KAPITEL 54

Blinzelnd blickte ich zurück.

Nur wenige Schritte hinter mir hatte sich eine Mauer aus Erde und Geröll aufgetürmt. Wir waren der Steinlawine um Haaresbreite entronnen.

Erneut war alles dunkel. Selbst mit geschärftem Blick sah ich nichts.

»Seid ihr alle okay?«, fragte ich.

Die Jungs gaben Laut. Selbst Coop stieß ein kurzes Kläffen aus.

»Na dann, weiter«, sagte ich. »Geht ja nur noch in eine Richtung.«

Wir stolperten vorwärts, vollkommen auf unsere Schritte und unsere Atmung bedacht. Wir weigerten uns, an die schrecklichen Alternativen zu denken.

Und wenn dieser Tunnel gar nicht hinausführte? Würden unsere Verfolger schon auf uns warten, wenn wir zurückkehrten? Was hatte das dumpfe Geräusch zu bedeuten, das den beiden Pistolenschüssen gefolgt war? Was war mit Dr. Karsten passiert?

Konzentrier dich. Geh weiter.

Der Tunnel gabelte sich.

»Wo lang?«, hörte ich Sheltons Stimme zur Linken.

»Von rechts kommt frische Luft«, sagte Hi. »Ich glaube, ich rieche auch Gras.«

Ich hob meine Nase und schnüffelte.

Hi hatte recht. Unter das Gemisch von Staub, Schimmel und verfaultem Holz hatten sich neue Düfte gemischt. Gras und feuchter Sand.

Mein Herz schlug gegen meine Rippen.

Gerade wollte ich etwas sagen, als ich eine Bewegung hörte, gefolgt von einem »Autsch!«.

»Coop plädiert auch für die rechte Seite«, sagte Hi. »Jedenfalls hat er mich wohl deshalb über den Haufen gerannt.«

»Also dann«, sagte Ben.

Die Dunkelheit verbarg alle Hindernisse, bis wir direkt vor ihnen standen oder über sie stolperten. Wir bahnten uns den Weg über Steine, Gebälk und eine Ansammlung nicht identifizierbarer Gegenstände hinweg.

Durch meinen Körper wurde eine dreifache Menge Adrenalin gepumpt. Mein Kopf kam mir zu klein für mein Gehirn vor. Ich mobilisierte alle Sinne, um einen Weg durch die Finsternis zu finden.

Hätte nie darauf eingehen sollen … wusste, dass die Decke einstürzt … kann nicht atmen …

Was war das?

»Shelton, hast du was gesagt?«

»Nein.« Seine Stimme zitterte.

Verwirrt versuchte ich, mich wieder auf die seltsame Stimme in meinem Kopf zu konzentrieren.

Aber sie blieb verschwunden.

Sie hatte sich wirklich wie Shelton angehört. Ich startete noch einen Versuch.

Gleichgewicht halten. Atmen.

Hätten ihnen am Eingang auflauern sollen … hätten die Typen fertiggemacht …

Ich sollte ja wohl nichts anderes als Staub riechen. Gras? Ich bin von Natur aus ein Freak.

Oh mein Gott.

Ich hörte die anderen Virals.

In meinem Kopf.

Unmöglich.

Ich versuchte es erneut, konnte die Verbindung aber nicht wiederherstellen. Konnte nicht wieder öffnen, was sich geschlossen hatte. Ich versuchte mit aller Kraft, diese Stimmen zu hören, doch es klappte nicht mehr.

Jetzt spinnst du total, Tor.

Konzentration. Füße. Lunge.

Schlechter Geruch … Gefahr … Rudel schützen …

Coop! Ich war mir ganz sicher. Er wollte uns beschützen.

Ich stolperte weiter, spürte den Welpen, drückte ihn an meine Brust.

Warm … Mutter-Freund … Schutz …

Mein Gehirn versuchte mit aller Macht, ihm eine Botschaft zukommen zu lassen.

Ich werde dich beschützen, mein Kleiner. Wir werden bald in Sicherheit sein. Versprochen.

Coop fiepte und stupste seine Nase gegen mein Gesicht. Ich küsste ihn auf den Kopf.

»Was war das?« Ben blieb abrupt stehen.

»Wen beschützen?«, fragte Shelton.

»Hey, Tory, das ist total abgefahren.« Hi. »Wo bist du? Redest du mit mir?«

»Hier bin ich«, antwortete ich.

Hatten mich alle gehört? Ich sandte eine Testbotschaft aus.

Ich bin auch hier.

»Whoa!« Shelton und Hi.

»Du bist in meinem Kopf!« Ben klang geschockt. »Raus da!«

Ich konnte es nicht glauben. Sie konnten mich hören! Die Virals konnten mich hören!

Dann verblasste das Gefühl.

Ich wollte es wieder aktivieren, aber das war zwecklos. Als wollte man einen Traum zurückholen, zu dem die Verbindung bereits abgebrochen war.

Ich versuchte eine weitere Botschaft abzusetzen.

Kein Anschluss. Verdammt.

»Was hast du da gerade gemacht?«, fragte Hi.

»Ich weiß nicht.«

»Mach das noch mal.«

»Geht nicht.«

Ich ließ Coop los. Er jagte davon, hinein ins Dunkel. Dann hörte ich weit vor mir ein Bellen. Wir irrten ihm hinterher. Wenige Minuten später drang ein unmerkliches Licht durch die Finsternis. Obwohl wir es kaum wahrnahmen, zog es uns an wie ein Leuchtfeuer.

»Eine Leiter!«, rief Ben.

Wir stürzten nach vorn.

Über der Leiter sahen wir einen rechteckigen Ausschnitt des Nachthimmels, der mit Sternen übersät war. Fahles Mondlicht bohrte sich wie ein Pfahl durch die Öffnung.

Der Ausgang. Ich hätte fast geschrien vor Glück.

Shelton testete kurz die Stabilität der Leiter und schoss dann die Sprossen hinauf. Hi folgte ihm.

Ben warf sich Coop über die Schulter und stieg als Nächster hinauf. Ich klebte an seinen Fersen, jederzeit bereit, den Hund aufzufangen, sollte Ben ins Stolpern geraten.

Die Leiter endete in einem Bunker, der so klein war, dass wir fünf gerade Platz darin fanden.

Seine Fensteröffnung ging nach Norden hinaus, in Richtung Hafen.

Ich war immer noch wie im Rausch. Mit allen Sinnen nahm ich die Nachtluft in mich auf, während die Angst sich allmählich verflüchtigte.

»Wo sind wir?«, fragte Hi.

»Auf der anderen Seite von Morris, beim Schooner Creek.« Ben ließ seinen Blick über das Gelände schweifen. »Das muss einer der Sandhügel sein.«

Wir befanden uns hoch über der Wasserlinie, mit freiem Blick auf die Nordspitze der Insel. Ein tortengroßer Mond schien auf uns herab. Mit meinen Wolfsaugen sah ich alles so hell erleuchtet wie um zwölf Uhr mittags.

»Seht mal!«

Shelton zeigte in nordöstliche Richtung, wo unser Klubhaus war. In knapp zweihundert Metern Entfernung, unmittelbar am Wasser, kämpften drei Männer darum, ein längliches Bündel auf ein Boot zu verfrachten.

»Oh Gott, schaut euch das Paket an!« His Stimme brach.

Die Form. Die Größe. Die Art und Weise, wie die Männer es anfassten.

Ich biss mir auf die Unterlippe.

Als das Boot von einer Welle emporgehoben wurde, rutschte das Bündel zur Seite, und die Männer hatten alle Mühe, ihr Gleichgewicht zu halten. An einem Ende öffnete sich das Bündel ein wenig.

Ein gelber Turnschuh schaute heraus.

Mir blieb die Luft im Hals stecken.

Dr. Marcus Karsten.

Die Schüsse.

Der tote Körper, der mit einem dumpfen Geräusch auf dem Boden aufgeschlagen war.

Nein! Das durfte nicht sein.

Karsten war die einzige Person, die alles durchschaut hatte. Die einzige Person, die vielleicht in der Lage gewesen wäre, die Veränderung in unseren Körpern rückgängig zu machen.

Am liebsten hätte ich losgeheult und meiner Verzweiflung freien Lauf gelassen. Mit Karstens Tod hatte sich eine Tür geschlossen. Unsere letzte Hoffnung war ermordet worden.

Aber warum? Wer konnte sich von ihm bedroht gefühlt haben?

Schließlich hatten die Männer ihre furchtbare Fracht an Bord gehievt. Ein Motor wurde angeworfen. Unsere Angreifer fuhren aufs Meer hinaus.

Wir sahen dem Boot nach, bis es am Horizont verschwand. Unsere goldenen Augen glühten im Dunkeln.

VIRALS - Tote können nicht mehr reden - Reichs, K: VIRALS - Tote können nicht mehr reden
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