KAPITEL 39

Ich versuchte zu fliehen, doch meine Beine waren schwer wie Blei.

Meine Verfolger kamen dröhnend näher, gesichtslose Monster, die mich verfrühstücken wollten. Meine Beine waren nutzlos geworden, brachten mich keinen Zentimeter mehr voran.

Verzweifelt ließ ich mich auf alle viere sinken. Hüften und Rückgrat richteten sich neu aus. Meine Knochen vibrierten vor Energie, bislang ungekannte Muskeln schwollen an Armen und Beinen.

Auf allen vieren schoss ich nach vorn wie der Blitz, ließ die Dämonen hinter mir. Ich flog förmlich über das Gras, hörte den Wind in meinen Ohren.

Der Rausch der Geschwindigkeit entlockte meiner Kehle ein Geräusch.

Ruckartig wachte ich auf.

Hatte ich im Schlaf aufgeheult?

Ich streckte mich. Rieb mir die Augen. Langsam verblassten die Bilder.

Sogar meine Träume sind verrückt.

Die Ziffern auf meinem Wecker zeigten 11.00.

Unmöglich. Ich warf einen Blick auf mein Handy. Tatsächlich. Ich hatte die ganze Nacht und den Großteil des Vormittags geschlafen.

Ich horchte in mich hinein. Mein Zustand hatte sich verschlimmert. Alle Körperfunktionen waren betroffen.

Mein Kopf dröhnte.

Mein Bauch schmerzte.

Meine Lunge brannte.

Jetzt bestand kein Zweifel mehr: Ich hatte mir eine ernste Krankheit zugezogen.

Ich warf die Decke zurück und schwang die Beine aus dem Bett.

KLICK.

Lichter explodierten in meinem Kopf. Meine Knie krümmten sich.

Dann … Was? Nichts!

Keine Beschwerden. Keine Blitze. Kein Schmerz.

»Wow!«

Plötzlich stieg mir ein ekelhafter Geruch in die Nase. Verwirrt schaute ich mich um.

Der Gestank drang in Wellen aus meinem Badezimmer. Es war kein reiner Geruch, sondern ein Cocktail aus Fett, Lavendel, Minze und Rosenduft.

Komisch, dass ich dieses üble Gemisch nie zuvor bemerkt hatte. Ich hatte weder neue Pflegeprodukte gekauft noch meine Gewohnheiten geändert. Aber der Gestank war überwältigend. Indem ich die Tür schloss, schwor ich mir, das Badezimmer vom Boden bis zur Decke zu putzen.

Später.

Erst mal brauchte ich Koffein.

Ich trottete die Stufen hinunter.

Als ich das Wohnzimmer betrat, wurden meine Nasenlöcher von einem weiteren Geruch auf die Probe gestellt. Ein fauliger Gestank schien seinen Ursprung unter dem Couchtisch zu haben.

Ich hielt mir schaudernd die Nase zu.

Irgendwas verrottete hier. Die Geruchsquelle musste so intensiv sein, dass ich den Gestank quer durch den Raum hindurch wahrgenommen hatte. Ich stählte mich und rückte den Tisch ein paar Zentimeter nach links.

Auf dem Boden lag ein bräunliches Salatblatt. Ich hob es auf und roch daran. Der Geruch nach Verwesung trieb mir Tränen in die Augen. Meine Eingeweide zogen sich zusammen.

Pfui Teufel!

Aber wie war das möglich? Wie konnte es sein, dass ein einzelnes Salatblatt solch einen Gestank verbreitete?

KLACK.

Funken sprühten in meinem Kopf.

Ich schwankte, fiel aber nicht.

Der Verwesungsgeruch verschwand, als hätte man eine Kerze ausgeblasen.

Ich bückte mich und hielt mir das Salatblatt vor die Nase. Ohne groß nachzudenken rannte ich die Treppe hinauf. Das Seife-Reinigungs-Blumen-Bouquet war ebenfalls verschwunden.

Völlig baff lief ich wieder nach unten und ließ mich auf die Couch sinken. Erneut spürte ich eine Veränderung in meinem Kopf. Ich schloss die Augen und ließ mich treiben.

KLICK.

Blitzendes Licht.

Explodierender Schmerz.

Die Luft schoss aus meiner Lunge.

Ich hörte ein Klopfen, zunächst leise, dann ein pulsierendes Brummen, als wäre irgendwo ein Rasenmäher angeworfen worden.

Ich drehte meinen Kopf, ernst nach links, dann nach rechts, um die Geräuschquelle zu lokalisieren. Der Lärm kam aus der Küche.

Meine Augäpfel kribbelten, als ich den Flur hinunterschaute. Plötzlich trat jedes Detail mit frappierender Deutlichkeit hervor.

Ich bewegte mich nicht vom Fleck. Mir war, als würde ich die Küche durch ein Teleobjektiv betrachten. Ich konnte die Zutatenliste der Frühstücksflocken auf sechs Meter Entfernung lesen.

Das Klopfen und Brummen wurde immer intensiver. Dann kam eine Art Saugen hinzu.

Woosh!

Mein Blick zoomte etwas heran, das auf der Fensterbank spazierte. Es war eine gewöhnliche Stubenfliege, deren winzige Details ich mit ungeheurer Schärfe erkannte. Die transparenten Flügel wurden von dunklen Linien durchzogen. Die Augen schienen aus roten Netzen zu bestehen.

Das Insekt bewegte sich auf kleinen haarigen Beinen fort. Sein Rüssel wanderte über den Untergrund. Die Flügel vibrierten, als es versuchte, hinter die Glasscheibe zu gelangen.

Ich schwöre, dass mir die Kinnlade herunterfiel.

Ich kann eine Fliege quer durch das Haus hören. Ich sehe den Schmutz, der an ihren Fühlern haftet.

KLACK.

Mein Blick flackerte, zog sich zusammen und war wieder normal. Nachdem ich eben noch alles überdeutlich und messerscharf erkannt hatte, kam mir meine vertraute 100%-Sehschärfe auf einmal verschwommen und ungenau vor.

Ich lauschte. Kein Klopfen und Brummen mehr.

Ich sprang auf und lief zum Küchenfenster. Die Fliege war immer noch da, doch ihre Bewegungen waren jetzt kaum zu hören. Die Augen zwei rote Punkte, mehr nicht.

Benommen schob ich die Scheibe nach oben. Das Insekt flog in die Freiheit, ohne von meiner Verwirrung etwas bemerkt zu haben.

Verlier jetzt nicht den Kopf. Dich hat es schwer erwischt.

Riechen. Sehen. Hören. Alle Sinne spielten verrückt.

Was konnte eine solche Überempfindlichkeit verursacht haben?

Mein Betriebssystem war zusammengebrochen, und ich wusste nicht, wie ich einen Neustart durchführen sollte. Ich entschloss mich, meine Gang zu kontaktieren. Auf der Stelle.

Hustend und schwitzend eilte ich die Treppe hinauf und fuhr meinen Mac hoch. Loggte mich ein. Zwei Icons leuchteten. Hi und Shelton waren online.

Meine Finger flogen über die Tastatur. Fühlt ihr euch auch so komisch? Bin total am Ende.

Shelton antwortete als Erster: Kotze wie ein Reiher. Schöne Grüße.

Dann poppte His Icon auf: Ich sterbe.Verteilt meine Habe an die Armen.

Oh mein Gott. Ich war nicht die Einzige.

Ich tippte: Geht zu iFollow. Videokonferenz.

Ich wechselte die Programme und wartete. Minuten vergingen. Als ich mich wieder zurückklickte, fand ich zwei ungelesene Nachrichten.

Shelton: Bin zu müde. Gehe zurück ins Bett.Vielleicht später.

Hi: Sei froh, wenn du mich nicht sehen musst. Bye.

Drückeberger.

Ich beendete die Sitzung. Wie wär’s mit einer Dusche? Würde mir vielleicht guttun.

Doch ich schaffte es nicht.

Es kribbelte am ganzen Körper. Mein Gesicht verzerrte sich. Ich stieß unartikulierte Laute aus. Dann, wie zuvor, waren alle Symptome wieder verschwunden.

Ich kauerte auf dem Fußboden. Umfasste meine Knie. War total durchgeschwitzt.

Was im Himmel hat das zu bedeuten?

Ein winziger Verdacht keimte in mir auf. Entwickelte sich mit schonungsloser Logik und scherte sich nicht um mein tiefes Unbehagen.

Du weißt es, wisperte es. Du hast es freigelassen.

Der Einbruch in Karstens Labor. Das Parvo-Experiment.

Cooper.

Nein. Das Canine Parvovirus ist nicht auf den Menschen übertragbar. Coop stellt keine Gefahr für uns dar.

Coop war Gegenstand eines geheimen Experiments, flüsterte der Verdacht. Wer weiß, was er in sich trägt.

War das die Erklärung? Hatte das Virus sich verändert? War es mutiert? War Coops Infektion noch gefährlicher, als ich dachte?

»Stopp!«, befahl ich mir selbst. »Hör auf, so paranoid zu sein. Dass wir jetzt krank geworden sind, ist reiner Zufall. «

Doch ich glaubte nicht an Zufälle.

Warum waren wir alle gleichzeitig krank geworden? War Coop der einzige gemeinsame Faktor? Was hatten diese verrückten Körperreaktionen zu bedeuten?

Doch Ben war nicht krank geworden. Er hatte Coop vom Labor weggetragen, hatte genauso viel Körperkontakt zu ihm gehabt wie wir anderen.

Hör auf, die Sache zu dramatisieren. Du hast wichtigere Dinge zu tun.

Dann hatte ich plötzlich eine andere Eingebung.

Meine Lerngruppe! Ich war um zwölf mit Jason und Hannah verabredet.

Ich schaute auf die Uhr. 11.45. Keine Chance mehr, pünktlich zu erscheinen. Außerdem hatte ich meinen Part nicht erledigt. Hatte ihn völlig aus dem Blick verloren.

Nicht dass dies was geändert hätte. Ich war sowieso nicht in der Lage, mich mit irgendjemand zu treffen. Ich musste absagen.

Ich formulierte einen Text, unterstrich mein Bedauern:

Tut mir schrecklich leid, Jason, aber mich hat die Grippe erwischt. Kann euch nicht treffen. Entschuldige mich bitte bei Hannah, am Montag kriegt ihr meinen Part. Sorry für die späte Absage! Tory.

Senden. Minuten vergingen. Meine Augen hingen am Display. Endlich kam eine Antwortnachricht: Okay, gute Besserung. Bis später. J.

Nachdem ich jede mögliche Nuance dieser Nachricht analysiert hatte, schaltete sich mein Gehirn ab.

Ich schloss die Augen und schlief ein.



14.45.

Na toll. Ganze dreißig Minuten war ich bisher wach gewesen. Wahrscheinlich der produktivste Sonntag meines Lebens.

Ich stapfte die Stufen hinunter, stellte fest, dass ich einen tierischen Hunger hatte. Kein Frühstück. Kein Mittagessen. Kein Wunder.

Ich wühlte mich durch den Kühlschrank, hatte aber keine Lust auf Joghurt, Rohkost oder Obst. Dann griffen meine Hände unwillkürlich nach einer Packung mit Rinderhackfleisch.

KLICK.

Meine Nerven zuckten wie Überbrückungskabel. Ein Gong dröhnte in meinem Kopf. Ohne nachzudenken riss ich die Packung auf und grub meine Finger in das rohe Fleisch. Meine Speicheldrüsen waren außer Rand und Band. Gierig stopfte ich mir eine ganze Handvoll in den Mund.

Für einen Augenblick pure Ekstase. Dann meldeten sich meine Geschmacksknospen zu Wort.

»Uäh!«

Ich spuckte den halb zerkauten Fleischklumpen in die Spüle.

Rohes Fleisch? Widerlich!

Doch für einen kurzen Moment hatte ich nichts anderes gewollt, als dieses halbe Pfund einfach hinunterzuschlingen.

Okay. Du hast die Besinnung verloren. Das steht fest.

Eine düstere Ahnung stieg aus der Tiefe meines Bewusstseins auf. Ich atmete tief durch, versuchte meine Selbstkontrolle wiederzuerlangen.

Ganz ruhig.

Als ich den Kopf hob, sah ich, wie sich mein Gesicht auf dem Wasserhahn spiegelte. Doch das glänzende Chrom verfälschte meine Gesichtszüge wie ein Zerrspiegel.

Allerdings war das hier kein Spaß. Meine Augen glühten, waren von einer tiefen goldenen Farbe erfüllt.

»Nein!«

Ich sank auf den Boden, kniff die Augen zusammen. Tränen rannen die Wangen hinunter.

Das darf nicht sein, kam mir lautlos über die Lippen.

KLACK.

Ein heftiges Zittern pulste wie eine Druckwelle durch meinen Körper.

Ich öffnete die Augen. Dann lief ich zum Badezimmerspiegel.

Sah eine grüne Iris. Alles normal. Ich erlaubte meinem Atem, die Lunge zu verlassen.

Aber meine Erleichterung währte nur kurz.

Etwas stimmte hier nicht. Etwas Ernstes. Vielleicht Tödliches.

Ich dachte an die seltsame Verbindung zurück, die ich zu Coop gespürt hatte. An das plötzliche Gefühl der Gemeinschaft und Zusammengehörigkeit.

»Was geschieht mit mir?«, flüsterte ich.

Die Antwort war Schweigen.

VIRALS - Tote können nicht mehr reden - Reichs, K: VIRALS - Tote können nicht mehr reden
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