KAPITEL 4
»Gib’s einfach zu, wenn du das Problem nicht findest.« Bens Stimme hatte einen gereizten Unterton. »Nicht dass noch mehr kaputtgeht. «
Shelton war über Bens Mangel an Vertrauen offenbar ziemlich verärgert. Sein Körper war angespannt. Zumindest die untere Hälfte. Kopf und Schultern steckten im Boot.
»Ich gehe Schritt für Schritt die verschiedenen Möglichkeiten durch.« Sheltons Kopf tauchte wieder auf. »Also immer mit der Ruhe.« Mit dem Schaltplan in der Hand tauchte er wieder zwischen die Kabel des Elektrosystems hinab. Ben stand über ihm und hatte die Arme verschränkt.
»Kann ich irgendwas für euch tun?«, fragte ich.
»Nein.« Zwei Stimmen, eine Antwort.
Dann eben nicht.
Während Hi immer noch im Bunker herumlungerte und Ben und Shelton sich am Boot in die Haare kriegten, saß ich am Strand. Ging ihnen aus dem Weg.
Vor unserem Klubhaus zieht sich eine geschwungene Linie flacher Felsen bis ins Meer hinein und bildet eine kleine, geschützte Bucht. Die Felsen schirmen die Küstenlinie ab, entziehen Bens Boot den Blicken vorbeifahrender Schiffe und sorgen vor allem dafür, dass wir einen eigenen, knapp fünf Meter langen Privatstrand haben.
Ich betrachtete den schmalen Pfad, der zu unserem Unterschlupf führt. Selbst aus so geringer Entfernung war die Öffnung nicht zu erkennen. Einfach unglaublich.
Shelton sagt, unser Bunker sei während des Amerikanischen Bürgerkriegs ein Teil des als Battery Gregg bekannten Systems von Schützengräben gewesen. Einst errichtet, um den Hafen von Charleston zu schützen, ist dieses Labyrinth in weiten Teilen unerforscht geblieben.
Das ist unser Platz. Wir müssen ihn schützen.
Ich wurde von aufgeregten Stimmen aus meinen Gedanken gerissen.
»Ist die Batterie eingeschaltet?«
»Natürlich. Aber es riecht nach Benzin. Vielleicht ist der Motor abgesoffen. Geben wir ihm eine Minute Zeit.«
»Nein, nein, nein. Vielleicht hat der Motor nicht genug Benzin. Benutz die Gummiballpumpe.«
»Das kann nicht dein Ernst sein. Pass lieber auf, dass der silberne Kippschalter gedrückt ist, sonst passiert überhaupt nichts.«
Ich hatte die Nase voll, fühlte mich nutzlos und beschloss, Hi erneut Gesellschaft zu leisten. Egal, wie heiß es draußen war, der Bunker blieb immer angenehm kühl. Als ich den Pfad zum Bunker halb zurückgelegt hatte, hörte ich, wie der Außenbordmotor brüllend zum Leben erwachte, gefolgt von den Jubelschreien der Hobbymechaniker. Ich machte wieder kehrt. Ben und Shelton klatschten sich enthusiastisch ab und grinsten wie Geisteskranke.
»Gut gemacht, ihr Genies«, sagte ich. »Ich bin beeindruckt.«
Doppeltes Echte-Kerle-Nicken. Männer reparieren Boot! Männer sind stark!
»Und jetzt?«, fragte ich in der Hoffnung, die beiden davon abzuhalten, sich auf die Brust zu trommeln.
»Wir sollten eine kleine Spritztour machen, um uns zu vergewissern, dass alles in Ordnung ist«, schlug Ben vor. »Vielleicht nach Clark Sound?«
Keine schlechte Idee. Wir hatten ja sowieso mit dem Boot fahren wollen. Dann kam mir ein anderer Gedanke.
»Wie wär’s mit Loggerhead?« Vielleicht konnten wir die Wolfshunde ausfindig machen. Das Rudel war schon seit Tagen nicht mehr gesehen worden.
Bekenntnis: Ich bin ein Hundefan. Ich liebe Hunde, vielleicht mehr als Menschen. Das Vielleicht kann man eigentlich streichen. Hunde ziehen nicht hinter deinem Rücken über dich her. Schikanieren dich nicht, weil du die Jüngste in der Klasse bist. Fahren auch keine Autos und werden getötet.
Hunde sind aufrichtig. Was sich über die meisten Menschen nicht sagen lässt.
»Warum nicht?«, entgegnete Shelton. »Ich würde mir auch gern mal wieder die Affen ansehen.«
Ben zuckte die Schultern. Ihm war die Fahrt wichtiger als das Ziel.
»Ich kann gar nicht glauben, dass ihr Einfaltspinsel das hinbekommen habt.« Hi bahnte sich seinen Weg zum Strand hinunter.
»Wieso? Zu viel Hirnschmalz schadet nur.« Shelton, immer noch enthusiastisch, machte ein weiteres Mal High five mit Ben.
»Verstehe.« Hi streckte sich gähnend. »Ich nehme an, es waren eingehende technische Kenntnisse nötig, um den Schaden zu beheben. Ihr habt doch bestimmt nicht nur ein Kabel geflickt oder einen Schalter umgedreht.«
Ben errötete. Shelton war plötzlich sehr an seinen Turnschuhen interessiert.
1:0 für Hi.
»Hättest du Lust auf eine kleine Tour nach Loggerhead?«, fragte ich.
»Klar. Affen sind doch immer lustig. Was soll da schon schiefgehen?« Hi machte eine Pause. »Es sei denn, ein Affe trachtet dir nach dem Leben, ist drogenabhängig oder so was.«
Er ließ sich in das Boot fallen und ignorierte unsere Blicke.
Kurz darauf schossen wir über die schäumenden Wellen. Wirklich extrem cool. Selbst für jemand, der so viel Zeit auf dem Wasser verbringt wie ich.
Im Gegensatz zu den meisten anderen Menschen müssen wir auf unserem Schulweg das Schiff benutzen. Zwei Mal am Tag, quer durch das Hafenbecken. Montag bis Freitag. Es ist der einzig sinnvolle Weg für uns.
Meine Clique und ich besuchen die Bolton Preparatory Academy in Downtown Charleston. Todschicke Gegend, die Häuser stammen aus der Zeit vor dem Bürgerkrieg, und an den Bäumen hängt Louisianamoos. Mit ihren von Efeu bewachsenen Mauern und von Tauben verschandelten Statuen ist die Bolton Prep genauso High Class wie die ganze Gegend.
Doch ich sollte mich nicht beklagen. Es handelt sich um eine der besten Privatschulen im ganzen Land. Kit allein hätte das Schulgeld niemals aufbringen können, aber die Universität kümmert sich auch darum. Eine weitere Vergünstigung für UC-Eltern, die auf Loggerhead arbeiten.
Unser klitzekleines Problem: Die anderen Schüler können uns nicht ausstehen. Sie kommen alle aus stinkreichen Familien und bringen uns das auch ständig in Erinnerung. Sie wissen genau, wie wir an diese Schule gelangt sind und warum wir dort jeden Tag als Gruppe in Erscheinung treten. Ich habe schon den Überblick über all die Ausdrücke verloren, die sie uns ständig an den Kopf werfen.
Boatpeople. Sozialfälle. Arme Schlucker.
Lackaffen. Blasierte Armleuchter. Snobs.
Ehrlich gesagt wäre ich an diesem Tag überall lieber gewesen als in der Schule.
Wir Morris-Insulaner halten zusammen. Die Jungs klebten schon aneinander, als ich dort ankam. Vor allem Shelton und Ben. Hi ist schon ein komischer Kauz. Manchmal habe ich das Gefühl, dass niemand so recht was mit ihm anfangen kann, aber er hält uns definitiv auf Trab.
Die Jungs haben mich sofort akzeptiert. Sie können es sich ja auch nicht leisten, besonders wählerisch zu sein. Außerdem – falls ich mich mal selber loben darf – war von Anfang an klar, dass ich ein helles Köpfchen bin. So wie sie.
Im Gegensatz zu unseren Mitschülern macht es uns Spaß, neue Dinge zu lernen. Das muss an unseren Eltern liegen. Die Begegnung mit Gleichaltrigen, die sich auch für wissenschaftliche Sachen interessieren, war für mich, als hätte ich einen vergrabenen Schatz gefunden.
Kit war zwar nicht gerade begeistert, dass meine einzigen drei Freunde allesamt Jungs sind, aber ich habe ihn darauf aufmerksam gemacht, dass es auf Morris keine anderen Highschoolschüler gibt. Und dass er all ihre Eltern persönlich kennt. Dem konnte er nichts entgegensetzen. Whitney, Kits Freundin, ist die Einzige, die immer noch diese Platte auflegt.
Obwohl wir uns also erst mal aus praktischen Gründen angefreundet haben, sind wir inzwischen eng miteinander verbunden. Wie eng wir einst miteinander verbunden sein würden, konnte ich damals natürlich nicht ahnen.
Ben nahm den Umweg nach Loggerhead, um dem seichten Wasser auszuweichen. Es dauert zwar länger, aber der direkte Weg zwischen den Sandbänken hindurch ist bei Ebbe einfach zu riskant.
Shelton stand vorne und hielt nach Delfinen Ausschau, während Hi und ich hinten saßen.
Bug und Heck, sagte ich mir. Die Jungen verbrachten Stunden damit, nautische Begriffe zu lernen. Zukünftige Piraten? Es heißt ja, dass es sie wieder gibt.
Hin und wieder stieg der Bug in die Höhe und klatschte krachend auf die Wasseroberfläche. Dann sprühte die Gischt über uns hinweg, salzig und kühl. Ich liebte jeden einzelnen Wassertropfen.
Ich spürte das Lächeln auf meinem Gesicht. Es würde doch noch ein schöner Tag werden.
Nach einer zwanzigminütigen Fahrt über das offene Meer konnten wir am Horizont einen blaugrünen Fleck ausmachen. Er wurde größer und offenbarte sich als Landmasse.
Wir fuhren näher heran, drosselten das Tempo und glitten an einem zuckerweißen Strand entlang.
Der Sandstreifen war gut drei Meter breit, dahinter erhoben sich Bäume mit hohem Blätterdach. Das dichte Unterholz verdeckte jede Sicht auf das Innere der Insel. Wellen leckten am Strand. Insekten und Frösche führten eine Summ-und-Quak-Symphonie auf. Ab und zu raschelte ein Zweig und schrie irgendein Tier über unseren Köpfen.
Nichts war zu sehen, das von Menschenhand geschaffen worden wäre.
Das Boot schaukelte sanft in der Dünung, während wir schweigend die Landschaft in Augenschein nahmen.
Eine geheimnisvolle Stimmung nahm uns gefangen. Etwas Ursprüngliches. Ungezähmtes. Wildes.
Loggerhead Island.