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Als Mireille Dumas Philippe Pozzo di Borgo vorgeschlagen hat, eine Reportage über ihn und damit auch über unsere Beziehung zu drehen, hat sie zuerst ihn angesprochen. Sie hat ihn angesprochen, wie man es bei einem Paten nun mal tut, mit Achtung und Respekt. Es war im Jahr 2002, er hatte gerade sein erstes Buch veröffentlicht. Seine Geschichte, und damit auch unsere gemeinsame Geschichte, gehörte ihm. Den jungen Abdel hat sie erst mal nicht direkt gefragt, er kommt in seinem Buch auch nicht besonders gut weg. Zum Glück, denn ich beantworte keine Anrufe, wenn ich die Nummer auf dem Display nicht kenne, ich rufe nicht zurück, wenn ich die Stimme auf dem Anrufbeantworter unsympathisch finde, und ich kann wunderbar die E-Mails ignorieren, die meinen elektronischen Briefkasten verstopfen.

Dann hat mich Monsieur Pozzo persönlich gebeten, an dem Dokumentarfilm über ihn mitzuwirken. Ich gab die einzige Antwort, die möglich ist, wenn dieser Mann mich um etwas bittet, egal, worum: Ja.

Mireille Dumas und ihr Team sind wirklich sympathisch, und die Sache ist mir nicht schwergefallen. Monsieur Pozzo und ich wurden am Drehort der Sendung Vie privée, vie publique, Privat und öffentlich, nebeneinandergesetzt und von den Journalisten als gleichwertige Interviewpartner behandelt. Ich fühlte mich nicht unbehaglich, war aber auch nicht besonders stolz. Ich fixierte das Dekor, versuchte korrekt zu antworten, natürlich, ohne zu stottern, ohne gezwungen zu klingen. Ich hörte mich das Wort »Freundschaft« aussprechen. Obwohl er es nicht mag, sieze ich meinen »Freund« noch immer. Für mich ist und bleibt er ein Monsieur. Aus einem Grund, den ich nicht kenne, war ich nicht in der Lage, ihn mit seinem Vornamen anzusprechen. Das ist übrigens noch heute so. Und doch, beim Titel** meines Buches ist das Du ganz natürlich gekommen, direkt aus dem Herzen.

Am Tag nach der Sendung haben wir von der Produktionsfirma erfahren, dass die Sendung eine Spitzen-Einschaltquote erzielt hatte, als wir an der Reihe waren. Ich konnte es kaum glauben, aber stolz war ich noch immer nicht. Wie Monsieur Pozzo ganz richtig sagt, bin ich furchtbar arrogant und von mir eingenommen, aber ich will keinen Ruhm, ich möchte nicht, dass man mich auf der Straße erkennt, und bin auch nicht scharf darauf, Autogramme zu geben. Das ist keine Frage der Bescheidenheit: So was ist mir fremd. Es ist doch so, ich habe nichts getan, um die Bewunderung Unbekannter zu verdienen. Ich hab einen Rollstuhl geschoben und einen Mann, dessen Schmerzen mir unerträglich erschienen, mit Joints betäubt. Ich hab ihn durch ein paar schwierige Jahre begleitet. Sie waren schwierig für ihn, nicht für mich. Ich war, wie er sagt, sein »Schutzteufel«. Ganz ehrlich, es hat mich nicht viel gekostet und hat mir viel gebracht, oder um noch einmal die Formel aufzunehmen, die das Unbegreifliche erklärt: Wir sind schließlich keine Tiere …

Auch als etwas später mehrere Filmteams unsere Geschichte fürs Kino bearbeiten wollten, habe ich nicht sofort zugesagt. Ich wurde natürlich gefragt, aber für mich war nur eine Antwort möglich: dieselbe, die der Pate gibt. Ich wollte nicht das Drehbuch lesen und habe auch nicht gefragt, wer die Rolle des Intensivpflegers übernimmt. Ich fühlte mich Jamel Debbouze nah, aber es war mir klar, dass er dafür nicht der Richtige war! Nach dem Dreh hab ich entdeckt, dass ich mit Omar Sy viele Gemeinsamkeiten habe: Er ist nicht nur wie ich in einer Cité aufgewachsen, sondern auch von anderen als seinen leiblichen Eltern aufgezogen worden. Auch er wurde als Geschenk angeliefert. Ich habe ihn zum ersten Mal in Essaouira getroffen, wo Khadija – Monsieur Pozzos zweite Frau – eine Überraschungsparty zum sechzigsten Geburtstag ihres Mannes organisiert hat. Er hat sich neben mich gesetzt, ganz einfach, er war offen und natürlich. Wir haben uns unterhalten, als hätten wir uns schon immer gekannt.

Der Film hat mich überrascht. Während ich auf der Leinwand die Szenen verfolgte, sah ich sie gleichzeitig so wieder, wie sie sich in Wirklichkeit ereignet haben. Ich sah mich noch einmal mit fünfundzwanzig Jahren den Bullen weismachen, dass mein Chef Probleme mit dem Blutdruck hat und schleunigst ins Krankenhaus muss, eine Frage von Leben und Tod! Ich hab mich gefragt: War ich wirklich so leichtsinnig? Und warum hat er mich bei sich behalten? Ich glaube, dass weder er noch ich, noch irgendjemand sonst jemals in der Lage sein wird, so etwas Verrücktes zu begreifen. Als ich an seiner Tür klingelte, war ich noch nicht dieser selbstlose Typ. Olivier Nakache und Éric Tolédano haben ein Double von mir geschaffen. Einen zweiten Abdel, aber einen besseren. Sie haben aus meiner Figur einen Filmstar gemacht, genauso wie aus der Figur von Philippe, den François Cluzet verkörpert. Es war offensichtlich die beste Lösung, das Drama in eine Komödie zu verwandeln, um so dem Wunsch von Monsieur Pozzo zu entsprechen: Er wollte, dass man über sein Unglück lacht, um nicht in Mitleid und kitschige Gefühle abzurutschen. Ich glaube, ich hab nicht mal einen Vertrag für den Film unterzeichnet. Warum hätte ich einen unterschreiben sollen? Was habe ich, Abdel Yamine Sellou, ihnen denn abgetreten? Im besten Fall ein paar Gags. Und sogar diese Gags gehören Monsieur Pozzo, denn er hat sie herausgelockt. Im wirklichen Leben bin ich nicht sein ebenbürtiger Partner, da bin ich kaum eine Nebenrolle, gerade mal ein Komparse. Ich bin nicht bescheiden: Ich bin der Beste. Aber was ich getan habe, war wirklich ganz einfach.

Nach dem Fernsehen und dem Kino kamen die Verleger auf mich zu. Diesmal direkt. »Wir kennen Driss, jetzt möchten wir Abdel kennenlernen«, sagten sie. Ich habe sie gewarnt: Der kleine Araber mit dem Bauchansatz ist vielleicht nicht ganz so sympathisch wie der große Schwarze mit den Diamantzähnen. Sie lachten sich krank, sie glaubten mir nicht. Selber schuld … Aber ich bin ein Spieler, also sagte ich, Ist gebongt. Und so habe ich angefangen, mein Leben zu erzählen, mehr oder weniger der Reihe nach. Als Erstes habe ich von Belkacem und Amina erzählt, denen ich nicht nur Freude gemacht habe, jetzt fällt es mir auf. Jetzt erst, nach vierzig Jahren, bravo, Abdel … Von meiner Frechheit, den kleinen Gaunereien, vom Gefängnis. Schon gut, Abdel, Kopf hoch, sei stolz. Zeig’s ihnen: Hat gar nicht weh getan! Und schließlich von Monsieur Pozzo. Von Monsieur Pozzo schließlich und vor allem, Monsieur Pozzo mit großem M, großem P und allem anderen auch groß, von der Intelligenz und dem Banksafe bis zur Demut.

Und auf einmal klemmt es.

Wer bin ich denn, um über ihn zu sprechen? Ich beruhige mich, ich rede mir gut zu, entschuldige mich selbst: Was ich da erzählt habe, das versteckt Monsieur Pozzo selbst auch nicht. War es denn nicht sein Wunsch, dass François Cluzet bei der kompletten Körperpflege-Prozedur anwesend war, die er täglich über sich ergehen lassen muss, und das schon bei ihrer ersten Begegnung? Die wundgelegenen Stellen, die abgestorbenen Hautschichten, die man mit der Schere abschneidet, die Sonde … Einem Tetraplegiker wird man kein mangelndes Schamgefühl vorwerfen: Weil er seinen Körper nicht mehr kontrolliert, gehört er nicht mehr ihm, er gehört den Ärzten, Chirurgen, Hilfspflegern, Krankenschwestern und sogar dem Intensivpfleger, die alle von ihm Besitz ergreifen. Er gehört dem Schauspieler, der sich auf seine Rolle vorbereitet, den Zuschauern, die um Verständnis gebeten werden. Gebeten werden, die Moral der Geschichte zu verstehen: dass, die Gewalt über seinen Körper zu verlieren nicht automatisch bedeutet, dass man sein Leben verliert. Dass Behinderte keine Tiere sind, die man anstarren kann, ohne rot zu werden, und dass es auch keinen Grund gibt, ihren Blicken auszuweichen.

Aber wer bin ich, um über das Leiden zu sprechen, über Scham und Behinderung? Ich habe bloß etwas mehr Glück gehabt als die große Masse der Blinden, die nichts gesehen hatten, bevor sie Ziemlich beste Freunde gesehen haben.

Ich habe mich in den Dienst von Philippe Pozzo di Borgo gestellt, weil ich jung war, jung und dumm, weil ich die coolen Autos fahren und in der ersten Klasse reisen, in Schlössern übernachten, Spießerinnen in den Hintern zwicken und mich über ihre pikierten Schreie freuen wollte. Ich bereue nichts. Weder, was mich damals umgetrieben hat, noch, was ich heute bin. Aber mir wurde etwas bewusst, als ich in diesem Buch mein Leben erzählte: dass ich erwachsen geworden bin neben Monsieur Pozzo, Monsieur Pozzo mit großem M, großem P und allem anderen auch groß, von der Hoffnung über das Herz bis zum Lebenshunger. Und jetzt werde ich selbst lyrisch wie die abstrakte Kunst …

Er hat mir seinen Rollstuhl wie eine Krücke angeboten, auf der ich mich abstützen konnte. Ich benutze sie noch heute.

** Der Originaltitel dieses Buches lautet »Tu as changé ma vie« (Du hast mein Leben verändert). A. d. Ü.