KAPITEL 63

Chance hatte ein Spielchen mit mir getrieben. Hatte seine Angel nach mir ausgeworfen.

Und ich hatte angebissen. Mir den Kopf verdrehen lassen. Wie ein liebestoller Schwachkopf.

Chance besaß kein anderes Interesse, als das Geheimnis seines Vaters zu schützen. Er hatte mich auf die falsche Fährte gelockt. Und ich war ihm in die Falle gegangen.

Mein Gesicht brannte vor Scham. Wie hatte ich nur so dumm sein können? Er dachte bestimmt, er hätte mich um den kleinen Finger gewickelt.

Aber du bist an die Falsche geraten, Claybourne.

Ich wusste, was ich jetzt tun musste. Ich musste Beweise sicherstellen. Und die Claybournes zu Fall bringen.

Ich steckte den SLED-Bericht in meine Tasche.

Außer mir vor Wut. Auf Chance. Auf mich.

Ich ließ meiner Wut freien Lauf. Erinnerte mich ein ums andere Mal daran, wie begriffsstutzig ich gewesen war. Wie naiv. Wie unerfahren. Ich steigerte mich in einen regelrechten Furor hinein.

Etwas zuckte durch mein Gehirn.

Meine Lippen verzogen sich.

Ein leises Knurren drang aus meiner Kehle.

KLICK.

Der Schub durchpulste meine Adern. Versorgte mich mit Energie. Verlieh mir eine wilde Entschlossenheit. Meine Sinne sprühten Funken. Hoben förmlich ab.

Goldenes Licht blitzte aus meinen Augen.

Ich öffnete behutsam die Tür und schnüffelte konzentriert. Verbrannter Tabak, ein Geruch unter vielen. Ich folgte seiner Spur in Richtung Treppe.

Hollis Claybourne rauchte Zigarren – das Aroma würde mich zu seinem Arbeitszimmer führen. Auf leisen Pfoten schlich ich über den Korridor. Meine Augen durchdrangen die Düsternis.

Swish.

Ich erstarrte. Senkte den Kopf. In der Ferne hatte ich ein leises Geräusch wahrgenommen. Langsam schwoll es an, kam direkt auf mich zu.

Links von mir stand ein hoher Schrank. Ich ging dahinter in Deckung und wartete.

Wenige Sekunden später spazierte ein Dienstmädchen vorbei, deren Rock sich im Takt ihrer Schritte hin und her bewegte.

Mein Herzschlag beruhigte sich wieder.

Uff. Ohne den Schub hätte ich sie niemals rechtzeitig bemerkt.

Mit weit geöffneten Nasenlöchern setzte ich meinen Weg in Richtung Treppe fort. Die Duftspur führte mich in den zweiten Stock.

Ich verließ die letzte Stufe und betrat einen langen Gang, an dessen Wänden in gleichmäßigen Abständen Messinglampen angebracht waren. Dazwischen hingen düstere Gemälde – Männer an Spieltischen, Männer in der Schlacht, Männer mit Perücken, die mit Schreibfedern Dokumente unterzeichneten.

Der Tabakgeruch drang aus dem zweiten Zimmer rechts. Ich schlüpfte hinein.

Das Zimmer war gewaltig. Von goldenen Kordeln zusammengehaltene rote Samtvorhänge rahmten die raumhohen Fenster ein. Die übrigen Wände wurden von Bücherregalen bedeckt, die bis zur holzgetäfelten, etwa sechs Meter hohen Decke reichten. Gut zweieinhalb Meter über dem Fußboden befand sich eine schmiedeeiserne Lauffläche, die einmal den gesamten Raum umkreiste und über eine Wendeltreppe in der hintersten linken Ecke zu erreichen war.

In der Mitte des Raumes waren vier lederbezogene Sessel im Halbkreis um einen niedrigen Tisch angeordnet. Ihnen gegenüber befand sich ein riesiger Kamin, in ihrem Rücken ein monumentaler Schreibtisch, der wiederum vor einem der Fenster stand. Darauf eine Reihe von Fotos, auf denen ein lächelnder Hollis Claybourne berühmten Persönlichkeiten die Hand schüttelte. Erinnerungsstücke an ein Leben im Kreise der oberen Zehntausend.

Und jetzt?

Hollis Claybournes Arbeitszimmer stellte selbst das Kolosseum in den Schatten.

Ich durchsuchte seinen Schreibtisch, fand aber nichts Verdächtiges.

Dann wandte ich mich einer Kommode unter einem Wandteppich zu, der General Custer in der Schlacht am Little Bighorn verewigte. In den Schubladen befanden sich instandgesetzte Kleidungsstücke aus der Zeit des Civil War.

Ich umkreiste den Raum, bemühte meinen laserscharfen Blick. Unter anderen Umständen hätte ich diesen Moment genossen.

Hollis Claybourne war ein Sammler. Neben all den Büchern und Fotos von sich selbst drängten sich auf den Regalen afrikanische Stammesmasken, Holzschnitzereien der Inuit, indonesische Puppen und Skulpturen aus allen Winkeln dieser Erde.

Doch nichts davon konnte ich gebrauchen.

Ich ballte frustriert die Fäuste.

Was hast du erwartet? Vielleicht einen Aktenordner mit der Aufschrift: Belastendes Material?

Ich schloss die Augen und fragte mich verzweifelt, was ich jetzt tun sollte. Ich war allein in Hollis Claybournes Arbeitszimmer. Diese Chance würde nie wiederkommen.

Plötzlich stieg mir ein kaum merklicher Geruch nach Lehm in die Nase. Es war ein erdiger Duft, der nicht so recht in dieses Büro passen wollte. Und noch etwas anderes. Nichts Organisches. Chemisches.

Meine Lider sprangen auf. Ich kannte dieses Aroma. Dreck. Metall. Ergänzt durch den beißenden Geruch eines Lösungsmittels.

Die Erkennungsmarken! Sie waren irgendwo in diesem Raum.

Ich schnüffelte konzentriert, versuchte, die Geruchsspur wieder aufzunehmen.

Oben.

Ich lief die Wendeltreppe hinauf und betrat die schmale Lauffläche. Suchte die Regale ab, während ich an ihnen entlangeilte. Dann wandte ich mich nach links und hastete in Richtung Fenster. Die Lauffläche endete in einer Ecke, die dem Eingang direkt gegenüberlag.

In einer Wandnische, im hintersten Winkel des Raumes, stand ein schmaler Aktenschrank aus Holz. Aus ihm strömte der Geruch.

Ich versuchte, den kleinen silbernen Handgriff nach unten zu drücken, aber das Schränkchen war verschlossen.

Schluss mit den guten Manieren.

Ich winkelte meinen Unterarm an und ließ meinen Handballen mit voller Kraft auf den Griff niedersausen. Das Frontpaneel knackte, hielt aber noch stand. Ich ignorierte den Schmerz und schlug ein zweites Mal zu. Die Tür splitterte. Kleine Holzteile landeten auf dem Boden.

Ich begutachtete mein Werk. Die Tür war cirka drei Zentimeter dick. Selbst Mike Tyson wäre es nicht gelungen, daraus Kleinholz zu machen, und ich hatte es mit zwei Schlägen geschafft hatte. Unfassbar.

KLACK.

Ein Schwindel erfasste mich. Ich sank auf die Knie.

Meine Sinneswahrnehmung schrumpfte auf ihr Normalmaß zurück.

»Verdammter Mist!«

Ich stand auf und inspizierte das Innere des Schränkchens. Drei Dinge lagen darin. Das Erste war ein alter Schwarz-Weiß-Schnappschuss von Hollis Claybourne. Der junge Hollis stand vor einer Gruppe von Sumpfkiefern und zeigte in den Himmel, an dem zwei Adler zu erkennen waren.

Cole Island! Der Dreckskerl hatte von den Adlern gewusst!

Unter dem Foto lag ein großes braunes Kuvert. Darin befanden sich Vertragsunterlagen. Ich zog sie heraus. Dokumente über den Verkauf von Cole Island an Candela Pharmaceuticals. Ein Arbeitsvertrag. Indizien, aber keine hieb- und stichfesten Beweise.

Auf dem untersten Regalbrett war ein mit Samt bezogenes Kästchen. Ich öffnete es. Zwei verwitterte Erkennungsmarken lagen nebeneinander. Eine war dreckverkrustet, die andere glänzte wie neu.

Francis P. Heaton. Katholisch. O positiv.

»Du mieses Stück!«, knurrte ich.

Jeder Mensch, der noch klar bei Verstand war, hätte die Marken zerstört. Nicht so Hollis Claybourne. Der egozentrische Bastard hatte sie als Trophäen behalten.

Erneut flammte mein Zorn auf. Diese Marken bezeugten den Mord an Katherine Heaton.

Claybourne pflegte ihr Andenken.

Er war ein Monster.

Die Tür öffnete sich quietschend.

Schritte eilten über den Teppich.

»Was tun Sie da?«

VIRALS - Tote können nicht mehr reden - Reichs, K: VIRALS - Tote können nicht mehr reden
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