KAPITEL 47
Hi und Shelton eilten die Beaufain Street hinunter. Auf dem Colonial Lake, einem künstlich angelegten See, zogen Ruderboote ihre Bahn. Enten glitten zu zweit oder zu dritt über das Wasser. Aber dafür hatten die Jungen jetzt keinen Blick.
In der Nähe der Einkaufsmeile gingen die großen Einfamilienhäuser in sorgfältig aneinandergereihte »Stadthäuser« über. Die Balkonkästen quollen förmlich über von Petunien, Ringelblumen und Wandelröschen. Honigbienen machten in der warmen Abendsonne Überstunden. Unterhalb der King Street erreichten Hi und Shelton schließlich den Campus der Universität. Ein ehrwürdiger, mit Efeu bewachsener Gebäudekomplex im gotischen Stil, allerdings mit modernen Ziegelsteinen und Fenstern. Unter den mächtigen Eichen und Magnolien jagten Hunde hinter den Frisbees der Collegestudenten her.
Ein Schild führte die Jungen zu einem massiven Gebäude am östlichen Rand der Anlage.
»Heute schon mal in Ohnmacht gefallen?«, fragte Shelton, als sie den Weg entlanggingen.
»Nee, aber ich hatte wieder so eine Erscheinung. Für einen Moment konnte ich die Musterlösung auf dem Pult von Mr. Hallmark lesen. Dabei sitze ich in der letzten Reihe.«
»Bei mir haben die Ohren verrücktgespielt«, sagte Shelton. »Auf der Toilette habe ich plötzlich ein tierisch lautes Geräusch gehört, wie von einer Kettensäge. Das war Kelvin Grance, der seinen Hosenstall zugemacht hat. Und ich stand mehrere Meter entfernt. Ist das nicht irre?«
»Total abgedreht.«
In der naturwissenschaftlich-medizinischen Bibliothek verwies man die Jungen an die tiermedizinische Abteilung. Dort teilten sie verschiedene Themen unter sich auf und machten sich an die Arbeit. Zwei Stunden später verglichen sie ihre Ergebnisse.
»Ich habe tausend medizinische Zeitschriften durchgesehen«, sagte Shelton. »Unsere Symptome werden nirgendwo beschrieben. Also gibt es auch keine passende Krankheit.«
»Hier ist alles, was ich über Parvo gefunden habe«, sagte Hi und ordnete seine Papiere. »Parvoviren gehören zu den kleinsten Viren, die in der Natur vorkommen, und besitzen ein einzelsträngiges DNA-Genom. Parvus heißt klein auf Latein.«
»Hochinteressant«, entgegnete Shelton mit unbewegter Miene. »Bringt uns das irgendwie weiter?«
»Verschiedene Spezies haben verschiedene Virenstämme«, fuhr Hi fort. »Hunde, Katzen, Schweine, sogar Nerze. Und jetzt hör zu.« Hi las vor: »Parvoviren weisen je nach Spezies eine unterschiedliche Struktur auf, deren Charakter jedoch flexibel ist.«
»Und was heißt flexibel?«, fragte Shelton.
»Das heißt, dass die Strukturen sich verändern können. Das Canine Parvovirus infiziert normalerweise nur Hunde, Wölfe und Füchse. Doch bestimmte Stämme können auch auf andere Tiere übertragen werden, zum Beispiel auf Katzen.«
»Und wenn Hunde Katzen anstecken können, warum nicht auch Menschen?«
Hi zuckte die Schultern. »Keine Ahnung. Aber Tory hat recht gehabt. Das Canine Parvovirus ist auf den Menschen nicht übertragbar.«
»Dann ist das hier eine Sackgasse.« Shelton seufzte. »Komm, lass uns weitermachen.«
Die Schatten wurden länger und legten sich schließlich wie dunkle Pfeile über die Holztische in der Mitte des Raumes. Shelton wollte schon aufgeben, als er schließlich über einen neuen Anhaltspunkt stolperte.
»Hi, schau dir das an.« Hi beugte sich vor, um den Text unter Sheltons Zeigefinger zu lesen.
»Menschen können sich nicht mit Parvoviren infizieren, wohl aber mit Viren aus derselben Familie.« Sheltons Stimme war erregt.
»Wirklich?«
»Zu den Parvoviren zählen drei Arten: Dependovirus, Bocavirus und Erythrovirus. Der letzten Art entstammt auch das Parvovirus B19.«
»Parvo B19.« Hi rieb sich die Stirn. »Kommt mir irgendwie bekannt vor.«
»Das B19 wurde 1975 entdeckt.« Shelton versorgte Hi mit weiteren Einzelheiten. »Es war das erste Parvorvirus, an dem sich Menschen infizieren konnten. Bis heute gibt es keine Impfung dagegen. Die letzte Epidemie war 1998.« Shelton blickte auf. »In der Regel stecken sich Kinder an, meistens in Kindergärten oder Schulen.«
»Wie sind die Symptome nach einer B19-Infektion?«
Shelton blickte erneut in seine Unterlagen. »Es kommt zu einem Erscheinungsbild, das auch als ›fünfte Krankheit‹ bezeichnet wird. Doch außer einem gelegentlichen heftigen Hautausschlag, der ein paar Wochen andauern kann, scheint nicht viel zu passieren.«
»Bei uns sah das definitiv anders aus.«
Shelton las weiter. »B19 überträgt sich durch Tröpfcheninfektion. Die Krankheitserreger verbreiten sich also durch die Luft, zum Beispiel beim Husten oder Niesen. Mögliche Symptome sind Fieber und Erschöpfung.«
»Das kennen wir doch.«
Shelton nickte. »B19 benutzt zur Vermehrung hauptsächlich Vorläuferzellen der roten Blutkörperchen im Knochenmark. Die Symptome treten wenige Tage nach erfolgter Infektion auf und halten cirka eine Woche lang an. Eine Ansteckungsgefahr besteht ausschließlich vor dem Auftreten der ersten Krankheitszeichen.«
»Wir haben uns bei Coop angesteckt«, sagte Hi. »Können Hunde auch B19 kriegen?«
Shelton überflog die Seite. »Nein. Am B19 stecken sich ausschließlich Menschen an.«
»Die nächste Sackgasse.«
»Ich bin mir nicht sicher. Mir scheinen das ziemlich wichtige Informationen zu sein. Vielleicht haben wir etwas übersehen. «
»Komm, wir kopieren den Artikel und kümmern uns dann um die anderen Quellen, die hier erwähnt werden.«
Die Schatten wurden grau und schließlich schwarz, während Shelton und Hi jede Quelle prüften, die sie finden konnten. Sie kamen vom Hundertsten ins Tausendste, ohne den entscheidenden Durchbruch zu erzielen.
Um 21.00 Uhr verkündete eine förmliche Lautsprecherstimme, dass die Bibliothek in wenigen Minuten schließe.
»Ich denke, wir sind auf der richtigen Spur«, sagte Hi. »Weiß nur noch nicht genau, wo die hinführen wird. Lass uns erst mal die anderen informieren.«
»Gute Idee.«
Die Lautsprecherstimme ließ eine zweite, noch dringlichere Aufforderung folgen.
Die Jungen eilten dem Ausgang entgegen.