KAPITEL 24

Ich erwachte aus meiner Trance.

Mein Kopf schnellte nach oben.

»Hier sind Knochen.«

»Wo?« Ben ließ seine Schaufel fallen und spähte mir über die Schulter.

»Ach du Scheiße! Du hast recht!«

Sheltons Reaktion war weniger männlich. Nachdem auch er sich von der grauenhaften Entdeckung überzeugt hatte, rief er: »Ein Grab, ein Grab!« und taumelte vom Rand der Grube zurück.

Hiram warf einen kurzen Blick und kotzte sofort los.

Beide sanken keuchend ins Gras.

Einzig Ben bewahrte einen kühlen Kopf. »Die Hand eines Menschen, oder?«

»Ja, ich bin mir absolut sicher«, antwortete ich. Was der Wahrheit entsprach. Ich hatte genug Darstellungen menschlicher Skelette gesehen, um zu wissen, wie Handwurzelknochen, Mittelhand und Fingerglieder aussehen.

»Dann rufen wir jetzt die Polizei«, sagte Ben mit größter Entschiedenheit. »Sofort!«

Pragmatismus bändigte meine heftigen Emotionen. »Du hast recht. Aber zuerst müssen wir ganz sichergehen.«

Ben nickte. »Und wie willst du das machen?«

»Ich möchte mehr sehen als Handknochen.« Ich atmete tief durch. »Ich will genau wissen, was hier begraben liegt.«

»Da finden wir eine Leiche und du willst einfach weitergraben? « Sheltons Stimme überschlug sich fast. »Das ist doch totaler Wahnsinn.«

»Das ist jetzt Sache der Polizei!«, fügte Hi mit flehender Stimme hinzu. »Die machen uns die Hölle heiß, wenn wir hier die Privatdetektive spielen. Vor allem, wenn es wirklich diese Katherine Heaton ist.«

»Das steht noch nicht fest!«, gab ich bissig zurück. Seltsamerweise hatte ich den Drang, Hi wie einen Punchingball zu behandeln.

»Okay, okay.« Hi hob abwehrend beide Hände. »Dann graben wir eben ein bisschen weiter. Vielleicht ist es ja jemand anders.«

Shelton und Ben warfen mir verwunderte Blicke zu. Ich hatte Hi angefahren, obwohl er nur ausgesprochen hatte, was wir alle wussten.

Was sollten wir sonst finden?

Ich holte tief Luft. So unlogisch es auch war, ich wollte mir nicht eingestehen, dass Hi recht hatte. Noch nicht.

»Tut mir leid, Hi. Das war nicht fair von mir. Ich wollte nur ganz sichergehen.«

»Kein Thema«, entgegnete Hi. »Ich hab nicht nachgedacht, bevor ich geredet hab.« Doch er schien immer noch auf der Hut zu sein, wie eine Katze, die einen schlafenden Hund umkreist.

Ben und Shelton sagten kein Wort. Doch ihre Gesichter sprachen Bände. Auch sie waren davon überzeugt, dass wir Katherine Heaton gefunden hatten.

»Ich weiß, was ihr alle denkt«, sagte ich. »Lasst mich nur die Knochen begutachten.«

Skeptische Blicke.

»Ohne Beweis werden uns die Bullen nicht glauben«, sagte ich. »Jedenfalls nicht diese Tölpel aus Folly Beach. Wir müssen das Grab und das Skelett und alles, was wir finden, fotografieren.«

»Wir könnten Beweisstücke zerstören«, sagte Shelton.

»Wir werden sehr vorsichtig sein und alles dokumentieren«, versprach ich. »Dann haben wir auch etwas in der Hand, falls die Affen das Grab verwüsten sollten.«

Widerstrebend willigten die Jungs ein.

Ich machte folgenden Vorschlag: Ben und ich würden innerhalb der Grube weiterschaufeln. Die Angsthasen konnten oben stehen bleiben. Shelton zog die Eimer nach oben, Hi würde mit seinem iPhone die Fotos machen.

Zwei Stunden unablässigen, behutsamen Grabens förderten ein vollständig erhaltenes Skelett zutage. Die Knochen waren so dunkel wie starker Tee, sahen aus wie Relikte vergangener Zeiten.

Ein einziger Blick beseitigte die letzten Zweifel.

Die Überreste stammten fraglos von einem Menschen, der in über einem Meter Tiefe begraben worden war.

Ich ging in die Hocke, um den Schädel näher zu betrachten.

»Oh Gott!«

Ich zeigte auf ein kleines Loch mitten auf der Stirn. Es war rund und scharf begrenzt.

»Verdammt, ist das etwa ein Einschussloch?«, fragte Ben.

»Sieht ganz so aus.« Meine Stimme zitterte leicht.

Die Jungs sahen mir zu, wie ich das Skelett von Kopf bis Fuß begutachtete.

»Alle anderen Knochen sind unbeschadet. Ich werde versuchen, das Geschlecht festzustellen.«

»Wie willst du das machen?«, fragte Hi.

Auf der Seite im Dreck liegend, betrachtete ich die rechte Beckenschaufel. »Sieht insgesamt nach einem breiten Becken aus.« Ich drehte den Kopf, damit ich die Bauchseite sehen konnte. »Der Schambeinbereich ist länglich, und die Stelle darunter, wo sich die beiden Hälften treffen, ist wie ein U, nicht wie ein V geformt. Das alles sind weibliche Merkmale.«

Ich rief mir einen Tipp von Tante Tempe in Erinnerung und suchte das Hüftbeinloch.Ohne das Skelett zu verschieben steckte ich meinen Daumen hinein. Dort war genug Platz, um ihn zu bewegen.

Die Jungs stöhnten auf.

»Seid keine Babys«, sagte ich. »Manchmal muss man ein Skelett eben auch berühren.«

»Und?«, fragte Ben.

»Weiblich.«

»Wie alt war sie?« Shelton schien sich ein klein wenig beruhigt zu haben.

Ich schob mich vor bis zum Schädel und betrachtete die Suturen, die feinen, schnörkeligen Nahtstellen zwischen den Schädelknochen. Diejenigen, die ich erkennen konnte, waren weit offen.

Ich schaute in den Mund.

»Gesundes Gebiss. Die Weisheitszähne sind noch nicht voll durchgebrochen.«

Dann widmete ich mich wieder dem Torso. »Eine schmale knorpelartige Schicht an den Enden der langen Röhrenknochen verknöchert, wenn deren Wachstum beendet ist. Man nennt sie Epiphysenfuge. Diese Fuge am Oberschenkelknochen hat sich nicht ganz geschlossen. Dasselbe gilt für die Clavicula.«

»Die was?«, fragte Ben.

»Das Schlüsselbein«, riefen Shelton und Hi unisono.

»Daran erkennt man, dass sie noch ziemlich jung war«, erklärte ich.

»Wie jung?« Hi.

»Unter zwanzig.« Ich war wie benommen.

»So wie Katherine Heaton«, flüsterte Shelton.

Dem Skelett einen Namen zu geben, machte die Tragödie sehr real. Dies war kein Experiment, kein Abenteuer für ein paar junge Wissenschaftsfreaks. Ich kniete in dem einsamen, anonymen Grab einer jungen Frau.

Einer Jugendlichen, die vor langer Zeit ermordet, begraben und vergessen worden war.

»Rufen wir die Polizei.« His Stimme war todernst.

Ich nickte. »Es dämmert schon. Mach so viele Fotos wie du kannst, bevor es dunkel wird.«

Ben, Shelton und ich suchten unsere Werkzeuge zusammen. Als ich einen Spatel vom Boden aufhob, hörte ich leises Klirren.

Ich wusste sofort, um was es sich handelte.

Während ich mir die Erde von den Fingern wischte, sah ich, was ich mit meinem Spatel berührt hatte.

»Um Gottes willen!«

Alle drehten sich zu mir um.

»Damit schließt sich der Kreis.« Ich hielt mein Fundstück in die Höhe. Es glänzte in den letzten rötlichen Strahlen der untergehenden Sonne.

Eine zweite Erkennungsmarke, identisch mit der in meiner Tasche.

Leserlich.

Francis P. Heaton.

Das letzte Tageslicht nahm eine graue Färbung an.

Am liebsten hätte ich losgeheult. Alle Schleusen geöffnet und mir die Augen aus dem Kopf geweint. Aber das kam nicht infrage. Niemals.

Ich presste die Kiefer aufeinander und wischte mir mit dem Handrücken eine Träne von der Wange. Ich fügte die Erkennungsmarke meinem wieder verschließbaren Plastikbeutel hinzu und verstaute die anderen Sachen in meinem Seesack. Stöcke, Leine, Schaufeln, Spatel.

Die Jungs waren so unbeholfen, wie Jungs eben sind, wenn sie mit weiblichen Gefühlen konfrontiert werden. Da sie nicht wussten, was sie sagen oder wie sie reagieren sollten, ignorierten sie mich einfach.

Tiefe Trauer erfüllte mich. Katherine Heaton war tot. Ich hatte ihr Skelett ausgegraben. Happyend ausgeschlossen.

Unvermeidlich verwandelte sich meine Trauer in Wut und verhärtete sich zu einem Entschluss.

Das Verbrechen war ein Faktum. Es handelte sich um einen widerwärtigen Mord. Jetzt war es an der Zeit, den Mörder zu finden.

In Gedanken sprach ich mit Katherine, legte einen stummen Eid ab. Irgendjemand wird für diese Schandtat bezahlen. Vier Jahrzehnte machten keinen Unterschied. Der Gerechtigkeit wird Genüge getan werden.

Doch mein Schwur wurde jäh unterbrochen.

Männer mit Pistolen waren gekommen, um uns zu töten.

VIRALS - Tote können nicht mehr reden - Reichs, K: VIRALS - Tote können nicht mehr reden
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