KAPITEL 52
»Ihr habt euch angesteckt?« Karsten erbleichte. »Beschreibt mir eure Symptome.«
Einer seiner gelben Turnschuhe bewegte sich in meine Richtung. Ein Knurren von Coop veranlasste ihn, sich wieder hinzusetzen.
»Ich will alles ganz genau wissen.« Er studierte mich wie einen Bazillus an einem Stäbchen. »Wie ihr euch fühlt. Was ihr für Erfahrungen gemacht habt.«
Keiner von uns sagte ein Wort.
»Ich bin der Einzige, der euch helfen kann«, fuhr er mit fast flehentlicher Stimme fort. »Ihr müsst mir glauben. Ich wollte niemals irgendjemand Schaden zufügen. Ihr wisst ja, wie groß meine Sicherheitsvorkehrungen waren.«
»So groß, dass Sie nicht mal die Pin am Sicherheitsschloss geändert haben«, sagte Hi.
»Was? Es hieß, der Zahlencode wäre bereits beim Einbau verändert worden.«
Ich ging darauf nicht ein, sondern warf den anderen einen fragenden Blick zu.
»Woher sollen wir wissen, ob wir ihm vertrauen können?«, fragte Shelton misstrauisch.
Karsten sprach weiter. »Ihr habt euch mit einer gefährlichen Variante des Parvovirus infiziert.« Er öffnete seine Hände. »Ich hätte das niemals tun dürfen, zugegeben. Aber das lässt sich jetzt nicht mehr ändern. Wir müssen uns zunächst vergewissern, dass ihr nicht in Lebensgefahr seid.«
Shelton sah immer noch misstrauisch aus. In den Gesichtern von Ben und Hi konnte ich nicht lesen.
Karsten legte die Finger aneinander und dozierte:
»Tory hat richtig vermutet. Ich habe die DNA des Caninen Parvovirus mit dem genetischen Code des B19-Virus kombiniert. Ich habe nach einem Mechanismus gesucht, um die canine Ausprägung zu schwächen.«
Karsten schaute uns der Reihe nach an.
»Ich werde nie erfahren, ob mein Versuch erfolgreich gewesen wäre. Ich habe den neuen Virenstamm sofort zerstört, nachdem der Hund gestohlen worden war. Sämtliche Materialien habe ich ebenfalls vernichtet.«
»Aber warum denn?«, fragte ich.
»Es gab Anzeichen dafür, dass das Virus in der Lage sein könnte, Menschen zu infizieren. Ich war aber nicht ganz nach Vorschrift vorgegangen. Als die Sache dann außer Kontrolle geriet, habe ich Panik bekommen. Meine Reputation stand auf dem Spiel.«
»Ihre Reputation?« Hi explodierte förmlich.
»Lasst mich das wiedergutmachen«, flehte Karsten.
»Sagen wir’s ihm!«, schlug Ben vor.
Eine Sekunde, dann nickten Hi und Shelton.
Ich erzählte Karsten von unseren Ohnmachtsanfällen. Dem Brechreiz. Der Erschöpfung. Den Hitzewallungen und Kälteschocks. Mit jedem Detail sanken seine Schultern ein wenig tiefer.
»Die Ohnmachtsanfälle sind vorbei?«, fragte Karsten.
»Ja.«
»Und die Grippesymptome? Auch weg?«
Alle nickten.
Karsten stieß die Luft aus. Erleichtert.
Doch seine Erleichterung währte nicht lange.
»Es gibt aber auch Nebenwirkungen«, fuhr ich fort.
»Nebenwirkungen?«
»Wir nennen es Schübe.«
Ich erklärte ihm, was es damit auf sich hatte. Wie unser Bewusstsein sich weitete, unsere Sinne sich schärften. Wie heftig und schnell diese Anfälle kamen. Und wie unsere Augen einen goldenen Glanz bekamen.
Karsten wäre fast vom Stuhl gekippt. Wir konnten ihn gerade noch festhalten.
»Das ist ja unglaublich!« Karstens Kopf wiegte sich hin und her. »Unglaublich …«, wiederholte er.
»Okay, Doc«, sagte Hi. »Wir sind unglaublich. Aber was sollen wir jetzt tun?«
»Könnt ihr diese Fähigkeiten jederzeit abrufen?«
»Nein«, antwortete ich. »Darauf haben wir keinen Einfluss. «
»Aus euren Beschreibungen geht hervor, dass diese Schübe durch starke sensorische Erregungen getriggert werden. Und durch Stress.«
»Was bedeutet das?«, fragte Shelton.
»Ich glaube, dass diese außerordentlichen Kräfte durch eine Stimulierung des Limbischen Systems in eurem Gehirn verursacht wird.«
»Und was heißt das nun wieder?«, wollte Ben wissen.
»Neuroanatomie ist sehr kompliziert«, antwortete Karsten ein wenig herablassend.
»Das bin ich auch.«
Bens Stimme hatte einen bedrohlichen Unterton. Karsten versuchte, seine Gedanken zu ordnen.
»Im Limbischen System gibt es einen Ort, der Hypothalamus genannt wird. Er steuert das vegetative Nervensystem, indem er bestimmte Hormone produziert und ausschüttet. Das vegetative Nervensystem beeinflusst Herzschlag, Verdauung, Atmung, Speichelfluss, Schweißabsonderung, Pupillengröße etc.«
»Und?«, fragte Ben.
»Ich vermute, das Virus hat eure DNA verändert. Und diese Veränderung hat sich auf die Arbeitsweise eures Gehirns ausgewirkt.«
Mir schlug das Herz bis zum Hals.
Karsten fuhr fort, ohne sich klarzumachen, welche Ängste er damit auslöste.
»Großer Stress führt im menschlichen Körper zu hormonellen Reaktionen«, erklärte er. »Das ist ganz normal. Aber in eurem Fall scheinen diese Reaktionen eine neue Qualität erreicht zu haben. Wenn ihr Angst habt oder euch bedroht fühlt, dann entwickelt ihr die physische Stärke und das Wahrnehmungsvermögen von Wölfen.« Karsten schluckte. »Offenbar hat mein hybrider Virenstamm dafür gesorgt, dass ihr euch mit dem Caninen Parvovirus infizieren konntet.«
Es herrschte absolute Stille im Raum. Eine fast unwirkliche Stille, die aus den unterirdischen Regionen des Bunkers, vom Himmel, vom Meer und von den Dünen zu kommen schien. Unsere Herzen hämmerten im Gleichklang.
»Können Sie uns heilen?«, krächzte ich schließlich.
»Ich weiß es nicht«, antwortete Karsten leise. »Aber ihr habt mein Wort, dass ich alles Menschenmögliche versuchen werde.«
Plötzlich stieß Coop ein tiefes, grollendes Knurren aus.
Ich stellte mich zwischen den Hund und Karsten. Doch Coop beachtete mich nicht. Seine Augen waren erneut auf den Eingang des Bunkers fixiert.
»Was ist los, Junge?«
Coops Kopf drehte sich zu mir, dann zurück zum Eingang. Er ließ die Ohren hängen, doch jeder Muskel schien angespannt zu sein. Er bellte drei Mal, laut und aggressiv.
Wir alle erstarrten.
Von draußen drangen Stimmen zu uns.
Mehrere Stimmen.