KAPITEL 31

Ich warf mich zu Boden, robbte zum Fenster und spähte über die Kante. Draußen sah ich zwei Streifenwagen. Drei Polizisten standen beieinander und suchten mit ihren Taschenlampen das Bibliotheksgrundstück ab.

»Wie …?« Mehr brachte ich nicht heraus. Die Szene war irreal.

Wir steckten in Megaschwierigkeiten. Das waren echte Bullen, die einem echten Einbruch nachgingen, der kein Kinderspiel war. Und diesmal konnten unsere Eltern uns beim besten Willen nicht aus der Patsche helfen.

»Stiller Alarm?« His Gesicht war in seinen Händen vergraben. »Bewegungsmelder? Übersinnliche Kräfte?«

»Oh, Mann, wir sind echt die miesesten Einbrecher aller Zeiten!« Shelton lag erschöpft auf dem Boden. Die Achterbahnfahrt der letzten Tage hatte ihm schwer zugesetzt. »Das bringt doch nichts. Ich geb auf!«

Ben gab ihm eine Kopfnuss, um zum Ausdruck zu bringen, was er von Sheltons Kapitulationsabsichten hielt. Dann schlich er in gebückter Haltung zur Tür, um einen Blick in die Eingangshalle zu werfen.

»Da sind noch zwei Bullen. Dort können wir nicht lang.«

Er schlich zum Notausgang am Ende des Raumes. Die Tür war nicht abgeschlossen.

Wie fliehende Ratten jagten wir die Stufen hinunter. Huschten im Erdgeschoss in den Raum hinein, durch dessen Fenster wir in das Gebäude gelangt waren.

Vom Haupteingang klirrte das Geräusch von Schlüsseln zu uns herüber. Scharniere kreischten. Stimmen.

Ich zog die Tür zu.

»Runter!«, zischte Shelton.

Ich fiel wie ein Stein zu Boden.

Ein Streifenwagen rollte mit knatterndem Polizeifunk heran. Ich verharrte unter unserem Fenster. Ein heller Strahl schoss durch die Scheibe. Rotes und blaues Licht wirbelte über die Wände.

Ich lag regungslos auf dem Boden und wagte kaum zu atmen. Dankte jedem Gott, den ich kannte, dass wir das Fenster wieder geschlossen hatten, durch das wir eingestiegen waren.

Der Scheinwerfer suchte jeden Winkel unseres Zufluchtsorts ab. Mein Herz donnerte wie eine Kesselpauke. Meine Wange drückte sich noch tiefer in den alten, muffigen Teppich hinein. Meine Nase war einem modrigen Bibliotheksgestank ausgesetzt, der sich in Jahrzehnten angesammelt hatte.

So verging eine Ewigkeit. Ich war mir sicher, dass wir entdeckt worden waren. Dieser Raum schien viel zu klein, um vier Teenager zu verbergen.

Endlich rollte der Streifenwagen weiter.

Keiner rührte sich vom Fleck.

Ein Rütteln am Türknauf. Ganz in der Nähe. Schritte setzten sich in Bewegung und verhallten auf dem Gang. Das Adrenalin drehte eine weitere Runde in meinem Körper.

Bullen. Hier drin. Sie gingen von Raum zu Raum.

Die Tür hatte kein Schloss. Ich winkte wie wahnsinnig zu den anderen herüber.

Sie verstanden die Botschaft.

Die blauen und roten Lichter verblassten. Der Streifenwagen bog um die Ecke, ließ die Straße im Dunkeln zurück.

Ben sprang auf und schob das Fenster nach oben. Ich zwängte mich durch die Öffnung, rannte über die Fahrbahn und verkroch mich auf der anderen Seite hinter einem Busch.

Hi folgte. Dann Shelton. Zuletzt Ben. Ich sah, wie er darum kämpfte, das Fenster zu schließen. Schließlich hatte er es so weit heruntergezogen, dass nur noch ein winziger Spalt offen stand.

Mein Puls drehte durch.

Kommt schon! Lauft!

Ben gab auf und hastete unserem Busch entgegen. Als er mitten auf der Straße war, rollte ein weiterer Streifenwagen mit flammenden Scheinwerfern um die Ecke.

Ben brach einfach durch den Busch hindurch und rannte weiter. Shelton, Hi und ich spurteten hinter ihm her. Niemand warf einen Blick zurück.



Orientierungslos jagten wir durch Dunkelheit und Nebel. Selbst Hi, dessen Angst vor einer Verhaftung seine physischen Nachteile mehr als wettmachte.

Zwei Blocks von der Bibliothek entfernt gellte uns eine schrille Sirene in den Ohren. Ein Polizeiwagen sauste direkt an uns vorbei. Ob es am Nebel lag? Jedenfalls nahmen die Polizisten die vier keuchenden Teenies, die kopflos davonstürzten, nicht wahr.

Wir gaben weiterhin Vollgas. Ein Jammer, dass keiner unsere Hundertmeterzeit stoppte. Vier persönliche Bestzeiten wären uns sicher gewesen.

Zehn Minuten später und aus jeder Pore schwitzend, sprangen wir an Bord der Sewee.

Ben warf den Motor an, Shelton machte die Leinen los, und im nächsten Moment hielten wir Kurs auf die neblige Bucht. Das Wasser war so eben und glatt wie Glas. Still und unbewegt. Ein willkommener Kontrast zur Turbulenz der letzten Stunde.

Ich genoss die friedvolle Stille, als Shelton losprustete, um anschließend in sich hineinzukichern. »Wir sind zwar lausige Einbrecher, aber geniale Ausbrecher!«

Sheltons Lachen war ansteckend. Er wieherte und gluckste, bekam keine Luft mehr und musste husten.

Was alles nur noch lustiger machte. Auch ich fing zu gackern an. Selbst Ben johlte gegen den Wind, während er das Steuer hielt. Die aufgestaute Spannung entlud sich in die Nacht.

Ich rückte an Hi heran.

»Alles okay?«

Als Hi aufblickte, waren seine Augen zusammengekniffen und sein Kiefer irgendwie verdreht. Er wollte etwas sagen, doch seine Lippen erstarrten. Für einen Augenblick schimmerten seine Pupillen im Mondlicht. Dann rollten sie nach hinten.

»Hi!«, schrie ich.

Bewusstlos kippte er nach vorn. Ich konnte ihn im letzten Moment festhalten, sonst wäre er mit dem Kopf auf das Deck geknallt.

»Ben!«, rief ich. »Mit Hi stimmt was nicht!«

Ben stellte den Motor ab und eilte mir zu Hilfe. Obwohl er bewusstlos war, atmete Hi ruhig und gleichmäßig.

»Hat er sich irgendwo den Kopf gestoßen?« Ich versuchte mich zu erinnern, wie man sich bei einer Gehirnerschütterung verhalten sollte.

»Hiram, wach auf, Mann!« Ich tätschelte ihm die Wangen und rieb dann seine Arme. Nicht gerade wie vom Web-Doktor empfohlen.

His Lider glitten langsam zurück, offenbarten Augen, die nicht normal aussahen. Ihre hellbraune Iris war verschwunden und goldenen Kugeln gewichen, in deren Mitte sich pechschwarze Pupillen befanden.

Unwillkürlich wich ich zurück, stolperte und landete auf den Deckplanken.

Was war das?!?!?

»Irgendwas ist mit seinen Augen«, sagte ich.

Ben und Shelton starrten in meine Richtung. Keiner von ihnen hatte sehen können, was ich gesehen hatte. Sie traten ganz nah an Hi heran, machten sich auf das Schlimmste gefasst.

Hi blinzelte. Setzte sich auf. Seine Iris hatte ihre normale kastanienbraune Farbe wiedererlangt.

»Wie merkwürdig …« Hiram schüttelte den Kopf, versuchte seine Gedanken zu ordnen. »Ich war wohl kurz weggetreten. «

»Yep!«, antwortete Shelton. »Alles okay? Kannst du normal sehen?«

Hi ließ seine Augen kreisen. »Natürlich.« Dann fragte er mit ängstlich heller Stimme: »Wieso? Ist was mit meinen Augen? Ist mir eins rausgefallen? Sagt schon!«

Shelton und Ben warfen mir verstohlene Blicke zu.

»Nichts, Hi, es ist meine Schuld«, sagte ich. »Das muss eine optische Täuschung gewesen sein. Entschuldige! Ich wollte dich nicht erschrecken.«

Seine Augen sahen tatsächlich wieder ganz normal aus. Was auch immer ich gesehen hatte, es war verschwunden. Oder hatte nie existiert.

»Tja, so ist das, wenn eine Coachpotato einen Langstreckenlauf absolviert«, frotzelte Shelton.

»Lasst uns zusehen, dass wir nach Hause kommen.« Ben ging wieder zum Steuerrad. »Es ist schon nach zwei und morgen ist Schule.«

»Tory, ist doch alles in Ordnung, oder?«, vergewisserte sich Hi ein weiteres Mal. Ich hatte ihm einen heftigen Schrecken eingejagt.

»Und ob! Wir haben einen Fingerabdruck und sind nicht erwischt worden. Echt gut gelaufen, würde ich sagen.«

Hi lehnte sich zurück und schloss die Augen. »Komisch«, sagte er. »Ich hab vorher noch nie das Bewusstsein verloren. Und jetzt fühle ich mich großartig.«

Ich versuchte, den Gedanken abzuwehren, aber das Bild war mir plötzlich durch den Kopf geschossen. Goldene Iris, von schwarzen Pupillen gespalten. Unergründlich. Ursprünglich. An eine andere Kreatur erinnernd.

Plötzlich fühlte ich mich ausgelaugt, nahm alles nur noch vage und verzerrt wahr. Die Welt schien sich zu dehnen, ehe sie blitzartig wieder aussah wie zuvor. Energie pulste durch meinen Körper.

Ich versuchte mich zu bewegen. Schaffte es nicht. Kauerte hilflos an meinem Platz. Meine Lider suchten einander.

Tief in meinem Innern wurden alte Verbindungen gelöst und neu zusammengesetzt. Eine Wiedergeburt.

Meine Augen sprangen auf. Etwas hatte sich verändert. Ich spürte es in jeder Faser meines Körpers. Was war geschehen? Ich horchte in mich hinein, versuchte die Veränderung an irgendwas festzumachen, fand aber nichts.

Ich fühlte mich leicht. Stark. Die Müdigkeit war einer Energie gewichen, die mich bis ins Mark erfüllte.

Das Boot flog nur so über das ruhige Wasser. Ein fast voller Mond stand hoch über unseren Köpfen. Ich starrte ihn verzückt an, bezaubert von seiner Schönheit. Ich fühlte einen Drang, den ich nie zuvor gespürt hatte.

Ich spähte zu Hi hinüber. Auch er blickte himmelwärts. Mit glühenden Augen. Ich wusste, dass er denselben Sog spürte wie ich.

Unwillkürlich kam mir ein Name über die Lippen.

»Whisper«, sagte ich. Warum?

»Whisper.«

Der Name hing für einen Moment in der Luft, ehe er im Dunkel der milden Sommernacht verschwand.

VIRALS - Tote können nicht mehr reden - Reichs, K: VIRALS - Tote können nicht mehr reden
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