KAPITEL 26
»Wir sollten sofort zur Polizei gehen!«
Wiederholte Hi zum dritten Mal. Er hatte die Arme verschränkt und drückte den Rücken an die Wand des Bunkers. »Wir stecken schon viel zu tief in der Sache drin.«
»Womit denn?«, fragte Shelton. »Du hast unsere einzigen Beweise verloren.«
Hi blickte für einen Moment starr vor sich hin. Dann sagte er sehr langsam: »Ich bin gerade durch einen stockdunklen Wald gerannt, nachts, während Killer auf mich geschossen haben. Dann musste ich in den Ozean springen und zum Boot schwimmen.« Er öffnete seine Hände. »Tut mir leid, dass ich dabei irgendwie mein iPhone verloren habe.«
»Ich weiß, ich weiß«, entgegnete Shelton. »Aber du hast nun mal die Fotos gemacht. Und jetzt haben wir nichts, was wir den Bullen zeigen können.«
»Da liegt ein verdammtes Skelett im Wald!«, brach es aus Hi heraus. »Das dürfte ja wohl reichen, oder?«
Nach unserer Flucht hatte Ben die Sewee direkt zum Bunker gesteuert.
Wir hatten einiges zu diskutieren und mussten ungestört sein.
Ich saß auf dem Boden und streichelte Coop über den Rücken. Der letzte Beutel mit Kochsalzlösung war leer, also hatte ich ihm die Kanüle herausgezogen und das Trichterhalsband abgenommen. Lustvoll kaute er auf dem verhassten Ding herum.
Coop sah besser aus, hatte sogar ein bisschen feste Nahrung gefressen. Auch seine Energie war zurückgekehrt. Ich bemühte mich, gelassen zu bleiben, aber es gelang mir nicht. Immerhin half mir Coops Besserung, die Schrecken des heutigen Abends zu verarbeiten.
»Warum denn heute?«, fragte Ben. »Morgen ist auch noch ein Tag. Und so spät will ich meinem Vater keinen unnötigen Schreck einjagen.«
Hi sah fassungslos aus. »Hast du unnötiger Schreck gesagt? Hast du das Skelett vergessen?« Er blickte sich ungläubig um, auf der Suche nach Unterstützung. Doch in diesem Punkt war ich mit Ben einer Meinung.
»Ben hat recht«, sagte ich. »Wenn wir heute Abend mit der Wahrheit herausrücken, werden unsere Eltern uns zwingen, alles hundert Mal zu wiederholen. Und dann müssen wir nach Folly Beach aufs Revier und die Bullen ebenfalls überzeugen. Ich bin einfach zu müde, um mir heute noch Löcher in den Bauch fragen zu lassen. Morgen früh reicht das auch noch.«
»Ist das Revier in Folly so spät überhaupt noch besetzt?«, fragte Ben.
Keiner wusste darauf eine Antwort. Folly Beach war ein verschlafenes Kaff.
»Die Jungs sind nicht gerade vom CSI«, fügte Shelton hinzu. »Ohne Beweise werden sie uns nicht glauben, selbst wenn unsere Eltern dabei sind.«
Ich nickte. »Am Morgen sind sie bestimmt viel zugänglicher. «
»Okay«, sagte Hi. »Die kleine Heaton wird schon nicht abhauen.« Hi zuckte zusammen, nachdem er das gesagt hatte. Das schlechte Gewissen stand ihm ins Gesicht geschrieben. Ich winkte ab, als er zu einer Entschuldigung ansetzte. Wir waren alle müde.
»Wir müssen uns auf eine bestimmte Version einigen«, sagte ich. »Wir sollten so weit wie möglich bei der Wahrheit bleiben und mit keinem Wort auf den Einbruch im Labor eingehen. Lasst uns einfach sagen, dass die erste Erkennungsmarke gut leserlich war, als wir sie gefunden haben.«
Die Erkennungsmarken!
Ich durchsuchte meine Taschen. Leer. Wo konnten sie nur sein?
Oh nein!
Jetzt fiel es mir ein. Ich hatte sie beide in meinen Seesack getan. Der immer noch im Wald lag.
»Verdammt! Ich hab die Marken zusammen mit dem Werkzeug im Wald liegen lassen.«
»Und wenn schon«, sagte Ben. »Die können ja eine DNA-Analyse von den Knochen machen.«
Ich schüttelte den Kopf. »Wenn die Polizisten die erste Marke finden, werden sie vielleicht sehen, dass sie von jemand gereinigt wurde. Karsten wird das auf jeden Fall bemerken. «
»Haben wir den Sonicator gereinigt, bevor wir abgehauen sind?«, fragte Shelton. »Wenn nicht, werden sie bestimmt zwei und zwei zusammenzählen.«
»Morgen führen wir die Polizisten zum Grab«, sagte Ben. »Wenn wir die Lichtung erreichen, schnappst du dir sofort deine Tasche, Tory. Die Erwachsenen werden wie gebannt auf das Skelett starren und dir erst mal keine Aufmerksamkeit schenken.«
»Gute Idee«, entgegnete Shelton. »Die Bullen brauchen ja auch nicht beide Marken.«
»Noch eine Kleinigkeit.« His Finger trommelten auf die Bank. »Wer in aller Welt wollte uns eigentlich töten!?!«
Genau das Thema, das ich vermeiden wollte.
»Steiger dich da bloß nicht rein«, mahnte Ben. »Mich reinsteigern?« His Stimme überschlug sich. »Ein Terrorkommando hat gerade versucht, mir ein Loch ins Hirn zu pusten. Tut mir leid, wenn ich so empfindlich bin, aber jetzt frage ich mich, was zum Teufel die auf der Insel zu suchen hatten.«
»Ich glaube nicht, dass sie uns gefolgt sind«, sagte Shelton. »Schließlich haben wir unser eigenes Boot genommen.«
»Vielleicht sind sie zufällig auf uns gestoßen«, entgegnete Ben. »Könnten auch Affenfänger gewesen sein.«
An diese Möglichkeit hatte ich noch gar nicht gedacht. Sicher gab es auch einen Schwarzmarkt für gestohlene Affen. Konnte die Antwort so einfach sein?
Shelton schüttelte den Kopf. »Einer von den Kerlen hat ›Da drüben!‹ gerufen. Der meinte bestimmt uns.«
»Nicht unbedingt«, entgegnete ich. »Vielleicht hat er auch nur die Lichtung gemeint. Könnte ja ein bekannter Affentreffpunkt sein.«
»Ooooder …« Hi zog das Wort in die Länge. »Sie wussten, dass das Skelett dort liegt. Und warum wir dort waren.«
Eine furchterregende Vorstellung. Konnte wirklich jemand von unserem Vorhaben gewusst haben? Ich zermarterte mir den Kopf.
»Lasst uns das morgen angehen«, sagte ich. »Ich werde Kit beim Frühstück davon erzählen. Dann komme ich später bei euch vorbei.«
Dreifaches Kopfnicken.
»Und denkt dran.« Ben zählte seine Finger ab. »Wir haben die Erkennungsmarke gefunden, waren in der Bibliothek und haben die Satellitenfotos angeschaut. Verstanden?«
Doch Hi war noch nicht fertig. »Um das noch mal festzuhalten: Ihr geht viel zu leichtfertig mit der Tatsache um, dass jemand versucht hat, uns umzubringen.«
»Lass gut sein, Hi!« Ich hatte genug für diesen Abend. »Gleich morgen früh.«
Hi runzelte die Stirn, schwieg aber. Endlich.
Da niemand mehr etwas zu sagen hatte, machten wir uns auf den Weg zu Bens Boot. Ich hoffte, ein wenig schlafen zu können.
Der nächste Morgen würde sehr turbulent werden.