KAPITEL 38

Aber daraus wurde nichts. Kit war doch nicht nach Loggerhead gefahren. Als ich nach Hause kam, fing er mich im Wohnzimmer ab, hundert Fragen auf den Lippen, die nicht warten konnten.

»Setz dich, Tory.« Er klopfte neben sich auf das Sofapolster.

Durchdringender Blick. Ich durfte meinen Zustand nicht offenbaren. Denn Kit würde seine elterlichen Defizite vielleicht mit umso größerer medizinischer Fürsorge ausgleichen wollen, und ich wollte heute keinesfalls zum Arzt verfrachtet werden. Zu müde.

Ich ignorierte seine Geste und ließ mich mit gekreuzten Beinen in einem Ohrensessel nieder.

Kit ließ meine kleine Rebellion gewähren. »Die letzten Tage waren ein einziges Chaos«, sagte er. »Komm schon Tory! Ich will jetzt endlich wissen, was los ist!«

Der Satz ärgerte mich. Woher das plötzliche Interesse an meinem Leben?

»Ich hab schon alles erzählt. Wenn du die Details wissen willst, frag deinen Freund Karsten.«

Ein Schlag unter die Gürtellinie, aber das kümmerte mich jetzt nicht.

»Was passiert ist, gefällt mir ebenso wenig wie dir.« Kit stieg die Röte ins Gesicht. Aus Ärger? Verlegenheit? Wer wusste das schon?

Unbehagliche Stille. Dann: »Ich will dir doch helfen.«

»Warum?«

»Weil ich dein Vater bin.«

»Danke, Kit« — ich betonte seinen Namen –, »aber du hinkst der Zeit hinterher. Das Verhör war gestern. Zu spät, um jetzt den Super-Dad zu spielen.«

Kit sah aus, als hätte ich ihn geohrfeigt. Ich fühlte mich schrecklich. Warum war ich manchmal so ein Miststück?

»Tory, es tut mir leid!« Sein Bedauern klang aufrichtig. »Mir war nicht klar, dass Karsten dir so zusetzen würde, sonst hätte ich das niemals zugelassen.«

Ein Kommentar schien überflüssig, also schwieg ich.

»Ich weiß, dass ich deine Mutter nicht ersetzen kann, aber ich tue mein Bestes.«

Stille. Diesmal aus Vorsicht, weil ich mir selbst nicht traute.

»Ich werde am Montag eine Beschwerde einreichen«, sagte Kit. »Dr. Karsten hat sich vollkommen unangemessen verhalten. «

»Hat er nicht!«

Mein vorlauter Mund würde Kit noch in Schwierigkeiten bringen.

»Das ist wirklich kein großes Ding, ganz ehrlich.« Ich ging zur Couch und rang mir mein künstlichstes Lächeln ab. »Ich hab mich danebenbenommen. Bitte mach bei der Arbeit kein großes Theater.«

»Du sahst in dem Konferenzraum aber völlig verängstigt aus. Karsten hätte dich niemals alleine befragen dürfen.«

»Ich hab einfach überreagiert.« Lässiges Achselzucken. »Karsten ist sowieso mit uns fertig.«

»Es ist deine Entscheidung, Tory.«

»Lass uns die Sache einfach vergessen.«

Kits Gesicht entspannte sich, und er nahm wieder seine bescheidene, selbstironische Haltung an. »Na gut. Wahrscheinlich würde ich damit nur neue Probleme schaffen.«

Jetzt lächelte ich wirklich. Kit war ein ziemlich netter Typ, wenn er ganz er selbst war. Und, um ehrlich zu sein, war ich der Grund, warum er das so selten sein konnte.

»Aber du wirst mir trotzdem erzählen, was du die letzten Tage getrieben hast«, sagte er mit väterlicher Strenge. »Schieß los. Fang mit der Hundeausstellung an.«

Ich hangelte mich durch die Ereignisse der letzten Tage und hielt mich streng an die Version, die unsere Gang vereinbart hatte. Kaum zu glauben, dass ich vor sieben Tagen noch nie etwas von Katherine Heaton gehört hatte.

Kit hörte aufmerksam zu, stellte ein paar Fragen, schien mir die Story abzunehmen. Als ich fertig war, schüttelte er den Kopf.

»Da hast du ja wirklich eine harte Zeit durchgemacht. Und ich hab ständig gearbeitet und mal wieder nichts mitgekriegt. Tut mir leid, dass ich dich im Stich gelassen habe. Ich verspreche dir, dass ich in Zukunft mehr Zeit für dich haben werde.«

»Ist schon okay.«

»Sobald ich diese salinischen Tests abgeschlossen habe, unternehmen wir was Schönes zusammen, okay?«

»Klar!« Was sollte das sein? »Aber jetzt bin ich ziemlich müde. Ich leg mich ein bisschen hin.«

»Okay. Whitney kommt nachher zum Abendessen, also lauf nicht weg.«

Na toll. Das war das Letzte, was ich jetzt brauchte.

»Vielleicht ist heute Abend nicht ganz der richtige Zeit…«

Er wischte meinen Einwand mit einer Handbewegung vom Tisch. »Ich habe sie schon eingeladen und werde ihr jetzt nicht absagen.« Er blickte mich fast flehentlich an. »So schlimm ist sie doch auch wieder nicht, oder?«

»Aus dir will sie ja auch keinen Tanzbären machen.«

»Ha!« Kit schnaubte. »Wenn du wüsstest.«

Vom Klirren des Bestecks und der Gläser abgesehen verlief unser Abendessen zunächst absolut lautlos, doch es war mir klar, dass Whitney jeden Moment zu plappern anfangen würde.

Ich fragte mich, wie sie es wohl heute anstellen würde, auf ihr Lieblingsthema zu kommen. Eher beiläufig, indem sie erwähnte, was für tolle neue Kleider sie irgendwo gesehen hatte? Oder ganz direkt?

Denn eines war klar: Whitney würde mir wieder die Ohren vollsülzen. Ich war ihre neue Barbiepuppe. Sie wollte mich ausstaffieren, damit ich in ihrem Film die Hauptrolle spielte.

Ich war definitiv krank. Kopfschmerzen. Fieber. Laufende Nase. Brechreiz.

Bring es irgendwie hinter dich.

Whitney hatte das Essen zu Hause vorbereitet. Während ich aß, sah ich sie in Gedanken von der Tradd Street nach Morris fahren. Ich stellte mir vor, wie sie eine Vollbremsung macht. Der Kochtopf kippt um. Maisbrei und Garnelen besudeln ihren penibel gepflegten Mercedes und ihr Sommerkleid von Laura Ashley.

Herzlos? Natürlich. Aber zugegeben, die Vorstellung amüsierte mich.

Normalerweise aß ich für zwei, doch heute drehte sich mir schon beim Gedanken daran der Magen um.

Aus meinem Schläfchen war auch nichts geworden. Sobald mein Kopf auf das Kissen gesunken war, hatte sich mein Zimmer im Kreis gedreht. Meine Gedärme waren in Aufruhr. Alle paar Minuten schleppte ich mich in böser Vorahnung zur Toilette. Nachdem ich mich das letzte Mal entleert hatte, rollte ich mich im Bett zusammen, bis Kit mich zum Abendessen holte.

So stocherte ich auf meinem Teller herum, ohne etwas zu essen, und hoffte auf ein Wunder, nämlich, dass Whitney mich dieses eine Mal in Ruhe ließ.

Das Wunder blieb aus.

»Gute Nachrichten, Tory!«, zwitscherte sie.

Mir wurde heiß und kalt.

»Das Komitee hat bereits zugestimmt, dich für die nächste Ballsaison in den Kreis der Debütantinnen aufzunehmen. Du bist so gut wie dabei!«

Bereits zugestimmt? Sie hatten mich ja nicht mal um Erlaubnis gefragt!

Obwohl ich angewidert mein Gesicht verzog, fuhr Whitney unverdrossen fort.

»Es kommt sogar noch besser! Du darfst schon dieses Jahr als Juniordebütantin teilnehmen. Na, was sagst du jetzt?«

Sie werden niemals ihren Körper finden.

»Das hört sich wundervoll an«, sagte Kit. »Dann kannst du dich mit den gleichaltrigen Mädchen von deiner Schule anfreunden.« Hastig fügte er hinzu: »Ich hab dich sogar schon angemeldet.«

Schon angemeldet? Was dachte er sich nur dabei? Ich wollte gerade lautstark protestieren, doch mein Körper hatte andere Pläne.

Lichtblitze zuckten hinter meinen Lidern. Unsichtbare Tausendfüßler krabbelten über meine Haut. Meine Muskeln brannten und gefroren im nächsten Moment zu Eis. Ich kippte zur Seite, landete auf den harten Dielen.

Plötzlich war Kit bei mir. »Tory, was ist mit dir?«

Meine Gedanken hüllten sich in Nebel. Ich kämpfte darum, ihn zu durchdringen. Ich musste hier weg, ehe ich völlig zusammenbrach.

»Alles okay.« Ich schüttelte Kit ab und rappelte mich mühsam auf. »Bin ich doch einfach vom Stuhl gekippt, wie ungeschickt, was?«

Kit machte große Augen. Whitney noch größere.

»Soll ich einen Arzt rufen? Oder Lorelei?«

»Nein, nein.« Ich scheuchte Kit weg. »Muss mich nur ein bisschen hinlegen. Hab zu viel Sonne abgekriegt.«

Whitney warf Kit einen Hab-ich’s-nicht-gleich-gesagt-Blick zu.

»Die arme Kleine braucht weibliche Beschäftigungen, statt mit irgendwelchen Jungs durch die Dünen zu toben.«

Kit hob eine Hand. »Jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt …«

Doch Whitneys missionarischer Eifer war nicht aufzuhalten. Sie trippelte um Kit herum und nahm meine Hand. »Komm einfach zum Mittwochstanz, Schätzchen. Einfach so, ganz zwanglos. Ich weiß genau, dass du begeistert sein wirst«, säuselte sie mit honigsüßer Stimme. »Oh, du wirst sehen, wie gut dir das tut.«

Ich hatte nicht die Kraft, ihr zu widersprechen.

»Wie auch immer. Ich muss jetzt schlafen.«

»Okay, Tor, ruh dich aus.« Kit zerzauste mir die Haare. Ein seltener Akt väterlicher Zuneigung. »Ich schau später noch nach dir.«

»Das wird schon wieder, Kleines.« Whitney lächelte triumphierend. »Die Party wird dir gefallen. Jede Wette!«

Mit zittrigen Beinen wankte ich die Stufen hinauf. Nichts wie weg.

VIRALS - Tote können nicht mehr reden - Reichs, K: VIRALS - Tote können nicht mehr reden
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