KAPITEL 49

Nachdem Hi und Shelton die Bibliothek verlassen hatten, nahmen sie den fünfzehnminütigen Fußmarsch zum Yachthafen in Angriff.

»Ich hasse es, im Dunkeln durch die Stadt zu laufen«, sagte Shelton. »Hier ist doch kaum noch jemand auf der Straße.«

»Es ist gerade mal neun Uhr und wir sind hier im Touristenviertel«, entgegnete Hi. »Hast du etwa Angst, von einer Oma aus Jersey ausgeraubt zu werden?«

»Es ist stockdunkel. Mehr wollte ich nicht sagen.«

»Mach dir keine Sorgen«, entgegnete Hi, indem er auf die Schaufenster zeigte. »Zwischen Abercrombie und Lacoste kann uns nichts passieren.«

Einen halben Block weiter erloschen die Straßenlaternen und ließen den Bürgersteig im Dunkeln zurück.

»Und jetzt?«, flüsterte Shelton.

»Geh weiter, du Weichei.«

Hi beschleunigte seine Schritte. Sekunden später sah er zwei Männer, die an der Ecke King Street/Hassell Street herumlungerten. Beide waren in Schwarz gekleidet. Keiner von ihnen sprach ein Wort.

Die Jungen blieben stehen.

»Shelton«, raunte Hi erregt. »Hier stimmt was nicht.«

»Sag ich doch.«

»Lass uns woanders langgehen.«

»Guter Vorschlag.«

Sie überquerten die King Street und marschierten die Hassell Street nach Osten. Eigentlich die falsche Richtung, doch der Umweg kümmerte sie nicht.

»Da vorn ist meine Synagoge«, sagte Hi. »Beim nächsten Block können wir um die Ecke gehen.«

An der Kahal Kadosh Beth Elohin Synagoge drehten sie sich um und spähten in die Finsternis. Die Straße war leer.

»Das hab ich davon, dass ich dich aufziehe«, sagte Hi. »Jetzt mache ich mir selbst in die Hose.«

Shelton lachte. »Yeah, wir sind nicht gerade Jason Bourne, oder?«

Mit dem Gefühl, sich lächerlich gemacht zu haben, wandten sie sich nach rechts. Zwei Blocks weiter südlich erreichten sie den Alten Markt. Aus der Ferne sah die gesamte Anlage wie eine riesige Seeschlage aus, die sich über die Market Street schlängelte und auf beiden Seiten enge Gassen entstehen ließ.

»Scheiße«, sagte Hi.

Die beiden Männer standen ihnen jetzt genau gegenüber. Einer von ihnen rauchte. Beide starrten Ben und Shelton an.

»Verdammt, lass uns abhauen!«, raunte Shelton.

Die beiden Jungen rannten los, in nördliche Richtung. Als sie sich wieder umdrehten, war von den beiden Männern nichts mehr zu sehen, vermutlich weil sie sich auf der anderen Seite des Markts befanden.

»Das ist die falsche Richtung«, keuchte Shelton.

»Na und? Ich will denen nicht noch mal über den Weg laufen. Du etwa?«

Shelton antwortete nicht.

Sie befanden sich jetzt im älteren Teil des Marktes, der einsam und verlassen dalag. An der nächsten Kreuzung hielten sie inne und sahen sich über die Schultern.

Und machten sich vor Schreck fast in die Hosen.

Die beiden Männer standen in der Gasse, die am südlichen Ende des Markts vorbeiführte. Wie zwei Raubtiere, die ihre Beute vor Augen hatten.

»Geh weiter«, flüsterte Shelton. »Lass dir nichts anmerken. «

»Zur Bay Street«, sagte Hi. »Wir schlagen einen großen Bogen.«

Schritte hallten über das Kopfsteinpflaster. Beide Jungen fuhren herum.

Die beiden Männer hatten die Straßenseite gewechselt und kamen auf sie zu. Die Distanz zwischen ihnen schmolz rasch zusammen.

Hi und Shelton starrten sich an. Flucht oder Kampf? Keine Frage. Sie würden spurten, was das Zeug hielt.

Die Welt zog sich zurück.

Finsternis.

Sie fielen.

KLICK.

Ein Stromstoß ging durch sie hindurch. Mit einem Mal sahen sie alles gestochen scharf.

Ihre Verfolger waren ihnen nun dicht auf den Fersen.

»Renn!«, schrie Shelton.

Wie Windhunde schossen die Jungen davon. Die Füße ihrer Verfolger trommelten über das Pflaster. Die Jagd war eröffnet.

His Augen durchdrangen die Dunkelheit wie ein Nachtsichtgerät. An einem der Markthäuschen nahm er in der Finsternis einen noch finstereren Fleck wahr. Er packte Shelton an der Schulter und wandte sich blitzschnell nach rechts. Shelton folgte seinem Richtungswechsel mit Leichtigkeit. Mit einer gemeinsamen Bewegung tauchten sie hinab ins Dunkel. Kauerten sich hinter einem umgekippten Tisch zusammen. Hielten den Atem an.

Ihre Verfolger waren direkt vor ihnen stehen geblieben. Ihr Keuchen klang wie ein heulender Wind. Hi und Shelton rochen ihren Schweiß, spürten ihre Erregung.

»Wo stecken die nur?«

»Verdammt! Ich such die Straße ab und du siehst dich hier um. Und lass sie bloß nicht entwischen!«

Schritte verklangen und kehrten langsam zurück.

Der andere kam ihnen zögerlich näher. Der Kies unter seinen Ledersohlen knallte wie explodierendes Popcorn.

Stille.

Ihr Verfolger war stehen geblieben. Um seine Augen an die Dunkelheit zu gewöhnen?

»Kommt raus!« Seine Stimme klang hell und unsicher. »Wir wollen nur mit euch reden.«

Der Mann machte einen weiteren Schritt nach vorn.

Ein sanftes Klicken zerriss die Stille.

Das übermenschliche Gehör der Jungen registrierte das Geräusch.

Ihre Blicke trafen sich. Ein goldener Ring umgab ihre Pupillen.

Sie wussten es.

Eine Pistole war entsichert worden.

»Wir tun euch nichts.« Eine weitere Stimme von rechts. Sie konnten den Mann deutlich erkennen. Groß gewachsen, die muskulösen Arme und Beine hinter schwarzem Stoff verborgen.

Der Mann tastete sich mit den Füßen vorsichtig weiter, eine Hand nach vorn gestreckt, die andere um die Waffe geballt.

Shelton und Hi teilten einen Gedanken. Unser Feind ist blind. Wir nicht. Ihre leuchtenden Augen suchten die Umgebung nach Gegenständen ab, die sie als Waffe benutzen konnten.

Dort.

Hinter ihnen lehnten zwei Besen an der Wand. Beide mit einem soliden Holzgriff.

Sie bewaffneten sich lautlos.

Warte.

Warte.

Der Gangster hatte schließlich ihr Versteck erreicht. Schwenkte seine Pistole vor dem Körper hin und her. Amateurhaft. Lächerlich.

Shelton schob sich näher heran und hielt den Besenstiel zwischen die Beine des Mannes. Der stolperte, konnte sich aber irgendwie auf den Beinen halten.

Blitzschnell schlug ihm Shelton die Waffe aus der Hand, die auf das Kopfsteinpflaster prallte und ins Dunkel sprang.

Shelton zögerte nicht. Er machte einen Satz nach vorn und stieß dem Mann den Griff in die Rippen.

»Aaah!« Der Ganove krümmte sich zusammen.

Hi drehte den Besen in seiner Hand, machte eine volle 360-Grad-Drehung und ließ den Griff mit voller Wucht gegen den Hinterkopf des Gegners krachen.

Holz gegen Knochen.

Der Mann ging zu Boden. Blieb liegen.

Keine Zeit, groß zu feiern.

Die Krieger schossen aus ihrem Versteck.

Jagten durch die dunklen Straßen.

Hielten erst an, als sie das Wasser erreicht hatten.

VIRALS - Tote können nicht mehr reden - Reichs, K: VIRALS - Tote können nicht mehr reden
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