KAPITEL 2
Draußen wartete ich auf Hi.
Ich stand vor der Front unserer Wohnanlage. Die Sonne brannte auf die Rasenfläche, die etwa halb so groß wie ein Fußballfeld ist. Der einzige grüne Fleck weit und breit.
Jenseits unseres Grundstücks erheben sich drei stolze Palmettopalmen aus dem Sand, die der ganzen Szenerie vermutlich ein bisschen Charakter verleihen sollen. Ohne sie hätte man von hier aus einen freien Blick aufs Meer.
Ich schirmte meine Augen vor der Sonne ab und blinzelte in westliche Richtung. Ein sanfter Morgendunst hatte einen feinen Schleier über das Meer gelegt. Irgendwo da draußen ist Loggerhead, dachte ich. Und Kit, der ein weiteres Wochenende seiner Arbeit widmete.
Aus den Augen, aus dem Sinn. Wie auch immer. Er verbringt ohnehin kaum Zeit mit mir.
Hi ließ weiter auf sich warten.
Es war zwar erst Mai, aber die Temperaturen lagen bestimmt schon über 30 Grad. Die Luft war gesättigt vom Duft nach Gras, salzigen Sümpfen und heißem Beton.
Ich gebe zu, dass ich zu heftigen Schweißausbrüchen neige. Auch in diesem Moment. Wie halten das diese Südstaatler nur aus?
In Massachusetts sind die letzten Frühlingstage immer noch angenehm kühl. Perfekt, um am Kap zu segeln. Das waren Moms Lieblingstage im ganzen Jahr gewesen.
Endlich tauchte Hi prustend am Rande des Vorplatzes auf. Haare und Hemd waren schweißnass. Man musste kein Hellseher sein, um zu erkennen, dass er sehr erregt war.
Hi schlurfte auf mich zu, offenbar total aus der Puste. Ehe ich etwas sagen konnte, hob er die Hand, um mir Einhalt zu gebieten. Dann stützte er die Hände auf die Knie und versuchte zu Atem zu kommen.
»Einen.« Keuch. »Moment.« Keuch. »Bitte.«
Ich dachte, er würde jeden Moment ohnmächtig werden.
»Hier raufzurennen … war ’ne Schnapsidee.« Er hechelte nach Luft, aber es klang wie ein Schluckauf. »Sind bestimmt 40 Grad … meine Shorts platzt gleich vor Hitze.«
Typisch Hi, nie um eine geistreiche Bemerkung verlegen.
Hiram Stolowitski wohnt drei Einheiten von Kit und mir entfernt. Sein Vater, Linus Stolowitski, ist Labortechniker auf Loggerhead. Ein ruhiger, würdevoller Mann. Hi kommt gar nicht nach ihm.
»Lass uns von hier verschwinden.« Hi schnappte immer noch nach Luft, wenn auch etwas weniger als zuvor. »Wenn meine Mutter mich sieht, schleppt sie mich gleich in den Tempel oder so was.«
His Befürchtung entsprang keiner Paranoia. Mrs Stolowitskis gelegentliche Frömmigkeitsanfälle ziehen häufig eine vierzigminütige Autofahrt zur Kahal Kadosh Beth Elohim Synagoge in Downtown Charleston nach sich. Wir Morris-Insulaner mögen in der Gottesfrage nicht unbedingt einer Meinung sein, doch eines ist gewiss: Wir leben einfach zu weit in der Peripherie, um regelmäßig die Kirche oder die Synagoge zu besuchen.
Fairerweise sollte ich hinzufügen, dass die Presbyterianische Kirche, der ich eigentlich angehöre, um einige Meilen näher von hier entfernt liegt als His Synagoge. Kit und ich haben ein Mal an einem Gottesdienst teilgenommen. Nach weniger als zehn Sekunden war mir klar, dass er zum ersten Mal dort war. Wir haben keinen zweiten Versuch unternommen.
Aber der Große Junge da oben soll ja sehr verständnisvoll sein. Ich hoffe es jedenfalls.
Ruth Stolowitski zeichnet auch für das Neighborhood-Watch-Programm der Gemeinde verantwortlich, die unseren Wohnblock nicht aus den Augen lässt. Unnötig? Absolut. Aber das sollte man Ruth lieber nicht sagen. Sie ist davon überzeugt, dass nur ständige Wachsamkeit Morris Island vor einer Welle der Gewalt bewahren kann. In meinen Augen ist unsere totale Isolation in dieser Hinsicht völlig ausreichend. Wer sollte uns schon ausrauben? Eine Krabbe auf Crack? Eine Junkie-Qualle?
Um dem allgegenwärtigen Blick seiner Mutter zu entgehen, zogen Hi und ich uns auf die Seite des Gebäudes zurück, die gnädigerweise im Schatten lag. Die Temperatur fiel sofort um zehn Grad.
Hi ist nicht dick, aber auch nicht gerade schlank. Stämmig? Untersetzt? Irgend so was. Mit seinen wallenden braunen Haaren und einer Neigung zu geblümten Hemden fällt er in jeder größeren Gruppe aus dem Rahmen.
An diesem Morgen trug Hi ein Hemd, das gelbe und grüne Weinranken zierten. Darunter eine hellbraune Shorts, deren linke Tasche ausgerissen war. Wehe, wenn seine Mutter das sah!
»Geht’s wieder?«, fragte ich. His Gesichtsfarbe wechselte von Pflaume zu Himbeere.
»Mir geht’s glänzend«, antwortete er, immer noch ein wenig kurzatmig. »Danke der Nachfrage. Ich weiß deine Besorgnis zu schätzen.«
Hi Stolowitski ist ein Meister der Ironie. »Was hat dich dazu gebracht, den weiten Weg vom Bootsanleger bis hierher zu laufen?« Noch während die Worte meinen Mund verließen, wurde mir die Hinfälligkeit meines eigenen Joggingplans bewusst.
»Ben ist mit seinem Boot verunglückt, als er im Schooner Creek nach Flusstrommlern geangelt hat. Er ist in zu seichtes Wasser geraten und auf Grund gelaufen.« Hi war wieder zu Atem gekommen. Die Verzweiflung stand ihm ins Gesicht geschrieben. »Er wurde durch die Luft geschleudert und hat sich dann irgendwie das Bein aufgeschlitzt. Sieht ziemlich böse aus.«
Ben Blue wohnt ebenfalls in unserem Block, ist aber auch manchmal bei seiner Mutter in Mount Pleasant. Ich hatte auf Ben und Hi gewartet, um mit ihnen nach Folly Beach zu fahren.
»Wie böse? Wann? Wo ist er?« Vor lauter Besorgnis brabbelte ich wild drauflos.
»Er hat das Boot zum Bunker manövriert, wo ich war, aber dann ist der Motor abgesoffen.« Er lächelte reumütig. »Also bin ich mit dem alten Kanu hierher gepaddelt, um Shelton zu finden. Ich dachte, das ginge schneller. Blöde Idee. Das hat ewig gedauert.«
Jetzt wusste ich, warum Hi so erschöpft war. Kanufahren auf dem Meer ist extrem anstrengend, vor allem, wenn man gegen die Strömung ankämpfen muss. Der Bunker ist nur anderthalb Meilen von hier entfernt. Er hätte laufen sollen. Aber das rieb ich ihm nicht unter die Nase.
»Und jetzt?«, fragte er. »Sollen wir Mr Blue Bescheid sagen? «
Bens Vater, Tom Blue, ist für die Schiffsverbindung zwischen Morris und Loggerhead Island verantwortlich und kümmert sich außerdem um die Fähre, die zwischen Morris und Charleston verkehrt.
Wir schauten uns an. Ben besitzt seinen kleinen Flitzer seit knapp zehn Monaten. Und sein Vater ist ein Pedant, wenn es um die Sicherheit an Bord geht. Wenn er etwas von dem Unfall erfuhr, dann war Ben sein Lieblingsspielzeug gleich wieder los.
»Nein«, antwortete ich. »Wenn Ben die Hilfe seines Vater wollte, dann hätte er dir das gesagt.«
Sekunden verstrichen. Am Strand schrien sich die Möwen die Nachrichten des Tages zu. Über unseren Köpfen legte sich eine Schar von Pelikanen mit weit gespannten Flügeln in die morgendliche Brise.
Ich traf eine Entscheidung. Ich wollte versuchen, Ben eigenhändig zusammenzuflicken. Doch wenn die Wunde zu groß sein sollte, würden wir ärztliche Hilfe in Anspruch nehmen müssen – zornige Eltern hin oder her.
»Wir treffen uns auf dem Weg.« Ich war schon unterwegs zum Hauseingang, um meinen Erste-Hilfe-Kasten zu holen. »Lass uns mit den Fahrrädern zum Bunker fahren.«
Fünf Minuten später jagten wir auf einem harten Sandstreifen, der sich zwischen den hohen Dünen dahinzieht, in nördliche Richtung. Auf meinen erhitzten Wangen fühlte sich der Wind angenehm kühl an. Meine wie immer hoffnungslos verfilzten Haare wehten wie eine rote Fahne hinter mir her.
Zu spät dachte ich an Sonnencreme. Meine blasse New-England-Haut kennt nur zwei Färbungen: weiß oder krebsrot. Und Sonnenlicht lässt die Anzahl meiner Sommersprossen regelrecht explodieren.
Okay, ich bekenne: Die Modellagenturen stehen nicht gerade Schlange, um mich unter Vertrag zu nehmen, aber ich sehe wirklich nicht übel aus. Ich bin ziemlich groß und habe zudem die feingliedrige Gestalt meiner Mutter geerbt. Das zumindest hat sie mir hinterlassen.
Unser Weg schlängelte sich der Landspitze unserer Insel entgegen, der Cummings Point heißt. Linkerhand die hohen Dünen, zur Rechten der abfallende Strand, dann das Meer.
Hi trat hinter mir in die Pedale und schnaufte wie eine Dampflokomotive.
»Soll ich langsamer fahren?«, rief ich über die Schulter.
»Versuch’s, und ich fahr dich über den Haufen«, schrie er. »Ich bin Lance Armstrong.«
Wenn du Lance Armstrong bist, bin ich Lara Croft, dachte ich und drosselte so langsam das Tempo, dass er es nicht merkte.
Da ein Großteil von Morris Island aus Marschland oder Dünen besteht, kommt nur die nördliche Hälfte als Bauland infrage. Hier wurde Fort Wagner errichtet. Desgleichen die anderen alten Militäreinrichtungen, überwiegend simple Schützengräben, Furchen und Erdlöcher.
Mit unserem Bunker sieht’s jedoch anders aus. Der ist der helle Wahnsinn. Wir sind auf ihn gestoßen, als wir einmal nach unserem Frisbee suchten. Totaler Zufall. Das Ding liegt so gut versteckt, dass man genau wissen muss, wo er sich befindet. Niemand scheint sich mehr an ihn zu erinnern. Und das soll auch so bleiben.
Nachdem wir fünf Minuten weitergestrampelt waren, bogen wir vom Weg ab, umkurvten eine riesige Düne und schossen nach unten in eine tiefe Mulde. Von dort kann man nach knapp dreißig Metern eine Mauer erkennen, die zwischen den Sandhügeln verborgen liegt.
Ungefähr zehn Meter rechts vom Eingang des Bunkers führt ein schmaler Trampelpfad zum Strand hinunter. Ich erkannte Bens Motorboot, das an einem halb im Wasser stehenden Pfahl festgemacht war. Es hob und senkte sich in der sanften Dünung.
Ich stieg ab und ließ mein Fahrrad in den Sand fallen. In diesem Moment drang ein dumpfes Fluchen aus dem Bunker.
Beunruhigt zwängte ich mich durch die niedrige Öffnung.