wie der Hase läuft. Ob Paris, Villiers-le-Bel oder am Arsch der hinterletzten Provinz: Überall, wo wir lebten, standen wir, die Wilden, dem zivilisierten französischen Volk gegenüber. Wir mussten nicht mal um unsere Privilegien kämpfen, weil wir vor dem Gesetz als Kinder galten, egal, was wir anstellten. Hier wird ein Kind nie zu Verantwortung gezogen. Man findet für sein Verhalten lauter Entschuldigungen. Zu sehr oder nicht genug behütet, zu verwöhnt, zu arm … In meinem Fall sprachen sie von dem »Trauma der Vernachlässigung«.

Kaum dass ich in die sechste Klasse der Guillaume-Apollinaire-Schule im XV. Arrondissement komme, werde ich das erste Mal zum Psychologen geschickt. Zum Schulpsychologen, klar. Aufgeschreckt von meiner Akte, die bereits etliche Verweise und andere wenig schmeichelhafte Beurteilungen von meinen Lehrern enthält, hat er den Wunsch geäußert, mich kennenzulernen.

»Du lebst also nicht bei deinen echten Eltern, Abdel, richtig?«

»Ich lebe bei meinem Onkel und meiner Tante. Aber jetzt sind sie meine Eltern.«

»Das sind sie, seit deine wahren Eltern dich im Stich gelassen haben, richtig?«

»Sie haben mich nicht im Stich gelassen.«

»Abdel, wenn Eltern sich nicht mehr um ihr Kind kümmern, dann lassen sie es doch im Stich, richtig?«

Sein »richtig« kann mir gestohlen bleiben.

»Nein, sie haben mich nicht im Stich gelassen. Sie haben mich bloß anderen Eltern übergeben.«

»Du wurdest von ihnen verlassen. So nennt man das.«

»Nicht bei uns. Bei uns macht man das so.«

Konfrontiert mit so viel Verstocktheit, seufzt der Psychologe. Ich lenke ein bisschen ein, damit er mich in Ruhe lässt.

»Herr Psychologe, um mich brauchen Sie sich nicht zu sorgen. Mir geht’s gut, ich bin nicht traumatisiert.«

»Doch, Abdel, natürlich bist du traumatisiert!«

»Wenn Sie das sagen …«

Tatsächlich waren wir Kinder der Vorstadt uns nicht im Geringsten unserer Lage bewusst. Niemand hatte wirklich versucht, uns von der schiefen Bahn abzubringen. Die Eltern sagten nichts, weil ihnen die Worte fehlten und sie uns sowieso nicht zügeln konnten, selbst wenn sie unsere Einstellung nicht billigten. Die meisten Maghrebiner und Afrikaner lassen Kinder ihre eigenen Erfahrungen machen, so gefährlich sie auch sein mögen. So ist das nun mal.

Anstand war für uns nur ein Begriff, dessen Bedeutung uns fremd blieb.

»Mit dir nimmt es noch ein schlimmes Ende, mein Junge!«, sagten die Klassenlehrerin, der Geschäftsführer und der Polizeibeamte, die uns zum dritten Mal in zwei Wochen auf frischer Tat ertappten.

Was dachten die sich eigentlich? Dass wir erschrocken aufjaulen würden, O Gott, da habe ich wohl eine Dummheit begangen, wie konnte das nur passieren, damit setze ich ja meine ganze Zukunft aufs Spiel! Von der Zukunft hatten wir überhaupt keine Vorstellung, sie war für uns kein Thema, wir verschwendeten keinen Gedanken daran, weder auf die Schläge, die wir austeilten, noch auf die, die wir noch einstecken würden. Uns war das alles egal.

»Abdel Yamine, Abdel Ghany, kommt mal her. Ihr habt einen Brief aus Algerien bekommen.«

Wir machten uns nicht mal die Mühe, Amina zu antworten, wie schnuppe uns das war. Der Brief blieb so lange auf dem Heizkörper im Flur liegen, bis Belkacem ihn fand und öffnete. Nach der Lektüre fasste er ihn kurz und stockend für uns zusammen.

»Er ist von eurer Mutter, sie fragt, ob es in der Schule klappt, ob ihr Freunde habt.«

Ich prustete vor Lachen.

»Ob ich Freunde habe? Was glaubst du denn, Papa?«

In die Schule zu gehen war Pflicht, und manchmal hielten wir uns daran. Kamen zu spät, schwatzten laut im Unterricht, bedienten uns ungeniert aus Jackentaschen, Federmäppchen und Schulranzen. Wir vermöbelten unsere Mitschüler, einfach so, zum Spaß. Alles war für einen Lacher gut. Die Angst im Gesicht der anderen stachelte uns an wie der Anblick einer flüchtenden Gazelle den Löwen. Eine leichte Beute hätte uns gelangweilt. Es machte uns viel mehr Spaß, unser Opfer eine Zeitlang im Ungewissen zu lassen, ihm aufzulauern, es zu bedrohen, um Gnade winseln zu lassen und in Sicherheit zu wiegen, bevor wir endlich zuschlugen … Wir hatten keine Seele.

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Ich habe einen Hamster geerbt. Eine Siebtklässlerin aus meiner neuen Schule hat ihn mir vermacht (aber nur, weil ihn sonst keiner haben wollte). Die Ärmste, da hat sie ihr ganzes Taschengeld für einen Spielkameraden ausgegeben, und dann traut sie sich nicht, ihn mit nach Hause zu nehmen …

»Ich hätte ihn nicht kaufen dürfen, mein Vater hat mir immer gesagt, dass er keine Haustiere erlaubt …«

»Keine Sorge, ich finde schon ein Plätzchen für ihn.«

Echt ulkig, diese kleine Ratte: knabbert am Butterkeks, ohne eine Miene zu verziehen, trinkt, schläft und pisst. Mein Matheheft ist schon ganz durchnässt. Tagelang trage ich das kleine Ding in meinem Rucksack herum. Im Unterricht verhält es sich stiller als ich, und wenn es mal einen Mucks tut, stimmen meine Komplizen zur Tarnung mit ein. Sie können mindestens genauso gut quieken. Die Lehrerin staunt.

»Yacine, hast du dir etwa die Hand im Reißverschluss deines Mäppchens eingeklemmt?«

»Nein, Madame, in meinem Reißverschluss klemmt was anderes, das tut weh!«

Brüllendes Gelächter in der Klasse. Sogar die Spießerkinder aus dem XV. Arrondissement stimmen ein. Sie wissen alle über die merkwürdigen Geräusche aus meinem Rucksack Bescheid, aber keiner petzt. Vanessa, ja, die schon wieder, hat ein großes Herz und sorgt sich um den Hamster. In der Pause spricht sie mich an.

»Gib ihn mir, Abdel. Ich werde mich gut um ihn kümmern.«

»Na hör mal, meine Süße, so ein Tierchen ist doch nicht umsonst.«

Da mein erster Erpressungsversuch gescheitert ist, hoffe ich jetzt auf Revanche.

»Dann eben nicht. Kannst deinen Hamster behalten.«

Zu blöd, die dumme Kuh lässt sich nicht darauf ein! Da kommt mir eine teuflische Idee: Ich biete ihr das Tier in Einzelteilen an.

»Warte, Vanessa. Heute Abend hack ich ihm auf dem Betonplatz eine Pfote ab, mal sehen, wie er dann läuft. Willst du gucken kommen?«

Ihre blauen Glupschmurmeln rollen in den Höhlen wie meine Unterhosen in der Waschmaschine.

»Hast du sie nicht alle? Das meinst du doch nicht ernst?«

»Er gehört mir. Das geht nur mich was an.«

»Okay. Ich kaufe ihn dir für zehn Francs ab. Morgen bringe ich sie dir mit. Aber du tust ihm nichts, klar?«

»Alles klar …«

Am nächsten Tag hält mir Vanessa die kleine runde Münze hin.

»Du kriegst sie, Abdel, aber erst will ich den Hamster sehen.«

Ich öffne den Rucksack einen Spaltbreit, sie reicht mir das Geld.

»Gib ihn mir.«

»Nicht so schnell, Vanessa! Die zehn Francs reichen nur für eine Pfote. Alles andere kostet zehn Francs extra!«

Noch am selben Abend steht sie mit dem Geld vor meiner Haustür.

»Und jetzt gibst du mir endlich den Hamster!«

»He, Herzchen, mein Hamster hat schließlich vier Pfoten … Die beiden letzten überlasse ich dir für fünfzehn, ein echtes Schnäppchen …«

»Du bist so ein Arschloch, Abdel! Wenn du mir den Hamster jetzt gibst, bezahle ich dich am Donnerstag in der Schule.«

»Und woher soll ich wissen, dass du mich nicht reinlegst, Vanessa …?«

Vor Zorn ist sie puterrot. Ich auch, aber vor Lachen. Ich gebe ihr die stinkende Fellkugel und blicke ihr hinterher, als sie sich verzieht. Dem Hamster hätte ich niemals ein Haar gekrümmt. Ein paar Wochen später ist er in Vanessas Fünf-Sterne-Käfig gestorben. Sie konnte sich nicht mal anständig um ihn kümmern.

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Ich werde auf ein technisches Gymnasium im XII. Arrondissement versetzt, Chennevière-Malézieux heißt es und meine Fachrichtung »Allgemeine Mechanik«. Am ersten Tag hält uns der stellvertretende Schuldirektor eine Lektion in Geschichte und gleichzeitig eine nette kleine Moralpredigt.

»André Chennevière und Louis Malézieux waren beide tapfere Verteidiger Frankreichs zur Zeit der deutschen Besatzung im Zweiten Weltkrieg. Aber Sie haben das Glück, in einem friedlichen und blühenden Land zu leben. Das Einzige, wofür Sie kämpfen müssen, ist Ihre Zukunft. Ich möchte Sie dazu ermuntern, Ihre Ausbildung so beherzt anzugehen, wie die Herren Chennevière und Malézieux einst ihre Pflicht erfüllt haben.«

Gebongt. Ich werde diesen beiden Typen nacheifern und Widerstand leisten. Es war nie meine Absicht, mir die Hände schmutzig zu machen. Ich bin vierzehn Jahre alt, verfolge keine Ziele, will einfach nur frei sein. Noch zwei Jahre, dann müssen sie mich ziehen lassen. Schulpflicht besteht in Frankreich nur bis zum sechzehnten Lebensjahr. Außerdem weiß ich, dass sie die Zügel bestimmt schon vorher lockern werden.

Zum Glück. Ich hab nichts mit der Herde gemein, mit der ich hier grasen soll. Wie ging doch gleich die Geschichte, die unsere Französischlehrerin uns letztes Jahr erzählt hat? Die Schafe des Panurg, genau! Der Kerl wirft ein Schaf ins Meer, und der Rest der Herde springt hinterher. In dieser bescheuerten Penne erinnern alle Schüler an Schafe. Was für ein Anblick: stumpfe Augen, ein winziger Wortschatz, höchstens ein Gedanke pro Jahr. Sie sind ein-, zweimal sitzengeblieben, manche dreimal. Dann haben sie so getan, als wollten sie sich anstrengen, als strebten sie Abi, Uni und den restlichen Blödsinn an. Dabei lassen sie sich nur von niederen Instinkten leiten: fressen, ein Hoch auf die Mensa, und vor allem ficken – sie kennen überhaupt kein anderes Wort, sprechen den ganzen Tag nur davon.

In dieser debilen Klasse sind auch drei Mädchen gelandet. Die Ärmsten. Eins wird mindestens daran glauben müssen, und zwar mehrmals, das heißt mit mehreren Schwachmaten … Ich mag ja viele Fehler haben, aber diese Art von Gewalt wende ich nicht an. Nein danke, da mach ich nicht mit. Mich zieht’s woandershin, zu anderen Untaten.