KAPITEL 1
Alles begann mit einer Erkennungsmarke. Oder einem Affen mit einer Erkennungsmarke. Wie ihr wollt. Ich hätte mir gleich denken können, dass die uns in Schwierigkeiten bringen würde. Hätte es spüren müssen. Doch meine Wahrnehmungsfähigkeit war damals nicht so gut entwickelt. Noch nicht.
Aber der Reihe nach.
Es war ein typischer Samstagmorgen bei mir zu Hause, abgesehen davon, dass an meinem Zuhause überhaupt nichts typisch ist. Es ist einzigartig – sogar ziemlich merkwürdig. Also genau der richtige Platz für mich.
Da, wo ich wohne, gibt es viele interessante Dinge, vorausgesetzt ihr seid genauso gern in der freien Natur wie ich. Ach, ihr seid keine Naturliebhaber? Dann werdet ihr die Gegend vielleicht ein bisschen … abgelegen finden.
Ich lebe nämlich auf einer verlassenen Insel. Einer schönen einsamen Insel, wollte ich sagen.
Morris Island. Meine Heimat fern jeder anderen Heimat. Endstation. Ein Ort im Nirgendwo. Der Hinterhof von Charleston. Eigentlich gar nicht so übel, wenn man nicht dazu neigt, sich einsam zu fühlen. Was ich tue. Aber was soll’s. Ich kann zumindest meine Beinfreiheit genießen.
Morris ist nicht so eindrucksvoll wie andere Inseln. Vier Meilen im Quadrat, das ist alles. Die nördliche Hälfte besteht aus einer unspektakulären, sanft geschwungenen Kette sandiger Hügel. In der Mitte werden die Sandhügel zehn bis zwölf Meter hoch und erstrecken sich weiter in Richtung Süden, wo die Insel sich weitet. Der westliche Teil besteht aus ödem Marschland, das von flachen, den Gezeiten unterworfenen Buchten gesäumt wird. Und im Osten: der unermessliche Atlantik.
Dünen, Sümpfe, Strände. Und Stille. Unbegrenzte Stille.
Auf unserem kleinen Eiland gibt es zwei von Menschenhand geschaffene Dinge. Das eine ist unsere Wohnanlage, das andere eine Straße. Die Straße. Unsere einzige Verbindung zur Welt da draußen. Es handelt sich um eine einspurige, nicht markierte schmale Asphaltpiste, die sich südwärts durch Marschland und Dünen hindurchschlängelt, ehe sie Morris verlässt und an Lighthouse Creek vorbei nach Rat Island führt. Irgendwann trifft sie dann bei Folly Beach auf den Highway, der sich an Goat Island vorbei in Richtung Stadt zieht.
Rat. Goat. Folly. Wer sich über die Namen wundert, sollte mal bei der Charleston Historical Society nachfragen, wer sich diese hübschen Bezeichnungen ausgedacht hat. Und es gibt noch viel mehr davon.
Das alles war neu für mich. Bis letztes Jahr bin ich noch nie südlich von Pennsylvania gewesen. Dann brach ich in das Leben meines Dads ein.
Was meinen »Mitbewohner« angeht …
Christopher »Kit« Howard ist mein Vater.
Das wissen wir beide jetzt seit genau sechs Monaten. Damals bin ich nach South Carolina gezogen, um mit ihm zusammenzuleben.
Nach dem, was mit meiner Mom passiert war, blieb mir keine andere Wahl.
Nach dem Unfall.
Ich weiß nicht genau, warum, aber Mom hat Kit nie von mir erzählt. Er hatte keine Ahnung, dass er Vater ist, und das schon seit vierzehn Jahren.
Über diesen Schock ist er immer noch nicht hinweggekommen. Manchmal sehe ich es seinem Gesicht an. Wenn er nach einem kurzen Schläfchen erwacht oder nach vielen Arbeitsstunden endlich wieder frische Luft schnappt, zuckt er regelrecht zusammen, wenn er mich sieht. Das ist meine Tochter, denkt er dann. Ich habe eine 14-jährige Tochter, die bei mir wohnt. Ich bin ihr Vater.
Ich bin nicht weniger geschockt, Paps, aber ich arbeite daran.
Wie soll ich meinen frisch entdeckten Vater beschreiben? Kit ist einunddreißig, Meeresbiologe und Forscher am Institut von Loggerhead. Ein Workaholic.
Als Erzieher ist er ziemlich hilflos.
Vielleicht ist alles noch zu neu für ihn – ihr wisst schon, das Erstaunen darüber, plötzlich mit einem eigenen Teenager konfrontiert zu werden. Oder ich erinnere ihn an seine eigene wilde Jugend. Jedenfalls hat er keine Ahnung, wie er mit mir umgehen soll. An einem Tag behandelt er mich wie einen seiner Kumpel, am nächsten wie ein kleines Kind.
Um ehrlich zu sein, trage auch ich einen Teil der Verantwortung dafür, dass alles nicht ganz einfach ist. Ich bin keine Heilige. Und die Entdeckung, einen Vater zu haben, hat mich total aus der Bahn geworfen.
Hier sind wir also. Gemeinsam. Am Ende der Welt.
An jenem Tag war ich gerade dabei, Seemuscheln zu klassifizieren. Langweilig? Vielleicht. Aber ich bin eine begeisterte Wissenschaftlerin. Ich liebe es, Dingen auf den Grund zu gehen, Antworten zu finden. Mom hat schon immer Witze darüber gemacht, wie schwierig es sei, ein Kind großzuziehen, das schlauer ist als die meisten Hochschuldozenten.
Mein Motto: Ich bin, wie ich bin.
Berge von Muscheln bedeckten den Küchentisch. Sundial-Muscheln, Haiaugen, Truthahnflügel. Frisch gereinigt und poliert schimmerten sie im frühen Morgenlicht.
Ich fischte eine neue Art aus dem Eimer zu meinen Füßen und achtete darauf, dass nichts von dem Bleichwasser auf meine Kleider tropfte. Unverkennbar eine Scotch Bonnet: weiß, eiförmig, die geriffelte Oberfläche von einem gleichmäßigen Muster rotbrauner Flecken überzogen. Zufrieden mit meinem seltenen Fund, legte ich die Muschel zum Trocknen beiseite.
Das nächste Objekt war mir ein Rätsel. Herzmuschel oder Arche-Noah-Muschel? Beide Arten sind an der Küste von South Carolina weit verbreitet.
Obwohl die Muschel fast zwei Stunden im Bleichwasser gelegen hatte, war ihr Äußeres immer noch von hartnäckigen Ablagerungen übersät. Seepocken und verkrusteter Schlick verdeckten jedes Detail.
Großartig. Endlich hatte ich eine Gelegenheit, mein elektrisches Werkzeug zu benutzen. Ein Geschenk meiner Großtante Tempe.
Vielleicht habt ihr schon mal von ihr gehört.
Ich war total von den Socken, als ich es herausgefunden habe. Ich bin mit Dr. Temperance Brennan verwandt, der weltbekannten forensischen Anthropologin. Sie war schon immer mein Idol. Als Kit es mir erzählt hat, wollte ich es zuerst nicht glauben, aber an der Sache gibt es nichts zu rütteln. Tempes Schwester, Harry, ist meine Großmutter.
Wir haben also eine echte Berühmtheit in unserer Familie. Eine renommierte Wissenschaftlerin. Wer hätte das gedacht.
Okay, ich war meiner Tante Tempe erst ein Mal begegnet. Aber das war nicht ihre Schuld. Schließlich wusste auch sie erst seit sechs Monaten von meiner Existenz, so wie Kit.
Tante Tempe hat einen echt spannenden Job. Sie identifiziert Leichen. Kein Witz. Egal ob ein toter Körper verbrannt, verfault oder mumifiziert ist. Von Maden zerfressen oder nur noch ein Skelett. Tante Tempe stellt fest, wer das ist. War. Dann versucht sie gemeinsam mit der Polizei herauszufinden, was mit ihr oder ihm passiert ist.
Cooler Job, wenn man einen robusten Magen hat. Hab ich.
Das Wissen um die Verwandtschaft mit meiner Tante hat mir geholfen, mich selbst zu verstehen. Warum ich auf jede Frage eine Antwort finden muss. Warum ich mich lieber mit fossilen Raubvögeln oder der globalen Erderwärmung beschäftige, als shoppen zu gehen.
Ich kann nichts dafür. Das liegt an meiner DNA.
Tante Tempe hat sich darauf spezialisiert, Knochen zu analysieren und aus ihrem Zustand spezifische Schlussfolgerungen zu ziehen. Warum sollte ich also meine Begabung nicht dazu nutzen, die Schale von Weichtieren zu reinigen?
Denn Muscheln sind im Grunde nichts anderes als Knochen.
Ich nahm den kabellosen elektrischen Minischleifer aus meinem Werkzeugkasten, befestigte den Bürstenkopf daran und entfernte behutsam die Verschmutzungen, die an der Schalenoberfläche hafteten. Danach tauschte ich den Bürstenkopf gegen einen kleinen Schleifstein aus, um die Verkrustungen abzuschmirgeln.
Nachdem die größeren Seepocken verschwunden waren, schloss ich mein Sandstrahlgerät an meinen Druckluftkompressor an und benetzte die Muschel vorsichtig mit Aluminiumoxid. Als Nächstes benutzte ich einen Dentalreiniger, um die hartnäckigsten Partikel zu beseitigen. Ich spülte den verbliebenen Sand mit einer Munddusche ab und nahm ein weiteres Mal mein Multielektrogerät zur Hand, diesmal mit einem Polierkopf. Fertig.
Eine glänzende ovale Muschel lag vor mir auf dem Tisch. Außen braun getupft, innen purpurn. Zehn Zentimeter lang. Die zahlreichen radialstrahligen Rippen ließen keinen Zweifel aufkommen.
Ich schaute vorsichtshalber noch mal in meinem Handbuch der Küste South Carolinas nach. Richtig, die Dinocardium robustum, eine Herzmuschel.
Rätsel gelöst. Ich legte die Muschel auf den entsprechenden Haufen und streckte meine Hand erneut in den Eimer. Leer.
Zeit für eine andere Beschäftigung.
Ich beschloss, mir einen kleinen Snack zu machen. Die Auswahl war äußerst dürftig, da Kit schon seit über einer Woche nicht mehr eingekauft hatte. Ich unterdrückte einen Anflug von Verärgerung. Der Supermarkt befand sich dreißig Minuten entfernt auf James Island, da kam er schließlich nicht jeden Tag vorbei.
Wir leben hier wie Schiffbrüchige. Es ist wirklich ein Elend.
Also begnügte ich mich mit ein paar Karottenstangen, die nicht mehr ganz frisch waren, und konnte der Versuchung nicht widerstehen, mir eine Cola Light aufzumachen. Ich bemühe mich durchaus, mich gesund zu ernähren – Hauptsache, ich kriege genug Koffein. Ich brauche das.
Ich warf einen Blick auf mein Handy. Schon ziemlich spät, und sie waren immer noch nicht da. Auch keine SMS.
Ich ging meine verschiedenen Möglichkeiten durch. Nix in der Glotze – immer nur dasselbe. Der Stapel meiner ungelesenen Bücher lockte mich nicht. Das Internet langweilte mich. Nichts Neues auf Facebook.
Keine Hausaufgaben an diesem Wochenende. Es war Ende Mai, und den meisten Lehrern fiel es offenbar ebenso schwer wie den Schülern, das Jahr anständig zu Ende zu bringen.
Ich saß hier fest. Als Vierzehnjährige kann ich mich ja nicht einfach ins Auto setzen und von hier verschwinden. Und wo sollte ich auch hinfahren? Etwa in die Stadt, um dort mit meinen Freunden abzuhängen? Toller Witz! Alle, die mich mögen, sind ebenfalls einsame Inselbewohner. Blieben also die Möglichkeiten vor Ort, die, gelinde gesagt, begrenzt sind.
Aber trotzdem – wo steckten sie bloß?
Habe ich schon erwähnt, dass wir die entlegenste Wohnanlage in Charleston bevölkern? Auf der ganzen Welt? Niemand, absolut niemand wohnt in unserer Nähe. Auf den meisten Karten ist nicht einmal verzeichnet, dass Morris Island überhaupt bewohnt ist. Unsere komplette Nachbarschaft besteht aus zehn Wohneinheiten, die sich alle innerhalb eines 130 Meter langen Gebäudes aus Stahlbeton befinden. Insgesamt vierzig Leute. Das ist alles.
Von hier aus sind es zwanzig Minuten mit dem Auto, ehe man das erste Straßenschild erblickt. An diesem Punkt ist man der Zivilisation noch fern, aber immerhin auf dem richtigen Weg. Normalerweise verlassen meine Freunde und ich dort die Straße und nehmen das Schiff.
Was, ihr seid nicht beeindruckt? Schade eigentlich. Denn mal ehrlich – wie viele Leute kennt ihr denn, die in umgewandelten Militärbaracken wohnen? Und ich rede nicht von irgendeiner Kaserne aus dem 20. Jahrhundert. Das Gebäude ist uralt.
Während des Amerikanischen Bürgerkriegs hat Morris Island den Hafen von Charleston vor Angriffen aus dem Süden geschützt. Die Konföderation hat damals eine Festung namens Fort Wagner errichtet, um feindlichen Soldaten den Zugang zur Nordspitze der Insel zu verwehren. Keine schlechte Idee. Die Rebellen hatten dort schwere Kanonen postiert. Fort Wagner zog sich quer über die Insel und riegelte diese komplett nach Norden hin ab.
Fort Wagner, Fort Moultrie auf Sullivan’s Island und Fort Sumter, ein riesiger Betonklotz an der Einfahrt in die Bucht, bildeten gemeinsam den Befestigungsring, der Charleston gegen die Angriffe von See her verteidigen sollte. 1863 unternahmen die Unionstruppen einen Versuch, Fort Wagner zu erobern. Die 54th Massachusetts Volunteer Infantry, eines der ersten amerikanischen Regimenter, das ausschließlich aus schwarzen Soldaten bestand, führte den Angriff an. Es war eine brutale Schlacht. Und leider ein totales Fiasko. Sogar ihr Befehlshaber fiel.
Ich habe mal einen Spielfilm darüber gesehen. Ich glaube, Denzel Washington erhielt für seine Rolle den Oscar. Völlig zu Recht. Er hat mich zu Tränen gerührt, und ich weine nicht oft. Eigentlich hätte ich ja für die Soldaten von Charleston sein sollen, aber schließlich bin ich ein Girl aus Massachusetts. Außerdem bringt mich nichts und niemand dazu, für diese Sklavenhalter Partei zu ergreifen, sorry.
Fort Wagner wurde nach dem Krieg sich selbst überlassen, aber die grundlegenden Strukturen sind noch vorhanden. Heute ist Morris Island ein Naturschutzgebiet, das von der University of Charleston verwaltet wird. Sie ist der Arbeitgeber meines Vaters und all der anderen, die hier leben. Als die Universität die ehemaligen Militärbaracken von Fort Wagner renovierte, hat sie den Lehrkräften von Loggerhead Island – ihrer externen Forschungseinrichtung im Meer – angeboten, dort kostenlos einzuziehen. Loggerhead ist noch kleiner und abgelegener als Morris.
Mein Dad hat das Angebot natürlich sofort angenommen. Schon mal versucht, von einem Forschergehalt zu leben?
Ich wartete immer noch ungeduldig. Ich wollte unbedingt nach Folly Beach, aber von denen, die mich hinbringen wollten, fehlte weiterhin jede Spur. Es sah so aus, als hätten sie mich versetzt.
Also entschloss ich mich, joggen zu gehen, eines der Dinge, die man auf Morris Island hervorragend tun kann. Ich ging in mein Zimmer, um mich umzuziehen. Alle Wohneinheiten in unserer kleinen Welt sehen haargenau gleich aus. Vier Stockwerke, mehr hoch als breit. Nur der persönliche Geschmack und die individuelle Raumaufteilung der einzelnen Bewohner sorgen für gewisse Unterschiede.
In unserem Fall dient das Erdgeschoss zugleich als Büro und Garage. Im ersten Stock befinden sich Küche, Ess- und Wohnzimmer. Die nächste Etage beherbergt zwei Schlafzimmer, von denen Kits nach hinten, meines nach vorne hinausgeht, sodass ich das Grundstück überblicken kann.
Das oberste Stockwerk besteht vor allem aus einem großen Raum, in dem Kit seine Mediathek untergebracht hat. Ich nenne ihn Kits Höhle. Von dort gelangt man auf eine Dachterrasse, die einen sagenhaften Blick auf den Ozean bietet. Im Grunde eine ganz ansehnliche Behausung, in der man allerdings ständig Gefahr läuft, die Treppen hinunterzufallen und sich das Genick zu brechen.
Während ich meine Adidasschuhe schnürte, warf ich einen Blick aus dem Fenster meines Zimmers. Eine mir sehr vertraute Person spurtete den Bootsanleger hinauf. Hiram in Höchstgeschwindigkeit. Ehrlich gesagt kein besonders imponierender Anblick.
Hi rannte, was das Zeug hielt, das heißt, er kämpfte sich tapfer die Steigung hinauf, die zum Hauptgebäude führt. Seine Wangen waren knallrot, die Haare klebten an seinem Gesicht.
Hi würde nie aus Spaß laufen.
Ich schnappte mir meinen Schlüsselbund und sauste los.
Irgendwas stimmte da nicht.