KAPITEL 30

»Warum haben all deine brillanten Ideen eigentlich immer mit Hausfriedensbruch zu tun?«

In seinem langärmligen schwarzen Hemd, schwarzer Hose und Sturmhaube sah Hi einfach lächerlich aus. Dafür schwitzte er auch aus allen Poren.

Wir vier kauerten hinter einem Azaleenbusch, der an den Weg hinter der Bibliothek angrenzte. Es war 00.42 Uhr. Wenn Kit herausbekam, dass ich mich davongeschlichen hatte, würde er mir bis zum Ende meiner Tage Hausarrest aufbrummen.

Vorhin, am Computer, hatte ich meinen Plan erklärt. Doch bevor die Jungs irgendwelche Einwände vorbringen konnten, klopfte es an meiner Tür. Ich schaltete blitzschnell meinen Mac aus, sprang ins Bett und stellte mich schlafend.

Ich hörte, wie Kit zögerte, ehe er sich in sein eigenes Schlafzimmer zurückzog. Bärenhaftes Schnarchen hallte kurz darauf durch den Flur.

Ich hatte ein schlechtes Gewissen, meinen Vater zu hintergehen. Ihm zuliebe hoffte ich, dass wir nicht erwischt werden würden. Und mir zuliebe.

Von hinten hörte ich Shelton flüstern: »Die müssen einfach eine Alarmanlage haben.« Er sagte das zum fünften Mal. »Das Gebäude ist doch ziemlich neu.«

»Das werden wir erst wissen, wenn du das Schloss knackst«, wiederholte ich. »Wenn der Alarm losheult, hauen wir ab.«

Die Nacht war warm und schwül. Was auch sonst. Wolken hatten sich vor den Mond geschoben und Nebel hüllte die Stadt ein. Perfekte Bedingungen für einen Einbruch.

Ein Streifenwagen umkreiste träge den Block, ehe er nach Osten in Richtung Calhoun Street davonfuhr. Drei Mal war er an uns vorbeigerollt.

»Los!«, zischte Ben. »Eine bessere Gelegenheit kriegen wir nicht.«

Wir liefen zu einer einsamen Hintertür. Ich hoffte, das Alarmsystem würde nicht zu kompliziert für uns sein, aber sowohl das Schlüsselschloss als auch der Riegel sahen neu und sehr solide aus.

»Hey, schaut mal!« Hi zeigte auf ein Erdgeschossfenster, das einen Spaltbreit offen stand.

Wir huschten an der Mauer entlang. Shelton steckte beide Hände durch den Schlitz und schob das Fenster nach oben. Wir hielten den Atem an.

Kein Lärmen, kein Heulen, kein Pfeifen. Leichtes Spiel für die Einbrecherbande.

Einer nach dem anderen krabbelten wir durch die Öffnung. Ben schob das Fenster wieder nach unten und knipste seine Taschenlampe an.

Wir befanden uns in einem rechteckigen Raum, dessen Wände von leeren Regalen gesäumt wurden. In der Mitte stand ein einzelner langer Tisch. Darauf ein Dutzend Bücher und eine halb leere Tasse, die mit nassen Zigarettenkippen gefüllt war.

»Danke Mr. Nikotin«, murmelte ich. Unser heimlicher Sargnagelkonsument hatte vergessen, das Fenster zu schließen. Schadenfroh hoffte ich, dass es Limestone war.

Ich konzentrierte mich wieder auf unsere Mission. Jemand hatte uns am Montag hinterhergeschnüffelt. Wie sonst hätten sie unsere Absichten erraten können?

Aber wie sollten wir es beweisen? Wie den Kerl identifizieren?

Durch Fingerabdrücke.

Der Plan war ein Schuss ins Blaue. Doch wenn wir einen Feind hatten, dann mussten wir davon wissen. Vor allem, wenn der Feind eine Pistole hatte und auch gewillt war, sie zu benutzen.

Wir folgten Bens Lichtstrahl nach oben, während wir unentwegt nach Überwachungskameras Ausschau hielten. Da wir keine sahen, wuchs meine Zuversicht. Was wir brauchten, würde nur Minuten dauern.

Wir betraten den South-Carolina-Raum und eilten auf kürzestem Weg zu dem Mikrofilm-Lesegerät. Da diese Antiquität im Zeitalter des Internets kaum noch benutzt wurde, war es sehr unwahrscheinlich, dass seit unserem Besuch vor zwei Tagen jemand daran gearbeitet hatte.

Niemand, außer unserem Stalker, hoffte ich.

Ich schaltete die UV-Lampe an, die ich aus Kits Werkzeugkasten stibitzt hatte, und ließ sie über die Bedienelemente wandern.

Nicht der kleinste Schimmer zu erkennen.

»Wozu soll das gut sein?«, fragte Ben.

»Fingerkuppen haben mikroskopisch kleine Rillen, die einen besseren Griff gewährleisten.« His Stimme klang dumpf hinter der Sturmhaube. »Dieses Muster ist bei jeder Person verschieden.«

»Das weiß ich auch«, sagte Ben. »Ich frage mich nur, wie man die kleinen Dinger kenntlich macht.«

»Finger sind fast immer von einem fettigen Schweißfilm besetzt, sodass sie fast auf allen Oberflächen Spuren hinterlassen. « Ich überprüfte ein weiteres Mal die Bedienelemente.

Wieder nichts.

»Manchmal erkennt man sie mit bloßem Auge, aber das ist sehr ungewöhnlich. Unsichtbare Abdrücke werden auch als ›latent‹ bezeichnet, und an denen bin ich interessiert.«

Das Mikrofilm-Lesegerät bestand aus dunkel glänzendem Metall, wie geschaffen dafür, latente Spuren zu bewahren. Ich ließ den kleinen blauen Lichtstrahl über die Oberfläche gleiten.

Ohne Erfolg.

Indem ich zu Schritt zwei überging, zog ich ein Fläschchen mit feinem grauem Pulver und einen magnetischen Pinsel aus meiner Tasche. »Wenn ein Abdruck da ist, bleiben die kleinen Partikel des Pulvers an dem Schweißfilm haften«, sagte ich. »Das macht die Rillen sichtbar.«

Mithilfe des Pinsels streute ich behutsam ein wenig Pulver auf die Bedienelemente. Keine Abdrücke. Ich versuchte es mit dem Rahmen der Maschine. Null. Dem Bildschirm. Nix. Wir tappten weiter im Dunkeln.

»Kommt, wir hauen ab«, sagte Shelton. »Lasst uns lieber was unternehmen, das uns nicht in den Knast bringt.«

Ein plötzlicher Gedanke.

»Wo sind eigentlich unsere eigenen Abdrücke? Auf dieser Oberfläche müssten sie sich eigentlich wochenlang halten.«

»Vielleicht hat der Hausmeister die Maschine sauber gemacht«, schlug Hi vor.

»Oder jemand hat sie gründlich abgewischt, um die eigenen Fingerabdrücke zu entfernen«, sagte Ben.

Mist.

Waren wir also völlig umsonst in ein offizielles Gebäude eingebrochen. Ich wollte unsere Niederlage schon einräumen, als mir eine letzte Idee kam.

»Lasst uns noch schnell den Film der Gazette anschauen. Wenn den nach uns jemand in der Hand hatte, dann bestimmt unser Stalker.«

Hi stöhnte, lief aber sogleich zum Archivschrank hinüber.

»Fass ihn nicht an!« Lautes Flüstern.

Hi benutzte seine Sturmhaube als Handschuh, dann legte er die entsprechende Spule auf den Tisch.

Mit den Fingern berührte ich nur die Ränder des Films, während ich das UV-Licht im Zickzack über seine Oberfläche wandern ließ.

Nichts.

Enttäuscht wandte ich mich der anderen Seite zu.

Eine ovale Fläche zeichnete sich weiß ab.

Einen Freudenschrei unterdrückend, trug ich das Pulver auf. Der Abdruck erschien in spektakulärer Deutlichkeit.

»Wahnsinn«, murmelte Ben.

»Wir sichern den Abdruck und dann nichts wie raus hier.« Shelton reichte mir eine Rolle Klebeband und eine Karteikarte.

Behutsam drückte ich das Klebeband auf die bestäubte Stelle. Dann zog ich den Abdruck ab und fixierte ihn auf der Karte. Ein Muster in feinen grauen Schleifen hatte sich auf die weiße Pappe übertragen.

Endlich klappte mal was.

Für eine Sekunde.

Rums!

Eine Autotür knallte.

Hi raste zum Fenster.

»Scheiße!«

Blau-rotes Licht blinkte auf seinem Gesicht.

»Die Bullen!«, krächzte er.

VIRALS - Tote können nicht mehr reden - Reichs, K: VIRALS - Tote können nicht mehr reden
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