KAPITEL 19

Zwei Stunden später hatte sich Ernüchterung breitgemacht.

Die Adressenverzeichnisse und Telefonbücher hatten rein gar nichts gebracht. Dasselbe galt für Geburts- und Heiratsurkunden. Ich begann, mich mit der Tatsache abzufinden, dass F. Heaton kein Einheimischer war.

Hi schnüffelte erfolglos im Internet. Shelton überprüfte die Todesanzeigen in den Zeitungen, um die Nadel im Heuhaufen zu finden. Unsere Zuversicht war im Keller. Der Name Heaton war einfach zu weit verbreitet. Wir brauchten weitere Informationen.

Blieb nur noch ein Versuch, der natürlich reine Spekulation war. Seufzend begann ich, sämtliche Namensverzeichnisse des Waisenhauses von Charleston durchzugehen. Besser ein verzweifelter Versuch als gar keiner.

Einst das älteste Waisenhaus in den USA, war es 1951 vom Bundesstaat South Carolina abgerissen worden. Laut Gesetz müssen solche Unterlagen fünfundsiebzig Jahre lang aufgehoben werden. Die Dokumente der Bibliothek gingen also bis zum Jahr 1935 zurück. Ich hatte keine großen Erwartungen.

Um so aufgeregter war ich, als ich plötzlich einen modrigen Aktenordner mit der Aufschrift Francis P. Heaton in der Hand hielt. Ich sauste zum nächsten Tisch.

»Hey, Jungs, ich hab was gefunden!« Wir mussten nicht mehr im Flüsterton miteinander sprechen. Außer uns war niemand mehr im Raum.

Shelton und Hi drängten sich an mich, während ich mich dem ersten Anhaltspunkt des heutigen Tages widmete.

Die Fülle des Materials war nicht gerade beeindruckend. Es gab gerade mal zwei Dokumente. Beim oberen handelte es sich um das übliche Formblatt. Ich nahm die spärlichen Informationen zur Kenntnis.

Name: Francis P. Heaton
Geboren: 1934
Eltern: unbekannt
Als staatliches Mündel anerkannt: 15.7.1935
Grund der Anerkennung: wurde auf den Stufen des Waisenhauses gefunden

»Die haben den doch tatsächlich vor die Tür gelegt!«, ereiferte sich Shelton. »Wie herzlos!«

»Es war die Zeit der großen Depression«, gab Hi zu bedenken. »Und das hier ist wirklich deprimierend.«

»Wartet mal«, sagte ich. »Hier steht noch mehr.«

Unter den gedruckten Angaben hatte jemand in altmodischer Handschrift Folgendes hinzugefügt:

Das Kind wurde in der Nacht des 15. Juli 1935 vor den Toren des Waisenhauses abgelegt. Ein Zettel, der an der Windel des Kindes befestigt war, enthielt nur einen Namen. Nachforschungen, um die leiblichen Eltern des Kindes aufzuspüren, blieben ohne Erfolg. Darum hat die Leitung des Waisenhauses beschlosseu, die Verantwortung für Francis P. Heaton als Mündel des Bundesstaates von South Carolina zu übernehmen.

»Glaubst du, das ist unser Mann?«, fragte Shelton. »Francis P. wäre während des Vietnamkriegs in den Dreißigern gewesen.«

»Das käme schon hin«, sagte Hi. »Was steht auf dem anderen Blatt?«

Ich drehte es herum und sah eine handschriftliche Notiz in Form eines Tagebucheintrags. Wenngleich sie ein wenig zittriger geworden war, erkannte man unschwer die Handschrift des ersten Dokuments wieder. Die Eintragung stammte von derselben Person, die dreißig Jahre zuvor das Formblatt ausgefüllt hatte.

23.11.1968: Furchtbare Nachrichten an Thanksgiving: Frankie Heaton ist letzten Monat bei Kämpfen im Mekongdelta gefallen. Ich hatte seit Jahren nichts von ihm gehört. Laut einer Reportage der »Gazette« hat Frankie tapfer gekämpft, ehe seine Einheit der feindlichen Übermacht zum Opfer fiel.

Ich biss mir in die Lippen und zwang mich zum Weiterlesen.

Was für ein verachtungswürdiger Krieg. Es bricht mir das Herz, wenn ich an Frankies Tochter Katherine denke. Sie ist erst sechzehn und da sie keine Mutter mehr hat, ist sie jetzt selbst zur Waisen geworden. Möge der Barmherzige Gott sich Frankies Seele erbarmen und sein Kind behüten.

Die Eintragung war unterschrieben, doch der Name nicht zu entziffern.

Wie starrten schweigend auf das Blatt Papier.

Shelton fand als Erster die Sprache wieder. »Was ist die Gazette?«

»Eine Zeitung aus Charleston, die es bis Anfang der 70er-Jahre gegeben hat«, antwortete Hi.

»Ich glaube, dass Frankie unser Mann ist.« Shelton klang so niedergeschlagen, wie ich mich fühlte. »Aber wenn er im Mekongdelta gestorben ist, wie ist seine Erkennungsmarke dann nach Loggerhead Island gekommen?«

»1968 war seine Tochter fünfzehn Jahre alt.« Hi rechnete im Kopf. »Dann ist sie heute siebenundfünfzig.«

»Die Erkennungsmarke gehört ihr!«, sagte ich mit Nachdruck. »Wie müssen Katherine finden und sie ihr zurückgeben. «

Hi nickte. »Lasst uns mal ihren Namen googeln. Vielleicht klappt’s diesmal.«

Shelton und Hi schlurften zum Computer, froh darüber, sich meiner emotionalen Aura entziehen zu können. Ich folgte ihnen nicht. Eine enorme Traurigkeit hatte mich ergriffen, größer und stärker als ich erwartet hatte.

Trotz der Jahrzehnte, die uns trennten, empfand ich ein tiefes Mitgefühl für Francis Heatons Tochter. Ich wusste, wie es war, seine Mutter zu verlieren. Und Katherine hatte noch dazu ihren Vater verloren. Die Welt konnte so grausam sein.

Und Francis selbst? Das Kind, das man einst auf den Stufen des Waisenhauses ausgesetzt hatte, war zu einem Mann herangewachsen, der für sein Land gekämpft hatte. Und hatte den schlimmsten Preis dafür gezahlt. Wie unsagbar traurig.

»Tory!« Shelton klang erregt. »Sieh dir das mal an!«

Als ich einen Blick auf den Bildschirm warf, verdoppelte sich mein Schock.

Vom Regen in die Traufe.

Shelton war bei seiner Suche auf eine Website gestoßen, auf der es um vermisste Personen ging. Die 16-jährige Katherine Heaton, stand dort, wohnhaft in Charleston, South Carolina, war 1969 plötzlich spurlos verschwunden.

Auf Nimmerwiedersehen.

»Scheint mir eine komische Quelle zu sein«, sagte ich mit Blick auf den Monitor. »Stab Network, schon mal gehört?«

»Nicht gerade CNN«, stimmte Hi zu. »Versuch mal, die Links anzuklicken.«

Die Links funktionierten nicht. Aber der Artikel zitierte wörtlich aus der Gazette.

Wir eilten zum Mikrofilm-Lesegerät. Shelton fand die entsprechenden Zeitungsartikel der Gazette aus dem Jahr 1969. Die nächste Stunde saßen wir eng aneinandergedrückt vor dem Monitor und lasen begierig die Lebensgeschichte von Katherine Anne Heaton.

Ihr Verschwinden hatte in Charleston für großes Aufsehen gesorgt. Am 24. August 1969 war sie von zu Hause aufgebrochen und in Richtung der Docks am Ripley Point gegangen. Danach hat sie niemand mehr gesehen. Wochenlang durchkämmte die Polizei die ganze Gegend. Ohne Erfolg. Mitte September wurde die Suche eingestellt.

In dieser Zeit veröffentlichte die Gazette eine Reihe von Hintergrundberichten. Katherine war in West Ashley aufgewachsen, einer bescheidenen Wohngegend östlich der Halbinsel. Sie besuchte die St. Andrew’s Parish School, hatte exzellente Noten und sogar einen Nachwuchspreis in den Naturwissenschaften gewonnen. Freunde sagten, Katherine habe nach dem Schulabschluss auf die Charleston University gehen wollen.

In der verzweifelten Hoffnung auf ein Happyend durchsuchten wir die Zeitungsausgaben mehrerer Wochen. Nichts. Ihre Geschichte schien plötzlich beendet.

Dann platzte die Bombe.

Im Oktober des Jahres 1969 brachte die Gazette eine Titelstory, in der es um Einwohner des Charleston County ging, die in Vietnam getötet worden waren. Darunter auch Francis »Frankie« Heaton. Der Artikelschreiber machte darauf aufmerksam, dass Frankie Heaton der Vater der immer noch vermissten Katherine Heaton sei, von der weiterhin jede Spur fehlte.

»Seht mal her, Jungs! Hier steht, dass Katherine, einer Tante zufolge, stets die Erkennungsmarke ihres Vaters bei sich getragen hat.«

»Das ist sie!« Shelton stieß einen lang gezogenen Pfiff aus. »Wir haben die richtige Person erwischt. Ich wette, sie hat die Marke auf Loggerhead verloren.«

»Aber was hat sie dort überhaupt gemacht?«, fragte ich. »Ich glaube nicht, dass sie der Typ war, der auf einsamen Inseln wilde Partys gefeiert hat.«

»Ist sie jemals gefunden worden?«, fragte Hi.

»1969 jedenfalls nicht.«

Shelton nahm den Film aus dem Gerät. »Sollen wir mit 1970 weitermachen?«

»Mein Gott, ihr seid aber fleißig! Schon irgendwas gefunden? « Wie auf Kommando drehten wir uns um, als wir die Stimme von Mr Limestone hörten.

»Ja, Sir. Wir sind da gerade auf etwas gestoßen, hätten aber noch ein paar Fragen.«

»Nur zu! Wir schließen zwar bald, aber vielleicht kann ich euch ja eine Hilfe sein.«

Shelton fackelte nicht lange. »Haben Sie schon mal von einem Mädchen namens Katherine Heaton gehört?«

Limestones Augen flackerten unmerklich. »Wie … äh … war noch mal der Name?« Seine quäkende Stimme war um eine Oktave nach oben geschnellt.

»Katherine Heaton«, wiederholte Shelton. »Ein Mädchen von hier, das seit den 60er-Jahren vermisst wird. Ihr Vater hat in Vietnam gekämpft. Haben Sie schon mal von ihr gehört?«

»Leider kann ich euch nicht helfen.« Urplötzlich stand ein anderer Brian Limestone vor uns. Seine Hilfsbereitschaft war verflogen. Auf einmal machte er einen nervösen Eindruck. »Ich muss diesen Raum jetzt schließen. Wenn ihr dann bitte Schluss machen würdet.«

»Tut mir leid, wenn wir Ihnen zur Last fallen«, sagte ich begütigend. »Wir hätten nur gerne gewusst, was mit Katherine passiert ist. Bei den alten Zeitungsartikeln sind wir nicht weitergekommen. Können Sie uns sagen, wo wir noch mehr zu diesem Thema finden?«

»Nein, kann ich nicht. Ich hab jetzt zu tun. Ich dachte, ihr macht nur eure Hausaufgaben.« Sein knochiger Finger zeigte in Richtung Ausgang. »Geht jetzt bitte. Ihr müsst ein anderes Mal wiederkommen.«

Wir tauschten erstaunte Blicke. Limestone warf uns tatsächlich raus. Erstaunt suchten wir unsere Sachen zusammen und verließen überstürzt das Gebäude.

Auf der Straße drehte ich mich noch mal um und schaute zur Bibliothek zurück. Limestone stand in der Tür und starrte uns hinterher.

»Was war das denn?«, fragte ich. »Der Typ war ja nicht wiederzuerkennen. «

»Das kannst du laut sagen«, entgegnete Shelton. »Sobald ich ihn etwas gefragt habe, hat der total zugemacht.«

»Typisch Bibliothekar«, warf Hi ein. »Die haben was gegen Jungs. Nur gut, dass ich nicht auch noch meine jüdische Klappe aufgerissen habe.«

»Allerdings«, gluckste Shelton. »Ich wette, das ist so ’n Nazi, ein richtiger Rassist.«

Ich grinste. »Frauen scheint der aber auch nicht zu mögen. «

Natürlich machten wir nur Spaß. Was auch immer in Brian Limestone gefahren sein mochte, mit Intoleranz hatte es bestimmt nichts zu tun.«

Plötzlich wurden wir wieder ernst. Der plötzliche Stimmungswandel des Bibliothekars hatte uns zutiefst irritiert.

Ich erinnerte mich genau an Limestones Gesichtsausdruck, während er sich in einen Vollidioten verwandelte.

An seinen Ausdruck.

War das … Angst gewesen?

VIRALS - Tote können nicht mehr reden - Reichs, K: VIRALS - Tote können nicht mehr reden
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