KAPITEL 3
Ich zwinkerte. Der Übergang von gleißendem Sonnenlicht zu dämmrigem Halbdunkel ist immer ein Schock.
Ein besseres Versteck kann man sich kaum vorstellen.
Der zentrale Raum ist vielleicht fünf mal neun Meter groß. Holzbalken erstrecken sich drei Meter hoch bis zur Decke. Gegenüber dem Eingang ist ein länglicher Sehschlitz in die Wand eingelassen und bietet einen großartigen Blick auf den Hafen von Charleston. Ein schmaler Holzvorsprung sorgt dafür, dass der Schlitz von außen nicht zu erkennen ist.
Durch einen engen Gang zur Linken gelangt man in einen zweiten, kleineren Raum. Auch hier muss man sich durch eine schmale Öffnung quetschen. An der hinteren Wand dieses Raumes nimmt ein eingestürzter Schacht seinen Anfang, der tiefer in den Hügel hineinführt. Echt gruselig. Keiner von uns hat sich da bisher reingetraut.
Ben kauerte im ersten Raum auf einer alten Bank, sein verletztes Bein ruhte auf einem Stuhl. Blut sickerte aus einer klaffenden Wunde am Schienbein.
Er warf mir einen kurzen Blick zu. »Du solltest Shelton holen. « Ben redet nie um den heißen Brei herum.
Freu mich auch, dich zu sehen.
Ich bemerkte, wie Hi hinter mir mit den Schultern zuckte. »Tory hat mich zuerst gesehen. Und hast du schon mal versucht, sie von etwas abzubringen?«
Ben verdrehte die Augen. Seine schönen dunklen Augen mit den unwiderstehlichen Wimpern.
Ich hob eine Braue, um ihnen zu zeigen, was ich von ihren Kommentaren hielt. »Ich hab meinen Erste-Hilfe-Kasten dabei. Lass mich dein Bein ansehen.«
Ben folgte meinen Bewegungen mit finsterem Blick. Ich durchschaute sein Machogehabe. Er hatte Angst, dass ich ihm wehtue, wollte sich das aber nicht anmerken lassen.
Mach dir bloß nicht in die Hose, du Memme.
Im Gegensatz zu uns anderen hat Ben bereits das magische Alter von sechzehn Jahren erreicht. Shelton wird diese Grenze im Herbst überschreiten, und Hi ist dieses Frühjahr fünfzehn geworden. Unser hartes erstes Highschooljahr haben wir drei also fast hinter uns, während Ben schon ein Jahr weiter ist.
Statt sich irgendein Fahrzeug mit Rädern zuzulegen, wie alle anderen, hat Ben sein gesamtes Geld in ein 16 Fuß langes Motorboot gesteckt, das er auf den Namen Sewee getauft hat.
Den Namen schon mal gehört? Ich auch nicht.
Ben behauptet, ein Nachfahre der Sewee-Indianer zu sein. Ich bin skeptisch, da die Sewee-Indianer schon vor einem Jahrhundert im Stamm der Catawba aufgingen. Wie kann man da heute noch seine Herkunft von ihnen ableiten? Aber bei Bens Temperament hat es keinen Sinn, mit ihm darüber zu diskutieren.
Ein Boot ist natürlich besser als nichts. Ein Boot, das kein Wrack ist, versteht sich.
»Gibt es einen Grund, warum du mit deinem schicken Flitzer bei Ebbe bis in die Bucht gefahren bist?« Ich tupfte sein Schienbein mit Jod ab. Die Wunde musste Gott sei Dank nicht genäht werden, sie sah nur hässlich aus.
»Ich wollte näher an die Küste rankommen, dort, wo die Fische sind. Hab die Wassertiefe falsch eingeschätzt.« Ben stockte der Atem, als ich ihm einen Verband anlegte.
»Und, hast du was gefangen?«, fragte ich unschuldig.
Bens Blick wurde noch finsterer. Ich hatte richtig geraten.
»Könntest dir übrigens mal ein Hemd überziehen«, stichelte Hi.
Ben starrte ihn mürrisch an.
Hi kehrte die Handflächen nach oben. »Ich meine, schließlich ist das hier ein nobler Bunker, und du machst echt einen ziemlich abgerissenen Eindruck.«
Nachdem Hi seine Meinung zur Kleiderordnung in unserem Klubhaus kundgetan hatte, schlenderte er zum einzigen Tisch des Raumes hinüber und setzte sich hin. Der klapprige Stuhl bog sich unter seinem Gewicht. Hi überlegte es sich anders und nahm doch lieber auf der Bank Platz.
Ben, dessen dichte schwarze Haare ihm über die Ohren reichen, lehnte eine muskulöse Schulter an die Wand des Bunkers. Von mittlerer Größe, ist nicht ein Gramm Fett an ihm. Seine Augen sind dunkelbraun, sein Teint changiert zwischen Kupfer und Bronze, je nach Jahreszeit.
»Ich dachte, Shelton könnte sich mal das Boot ansehen«, sagte er.
Wie diplomatisch. Er versuchte sich zu entschuldigen, ohne sich zu entschuldigen.
Das Boot ist sein Ein und Alles. Da ich spürte, dass er sich größere Sorgen um den Schaden machte, als er sich anmerken lassen wollte, akzeptierte ich sein Friedensangebot.
»Wenn jemand das reparieren kann, dann Shelton«, sagte ich.
Ben nickte.
Bens Mutter, Myra Blue, lebt auf dem Festland in einer nahe dem Yachthafen von Mount Pleasant gelegenen Eigentumswohnung. Ben und sein Dad teilen sich ein Appartement in unserem Block.
Obwohl Bens spärliche Äußerungen zu diesem Thema manche Frage aufwerfen, wird es von den meisten Leuten geflissentlich unter den Teppich gekehrt.
Meine Vermutung: Ben hat sich sein Motorboot angeschafft, weil er damit am schnellsten nach Mount Pleasant gelangt.
»Ich hab mein Handy dabei«, erklärte ich. »Ich schreib Shelton mal eine SMS.«
»Viel Glück mit der Verbindung«, entgegnete Hi, als ich zur Tür ging. Ben schwieg, doch spürte ich seinen dunklen Blick auf meinem Rücken.
Hi hatte recht. Der Netzempfang auf Morris Island ist reine Glückssache, und im Bunker hat man schon gar keine Chance. Nachdem ich gut zehn Minuten kreuz und quer durch die Dünen gestapft war, konnte ich endlich meine Nachricht an Shelton absetzen. Auf dem Weg nach unten hörte ich erfreut das Signal für eine empfangene Textmeldung. Shelton war unterwegs.
Als ich mich durch die Öffnung zwängte, dachte ich an Ben. Ein süßer Typ, keine Frage, aber mein Gott, war der launisch. Vor sechs Monaten war ich hierher gezogen. Seitdem hatten wir uns fast täglich gesehen, doch war er mir immer noch ein Rätsel.
Ob ich Ben lieber mochte, als mir eigentlich klar war? Vielleicht wäre das ja eine Erklärung für all unsere Wortgefechte. Ein getarnter Flirt? Oder war Ben nur der einzige Fisch in einem viel zu kleinen Becken?
Vielleicht war ich ja bescheuert, darüber auch nur nachzudenken.
Mit diesem aufmunternden Gedanken ploppte ich schließlich durch die Öffnung.
Hi döste vor sich hin. Ben hockte immer noch auf seiner Bank. Ich schlenderte zum schmalen Fenster, sprang auf den Sims und schmiegte mich an eine der alten Schießscharten für die Kanonen.
Von hier aus sah das vor dem Hafenbecken liegende Fort Sumter wie ein Camelot in Miniatur aus. Ein graues, heruntergekommenes Camelot. Meine Gedanken schweiften zu König Artus und seinen Rittern. Zu Kit. Zur armen Guinevere.
Zu meiner Mutter. Dem Unfall.
Jetzt tief Luft holen. Die Erinnerung daran war immer noch eine offene Wunde, in der ich nicht stochern wollte.
Mom wurde letzten Herbst von einem betrunkenen Autofahrer getötet. Ein Automechaniker namens Alvie Turnbauer missachtete eine rote Ampel und fuhr dem Corolla meiner Mutter direkt in die Seite. Sie war auf dem Weg nach Hause, nachdem sie eine Pizza abgeholt hatte. Turnbauer kam direkt von Sully’s Bar and Grill, wo er den Nachtmittag hindurch ein Bier nach dem anderen getrunken hatte.
Turnbauer kam ins Gefängnis. Mom auf den Resthaven Memorial Garden. Ich nach South Carolina.
Nein. Immer noch zu früh.
Ich dachte an andere Dinge. An Sandalen, die ich auf dem Markt gesehen hatte. An Farben, in denen ich mein Zimmer streichen könnte. An den dunklen Fleck auf meinem Backenzahn, von dem ich fürchtete, es könnte sich um Karies handeln.
Endlich dröhnte eine Stimme vom anderen Ende des Eingangs. »Hat hier jemand einen Mechaniker gerufen?«
Ich holte Shelton herein, der ein Benutzerhandbuch und eine Mappe in der Hand hielt, die von Papieren nur so überquoll. Ben lebte sofort auf.
Shelton Devers ist klein und dünn und trägt eine dicke, runde Brille. Seine schokoladenbraune Haut verdankt er seinem afroamerikanischen Vater, während seine Augenlider und Wangenknochen von seiner japanischen Mutter zeugen. Sheltons Eltern arbeiten beide auf Loggerhead Island, Nelson als IT-Spezialist, Lorelei als Tierarzthelferin.
»Eine kluge Entscheidung, einen Experten zurate zu ziehen. « Shelton hob beide Arme. »Sei gegrüßt, Bruder Ben. Ich werde dein Boot erretten.«
Ein Klaps auf die Schulter, dann verwandelte sich Sheltons feierlich-spöttische Miene in ein breites Grinsen. Mit einem schnaubenden Lachen kam Ben auf die Beine, begierig darauf, ans Werk zu gehen.
Kein Wunder, dass Ben unbedingt Sheltons Hilfe haben wollte. Er ist ein Genie, wenn es darum geht, irgendwas zusammenzusetzen. Shelton liebt das Beheben schwieriger Probleme, das Lösen kniffliger Fälle und das Dechiffrieren rätselhafter Codes. Auch alles mit Zahlen und Computern fasziniert ihn. Er ist sozusagen unser Technikguru. So nennt er sich jedenfalls selbst.
Sheltons Schwäche? Seine Angst vor allem, was kriecht und krabbelt. Ihm zuliebe haben wir stets eine Dose mit Insektenvertilgungsmittel im Bunker. Und zum Athleten des Jahres wird er auch nicht gewählt.
Ben und Shelton breiteten das Handbuch und die Papiere auf dem Tisch aus. Und schon im nächsten Moment zankten sie sich über die Ursache des Problems und seine Behebung.
Wer weiß? Hätten sie das Boot nicht repariert, wären wir an diesem Nachmittag nicht mehr nach Loggerhead Island gefahren. Dann wäre alles andere nicht geschehen.
Aber wir sind gefahren.
Und es geschah.