EPILOG
Westminster, Dezember 1154
Wie Alan vorhergesagt hatte, musste Henry nicht lange auf seine Krone warten.
Der Tod des Kronprinzen hatte König Stephen den letzten Lebensmut geraubt, und im Winter war er krank und hinfällig geworden. Der Vertrag, den er mit Henry geschlossen hatte, hatte sein Reich zum ersten Mal seit seiner Krönung so weit befriedet, dass Stephen es gefahrlos bereisen konnte, und alle, die ihn auf seinem langen Weg von Grafschaft zu Grafschaft, von Kloster zu Kloster begleiteten, merkten, dass König Stephen Abschied nahm. Er starb am 25. Oktober im Jahre des Herrn 1154, und am Sonntag vor Weihnachten krönte Erzbischof Theobald Henry Plantagenet und Aliénor von Aquitanien in Westminster Abbey.
»Sie ist eine wunderschöne Königin«, raunte Philippa beim anschließenden Krönungsbankett ihrem Mann zu.
Simon schaute unauffällig zu Aliénor hinüber. »Ja«, stimmte er zu. »Die Krone steht ihr hervorragend. Genau wie Henry.«
»Höre ich einen Hauch von Stolz, mein Gemahl?«
»Sagen wir, Zufriedenheit.« Aber Simons dunkle Augen leuchteten, als er Henry auf seinem prunkvollen Thronsessel auf der Estrade betrachtete. »König von England, Herzog der Normandie und von Aquitanien, Graf von Anjou und Maine. Und das mit einundzwanzig Jahren.«
»Die anderen Herrscher der Christenheit können einem beinah leidtun«, bemerkte sie trocken.
»Genau wie seine Brüder.« Simon schaute zu Geoffrey und William Plantagenet, die mit Henry und Aliénor an der hohen Tafel saßen und missmutig an ihren Schwanenkeulen kauten. »Wir werden sie im Auge behalten müssen.«
Unauffällig drückte Philippa unter dem Tischtuch seine Hand. »Aber nicht heute, Simon de Clare.«
»Sie hat recht, Simon«, bemerkte Alan, der an Philippas anderer Seite saß. »Zur Feier des Tages könntest du heute ausnahmsweise einmal darauf verzichten, hinter jedem Baum einen Meuchelmörder zu wittern. Davon abgesehen ist Geoffreys und Williams Erbitterung nichts, verglichen mit König Louis’.«
Leises Gelächter erhob sich, und es enthielt einen unüberhörbaren Hauch von Schadenfreude. Im vorletzten August hatte Aliénor Henry einen gesunden Sohn geboren, und der bedauernswerte König von Frankreich, dem sie in fünfzehn Ehejahren nur zwei Töchter geschenkt hatte, schäumte seither vor Wut. Er hatte zur Geburt des kleinen William weder gratuliert noch Geschenke geschickt. Doch Simon war zuversichtlich, dass Louis’ Missgunst und Verwünschungen dem Jungen nichts anhaben konnten, denn er war an dem Tag zur Welt gekommen, da Eustache de Boulogne sein Leben verloren hatte. Gott hatte es so gefügt, dass England keinen Tag ohne Kronprinz sein sollte, und viel deutlicher hätte er sich kaum offenbaren können: Das gekrönte Paar dort oben an der hohen Tafel hatte eine Dynastie begründet, und es war dieses Geschlecht und kein anderes, das Englands Zukunft bestimmen sollte.
»Wie lange dauert ein Krönungsbankett?«, fragte Miriam Alan leise.
»Ich weiß es nicht«, gestand er ebenso gedämpft. »Dieses hier ist mein erstes.« Er sah sie scharf an, und sein Blick glitt unwillkürlich zu ihrem deutlich gewölbten Bauch. »Alles in Ordnung?«
Sie nickte. »Sei beruhigt, es gibt keinerlei Anzeichen, dass ich in Westminster Hall an Henrys Krönungstag niederkomme.«
Aber diese Schwangerschaft war ihr schlimmer auf den Magen geschlagen als jede zuvor, wusste Alan, und der Anblick und die Gerüche so vieler Speisen, von denen die wenigsten koscher waren, machte ihr zu schaffen.
Nach einer weiteren Stunde wurde sie indes erlöst. Als es dämmerte, stand der König von der Tafel auf, um das Ende des Festmahls anzukündigen, und schlug zum Abschluss der Feierlichkeiten zwei Dutzend junger Männer zu Rittern, die sich bei der Eroberung der Midlands und der Verteidigung von Wallingford besonders hervorgetan hatten. Die Edelleute, Lords und Ritter in der festlich geschmückten Halle ließen ihren jungen König und seine Königin lautstark hochleben. Wenig später zogen Henry und Aliénor sich zurück.
»Irgendwie ist es nicht zu fassen«, murmelte Godric kopfschüttelnd auf dem Weg nach draußen. »Schon wieder ein König auf dem englischen Thron, der kein Wort Englisch kann.«
»Das wird er lernen«, entgegnete sein Bruder zuversichtlich. »Oder spätestens der kleine William. Du weißt doch, wie’s mit den Normannen war. Die haben’s auch irgendwann begriffen.«
Bevor sie sich am nächsten Morgen auf die Heimreise machten, schickte der König nach Simon und Alan. Verwundert folgten die beiden Freunde der Wache zu den königlichen Gemächern, die in einem schlichten, aber stabilen Holzbau nur einen Steinwurf von der Klosterkirche entfernt lagen.
Henry begrüßte sie mit den Worten: »Wir brauchen in Westminster einen neuen Palast … Oh, steht schon auf. Ich krieg jedes Mal einen Mordsschreck, wenn ihr vor mir kniet.«
Alan und Simon erhoben sich und tauschten ein Grinsen.
»Ein neuer Palast, Sire?«, fragte Alan. »Ich hätte gedacht, was gut genug für Urgroßvater William war, sei gut genug für Euch.«
»Er muss unempfindlich gegen Kälte gewesen sein«, gab Henry verdrossen zurück.
»Was vermutlich daran lag, dass er so fett war«, warf die Königin ein, trat über die Schwelle und schloss die Tür. »Lord Helmsby, Lord Wallingford. Eine Freude, Euch zu sehen.« Ihr war es nicht peinlich, als sie vor ihr auf ein Knie sanken, aber sie forderte sie mit einer routinierten und höchst huldvollen Geste umgehend auf, sich wieder zu erheben.
»Es gibt Dutzende von Dingen, die wir zu besprechen haben«, eröffnete Henry seinen beiden Freunden. »Ich verstehe wirklich nicht, warum ihr vor Weihnachten noch nach East Anglia zurückwollt. Ihr müsst wieder aufbrechen, sobald ihr dort seid, wenn ihr zum Hoffest zurück sein wollt.«
»Wir werden uns sputen«, versprach Simon.
»Na schön.« Henry seufzte. »Dann jetzt nur schnell das Wichtigste. Lord Helmsby, ich wünsche, dass Ihr Sheriff von Norfolk werdet.«
Alan sah ihn ungläubig an und schüttelte den Kopf. »Das kannst du dir … könnt Ihr Euch aus Eurem gekrönten Haupt schlagen.«
»Ich glaube nicht, dass es noch angemessen ist, wenn du so mit mir sprichst, Alan«, bemängelte der junge König ein wenig nervös und fügte an Simon gewandt vorwurfsvoll hinzu: »Du solltest ihn doch vorwarnen.«
Simon seufzte verstohlen. »Ich habe es nicht übers Herz gebracht«, gestand er. »Es war so ein froher Tag …«
Alan warf ihm einen vernichtenden Blick zu. »Vielen Dank, alter Freund, dass du mich hier ins offene Messer laufen lässt.«
»Oh, keine Ursache.«
»Alan«, begann Henry beschwörend. »Ich bitte dich …«
»Spart Euch die Mühe«, fiel Lord Helmsby dem König rüde ins Wort. »Ich habe mein halbes Leben damit verbracht, für die Krone Eurer Mutter Krieg zu führen. Jetzt habt Ihr sie. Werdet glücklich damit und lasst mich zufrieden. Ich habe wirklich genug getan und denke nicht daran, in Eurem Namen irgendwelche Unglücksraben aufzuknüpfen oder ihnen die Hände abzuhacken. Und außerdem …«
»Wir werden das Recht reformieren, Alan. Ich schwöre dir, dieses Land wird bessere Gesetze bekommen, als es sie je hatte. Aber ich brauche Männer, auf die ich mich verlassen kann, die es durchsetzen.«
»John de Chesney wird Euch nicht enttäuschen. Er ist ein guter Sheriff.«
»Aber alt und bequem. Du hast selbst gesagt, dass er Norwich nie verlässt. Das ist nicht gut genug. Die Menschen in East Anglia vertrauen dir und verehren dich. Es gibt keinen Mann, der besser geeignet wäre als du.«
»Aber ich will nicht«, widersprach Alan bockig. »Ich will am Feuer sitzen und die Laute spielen und meine Kinder aufwachsen sehen und …«
»Du wirst dich zu Tode langweilen«, prophezeite Simon.
Alan atmete tief durch. »Das werde ich nicht, glaub mir.« Dann sah er zu Henry und wies mit dem Finger auf Simon. »Wie wär’s mit ihm? Da er das Amt des Sheriffs offenbar so erstrebenswert findet …«
»Auf ihn warten andere Aufgaben«, unterbrach Henry ungeduldig.
»Verstehe. Du führst an deinem Hof das offizielle Amt des Geheimnisträgers ein.« Wider Willen musste er grinsen und sagte zu Simon: »Die Intriganten bei Hofe können einem fast leidtun.« Dann wurde er wieder ernst und verneigte sich förmlich vor Henry. »Euer Ansinnen ehrt mich, Sire. Aber ich muss leider ablehnen.«
Henrys Gesicht nahm eine bedenklich purpurne Tönung an, aber ehe er anfangen konnte zu brüllen, sagte die Königin betont verhalten: »Die Entscheidung ist natürlich die Eure, Lord Helmsby. Ihr solltet nur eines bedenken: Als Sheriff von Norfolk läge es in Eurer Hand zu entscheiden, welche Maßnahmen zum Schutz der jüdischen Gemeinde von Norwich getroffen werden. Maßnahmen zu ihrem Schutz ebenso wie Maßnahmen, die die Verständigung mit ihren normannischen und englischen Nachbarn verbessern. Versteht Ihr, was ich meine?«
Betroffen erwiderte er ihren Blick, dann sah er den jungen König an.
Henry seufzte tief und hob die Schultern. »Ich weiß, Alan. Glaub mir, ich kenne keinen Menschen, der ihr an Überredungskunst und schamloser Manipulation das Wasser reichen könnte. Nicht einmal Simon. Wir haben geglaubt, er hätte sie überlistet, mich zu heiraten, aber es war genau umgekehrt. Und ihr könnt euch einfach nicht vorstellen, was ich in den Händen dieser Frau seither an Niederlagen erlitten habe.«
Seine komische Verzweiflung brachte seine Freunde ebenso zum Lachen wie seine Gemahlin, aber Alan warnte: »Denkt nicht, Ihr hättet mich überzeugt. Ich will Bedenkzeit.«
Henry gewährte sie mit seinem huldvollsten Nicken königlicher Gunst. »Also erwarte ich deine Antwort am Dreikönigstag. Aber wenn du ablehnst, enteigne ich dich, leg dich in Ketten und reiß dir das Herz raus, ist das klar?«
Alan verneigte sich nochmals – tief genug, um seine unangemessene Heiterkeit zu verbergen. »Ich werde Eure wüsten Drohungen bei meiner Entscheidung gewissenhaft berücksichtigen, mein König.«
Bury St. Edmunds, Dezember 1154
Eine dünne Schneedecke dämpfte den Hufschlag der Pferde und machte die Nacht hell, und als Alan vor der Klosterpforte absaß, begannen wieder dicke Flocken zu fallen, lautlos und sacht.
»Losian, mir ist kalt«, klagte Oswald. »Und Marigold auch.« Er schälte die Hand aus seinem dicken Mantel und strich seiner geliebten kleinen Stute mitfühlend über die Mähne.
»Schsch«, machte Alan. »Wir müssen leise sein.« Er saß ab und band Conan an einen Eisenring in der Mauer. »Wird nicht lange dauern«, versprach er ihm. Oswald folgte seinem Beispiel.
Alan fischte einen vorbereiteten, in Leder gewickelten Stein aus dem Beutel und warf ihn über das Holztor der Klostermauer. Augenblicklich öffnete sich die schmale Pforte, die in das doppelflügelige Tor eingelassen war, aber niemand zeigte sich.
Alan nahm Oswald beim Arm und zog ihn ins Innere. Als die Tür sich schloss, erkannten sie Simon, Godric und Wulfric. Seit dem Nachmittag hatten sie sich im Kloster versteckt, um ihre Gefährten bei Nacht einlassen zu können.
»Alles in Ordnung?«, fragte Alan gedämpft.
Simon nickte. »Aber wir sollten nicht trödeln. In einer Stunde ist die Mette. Wir müssen verschwunden sein, ehe die Mönche in die Kirche kommen.«
»Dann lasst uns gehen«, sagte Alan.
Er führte die Gefährten über den Innenhof zum Westportal der Klosterkirche. Wie erwartet war es unverschlossen. Leise schlüpften sie hinein.
»Ganz schön finster«, murmelte Godric, und es klang, als sei ihm ein wenig mulmig.
»Wartet hier einen Moment.« Vorsichtig durchschritt Alan das dunkle Kirchenschiff, trat an den Altar und entzündete seine vorbereitete Fackel am ewigen Licht. »Ich hoffe, das ist nicht verboten, Gott, aber wir führen nichts Unrechtes im Schilde.«
Das Licht wies seinen Freunden den Weg, und langsam kamen sie näher. Als sie aufgeschlossen hatten, umrundeten sie zusammen den Altar, und der Fackelschein fiel auf einen länglichen Quader, der zwischen Altarraum und Chorgestühl auf einem steinernen Podest stand und von einem feinen Tuch bedeckt war: Es war ein vortrefflich gearbeiteter Bilderteppich, der das Martyrium des heiligen Edmund zeigte.
Alan wies mit der freien Hand darauf. »Meine Großmutter hat ihn gestickt. Kaum war er fertig, ist sie gestorben.«
»Oh, jetzt reicht’s aber, Alan«, grollte Wulfric. »Mir ist so schon grauslig genug.«
Oswald rückte unauffällig ein wenig näher an Alan heran, zeigte aber gleichzeitig auf den an den Baum gefesselten Märtyrer und sagte: »Genau, wie er’s uns immer erzählt hat.« Die Übereinstimmung von Bild und Geschichte schien ihn auf eigentümliche Weise zu beruhigen.
»Du hast recht«, befand Simon und wechselte einen Blick mit Alan. »Wollen wir das wirklich tun?«
»Wir sind den ganzen weiten Weg hergekommen. Also werden wir jetzt nicht kneifen. Hier, Oswald, halt die Fackel.«
Behutsam hoben Alan und Simon den kostbaren Teppich an den Ecken hoch, staunten darüber, wie schwer er sich anfühlte, falteten ihn sorgsam zusammen und legten ihn beiseite. Was sie enthüllt hatten, war ein steinerner Sarg, der keine Inschrift trug und bis auf ein eingemeißeltes Zahnmuster am Deckelrand schmucklos war. Genau wie der Abt ihm erzählt hatte, saß der Deckel nicht ganz passgenau und schien ein wenig verrutscht zu sein.
Während Oswald ihnen leuchtete, verständigten Simon, Alan und die Zwillinge sich mit einem Blick. Letztere legten die Hände ans Fußende des Deckels, die anderen beiden ans Kopfende, und unter einigem Ächzen drehten sie den schweren Sargdeckel, bis er quer zum eigentlichen Sarg lag und sie hineinspähen konnten.
Alle brauchten sie einen Moment, bis sie den Mut dazu fanden. Dann nahm Alan Oswald die Fackel wieder aus der Hand und streckte sie über dem Sarg aus. Was sie beleuchtete, war ein sauberes, gelbliches Skelett in einem verfallenen Gewand, das möglicherweise einmal eine Kutte gewesen war. Ein paar wirre, brüchige Haare umgaben den Totenschädel, aber man konnte unmöglich sagen, welche Farbe sie einmal gehabt haben mochten.
Oswald zog erschrocken die Luft ein, fuhr zurück und bekreuzigte sich, aber dann beugte er sich wieder über die Gebeine des Heiligen, unfreiwillig, so schien es, als sei er magisch angezogen. »Wird er sich plötzlich aufsetzen und einen von uns packen?«, flüsterte er.
»Nein«, versicherte Alan. »Er schläft tief und fest, und zwar seit fast dreihundert Jahren.« Es klang ernüchtert.
Er konnte beim besten Willen nicht sagen, was er hier zu finden gehofft oder erwartet hatte. Aber irgendwie hatte er geglaubt, heilige Gebeine müssten anders aussehen als die gewöhnlicher Sterblicher. Nicht so jämmerlich vergänglich.
»Tja«, machte Wulfric, atmete tief durch und trat einen Schritt zurück, wie üblich in perfekter Harmonie mit der Bewegung seines Bruders. »Nun haben wir ihn gesehen und nichts gefunden, was uns klüger macht.«
»Ich schätze, töricht wie wir waren, haben wir nichts anderes verdient«, stimmte Simon zu.
Alan hörte, dass es ihnen genauso erging wie ihm selbst: Sie waren enttäuscht, ohne zu wissen, worüber genau. »Kommt. Lassen wir den armen Edmund in Frieden ruhen.«
Er legte die Hände wieder an den Deckel, als Oswald mit dem Finger auf die Mitte des Skeletts zeigte. »Da, sieh mal, Losian.«
Alan trat wieder zu ihm, und auf der anderen Seite beugten sich Simon und die Zwillinge über den Sarg.
»Er trägt ein altes Jagdmesser am Gürtel«, erkannte Simon verblüfft. »Oder was vom Gürtel übrig ist. Seltsame Beigabe für einen Heiligen, oder? Und außerdem … Alan? Was hast du?«
Alan war plötzlich zurückgewichen. »Seht es euch noch mal genau an«, riet er. Mit einem Mal schlug ihm das Herz bis in die Kehle, und seine Hände waren klamm.
Er leuchtete ihnen wieder, und Simon und die Zwillinge beugten sich noch ein bisschen weiter vor, bis auch sie die Waffe erkannten und erschrocken die Luft einzogen.
»Das ist deins«, sagte Oswald schließlich. »Dein Messer von der Insel, Losian.«
Alan nickte. »Aber wie kommt es hierher?«
Oswald war als Einziger völlig gelassen. »Er hat’s aus Helmsby mitgenommen, bevor er weggegangen ist.«
Alan sah ihn an. Sie hatten noch nicht häufig über Edmunds Fortgehen gesprochen, weil das Thema für sie beide schmerzlich war, aber mit einem Mal schien Oswald mit dem Verlust ihres sonderbaren Hirten versöhnt zu sein.
»Was hat er zu dir gesagt, als er aufbrach?«, fragte Alan.
Oswald hob die rundlichen kleinen Hände. »Ich muss noch was erledigen, und dann geh ich zu Jesus. Oder so ähnlich.«
Alan wies auf die Gebeine. »Du meinst also, das da ist unser King Edmund?«
Oswald sah ihn verständnislos an. »Ja, wer denn sonst? Was ist mit dir, Losian? Du hast gesagt, wir reiten zu seinem Grab.«
Alan musste sich räuspern. Er wusste überhaupt nicht mehr, was er denken sollte.
»Es kann nicht sein«, murmelte Simon mit Nachdruck. Er klang beinah wütend. »Alan, das ist unmöglich.«
»Ja, ich weiß«, räumte Alan ratlos ein.
»Es könnte Dutzende Erklärungen dafür geben, wie das Messer in den Sarg kommt«, sagte Godric. Aber auch er klang nervös. »Vermutlich war er selbst hier und hat es reingeschmuggelt, weil er genau wusste, dass wir früher oder später herkommen würden. Er hat uns einen Streich gespielt. Sieht ihm ähnlich, oder?«
»Nein«, antworteten die anderen im Chor.
Godric schnalzte mit der Zunge – es hallte eigentümlich in der stillen Kirche. »Mist. Ihr habt recht. Und was nun?«
Niemand antwortete.
Schließlich sagte Simon: »Wir werden hier keine Lösung dieses Rätsels finden. Also lasst uns den Sarg schließen, einen Augenblick beten und dann verschwinden.«
Und das taten sie.
Als sie das Kirchenportal erreichten, hielten sie noch einmal inne und schauten zurück. Bewegte sich dort etwas im Schatten hinter dem Altar? Oder war es nur das Flackern des kleinen Lichts, welches das Auge täuschte?
Simon atmete tief durch, und im Schein der Fackel sah man die große Dampfwolke, die sein Atem in der Winterluft bildete. »Mir ist kalt und mir graut«, brummte er.
»Mir auch«, stimmten die Zwillinge im Chor zu.
Alan legte die Hand an die Tür. »Ruhe in Frieden, King Edmund. Kommt, Freunde. Nichts wie raus hier.«
Oswald schüttelte den Kopf. »Also ehrlich«, sagte er. »Manchmal seid ihr merkwürdig.«
E * N * D * E
Historische Anmerkungen und Dank
Henry II. herrschte fünfunddreißig Jahre lang über England und seine Besitzungen in Frankreich und begründete zusammen mit seiner außergewöhnlichen Frau eine der faszinierendsten Herrscherdynastien des Mittelalters. Der kleine Prinz William wurde nur drei Jahre alt, aber ihm folgten vier weitere Söhne und drei Töchter. Louis von Frankreich war not amused.
Henrys Regierungszeit war so stürmisch wie sein Temperament: Mit einer unbedachten Äußerung initiierte er die Ermordung seines Freundes Thomas Becket, der inzwischen Erzbischof von Canterbury geworden war und auf diese Art und Weise tatsächlich ein Märtyrer und Heiliger wurde, womit er wohl nie gerechnet hätte. Der Bischofsmord war ein Ereignis, das die gesamte Christenheit bis in die Grundfesten erschütterte, für Henry ein politischer Super-GAU und eine persönliche Tragödie. Auch mit seinen Söhnen hatte er es nicht gerade leicht. Sie führten ewig Krieg gegen ihn oder untereinander, sobald sie alt genug waren, ein Schwert in der Hand zu halten. Die Ehe mit Aliénor (oder Eleanor, wie sie meist genannt wird) wurde eine Katastrophe. Henry betrog sie ständig, und als sie mit ihren Söhnen gegen ihn paktierte, ließ er sie jahrelang einsperren. Sie überlebte ihn allerdings um fünfzehn Jahre, kehrte nach seinem Tod zurück zu politischer Macht und dürfte sich wohl als Siegerin in diesem langen Ehekrieg betrachtet haben, zumal es ihr Lieblingssohn Richard (später »Löwenherz« genannt) war, der ihren leidenschaftlich gehassten Gemahl fast buchstäblich ins Grab trieb.
Dank seines politischen Talents und seiner legendären Tatkraft wurde Henrys Herrschaft über England eine Blütezeit. Die Wunden, die die Anarchy geschlagen hatte, heilten erstaunlich schnell, denn Henry band auch die einstigen Gegner seiner Mutter in die Regierung ein. Nur William of Gloucester und Richard de Clare kamen bei ihm nie auf einen grünen Zweig. Niemand weiß so recht, woran das lag, also habe ich mir hier wieder einmal erlaubt, die Gründe zu erfinden.
Das neue Rechtssystem, das Henry einführte, war bahnbrechend und hat teilweise bis heute Bestand. Es stimmt übrigens, dass er 1147 im Alter von vierzehn Jahren nur mit einer Handvoll Ritter nach England kam, um die Krone seiner Mutter zu erkämpfen, seine Gefährten und sein Geld aber verlor und allein durch East Anglia irrte, bis König Stephen ihm schließlich aus der Klemme half und ihn zurück nach Hause schickte. Die Mär vom Dämonenblut ist ebenso belegt wie Henrys Nähkünste, und »Bei den Augen Gottes« war tatsächlich sein liebster Ausspruch, denn der galt als extrem blasphemisch, und Henry gefiel sich in der Rolle des Enfant terrible.
Zwei Legenden sind Ihnen in diesem Roman begegnet, die im kollektiven Bewusstsein des englischen Hochmittelalters eine wichtige Rolle gespielt haben. Die eine ist die des Gerberlehrlings William of Norwich, der 1144 starb − angeblich als Opfer eines von Juden verübten Ritualmords. Natürlich entbehrt dieser Vorwurf jeder Grundlage, aber in der Geschichte des nachbarschaftlichen Zusammenlebens von Christen und Juden ist es immer wieder zu solchen Unterstellungen gekommen. William of Norwich war – jedenfalls nach Lage der Quellen − lediglich der erste von vielen solcher Fälle im europäischen Mittelalter. Das Zusammenleben von Juden und Christen gestaltete sich oft schwierig, da es von Vorurteilen, Misstrauen und vor allem Unkenntnis auf beiden Seiten geprägt war, was sich nie besserte, weil die geistlichen Führer beider Religionen gesellschaftliche Kontakte zwischen Angehörigen der beiden Gemeinschaften missbilligten und teilweise gar verboten. Trotzdem sind auch Fälle von Freundschaften, von zum Judentum übergetretenen Christen und zum Christentum konvertierten Juden und sogar von Mischehen belegt. Letztere zogen den Verstoß aus der Glaubensgemeinschaft, Enteignung und/oder ruinöse Geldstrafen nach sich.
Die zweite Legende ist die des heiligen Edmund. Sie deckt sich etwa mit der Geschichte, die King Edmund im Roman in der Kirche von Gilham erzählt. Die gesicherten Fakten über diesen angelsächsischen König sind hingegen eher dünn. Laut einem knappen Bericht der Angelsachsenchronik schlug das dänische Invasionsheer Edmunds Armee im Jahr 869 und tötete den König. Die Legendenbildung und Heiligenverehrung begannen kurz darauf. Nach seinem Tod an unbekannter Stelle begraben, wurden die sterblichen Überreste im Jahr 906 in das Kloster überführt, das später Bury St. Edmunds genannt wurde und welches Dank seines berühmten Heiligen eines der reichsten und mächtigsten Klöster im mittelalterlichen England wurde. Wie der Schrein im 12. Jahrhundert aussah, wissen wir nicht, nur dass er hinter dem Hochaltar stand. Er wurde 1327 erstmals demoliert (von wütenden Bürgern der Stadt übrigens, die Streit mit den Mönchen hatten), und der im gotischen Stil wiedererbaute Schrein wurde bei der Aufhebung des Klosters 1539 zerstört – zusammen mit der Abteikirche.
Der heilige Edmund war während des gesamten Mittelalters so berühmt, dass er Pilger aus ganz Europa anzog, und er war Englands Nationalheiliger, bis der Drachentöter St. Georg ihn im 14. Jahrhundert aus dieser Position verdrängte.
Es ist übrigens wahr, dass Eustache de Boulogne nach der Einigung zwischen seinem Vater und Henry Plantagenet bei Wallingford nach East Anglia zog und die Umgebung von Bury St. Edmunds verwüstete. Die Umstände, unter welchen er dabei ums Leben kam, sind nicht ganz geklärt, aber die Leute in East Anglia sagten damals, der heilige Edmund habe seine Hand im Spiel gehabt …
Geistig und körperlich behinderte Menschen und ihr Platz in der mittelalterlichen Gesellschaft sind nicht ganz einfach zu recherchieren, weil über das Thema nicht viele Quellen existieren. Mary und Eliza, die zusammengewachsenen Zwillingsschwestern aus Biddenden, von denen der Wachsoldat in Westminster Simon erzählt, hat es tatsächlich gegeben. Sie starben 1134 mit Mitte dreißig und beide innerhalb weniger Stunden, weil die überlebende Schwester eine Trennung ablehnte. Noch heute verteilt man in Biddenden zu Ostern kleine Küchlein mit einer Abbildung von Mary und Eliza, um an ihre ungewöhnliche Großzügigkeit zu erinnern.
Psychopathische Serienmörder wie Reginald de Warenne sind keine Erscheinung unserer Zivilisation, wie mancher vielleicht annimmt, sondern gab es immer schon. Ihr berüchtigtster Vertreter im Mittelalter war natürlich Gilles de Rais, jener adlige Kampfgefährte der Jungfrau von Orléans, der nach ihrem Tod tiefer und tiefer in Okkultismus und sexuelle Perversion sank und – nach vorsichtigen Schätzungen – 140 Kinder und Jugendliche beiderlei Geschlechts missbrauchte und ermordete, ehe er 1440 hingerichtet wurde. Eigentlich wollte ich einen Roman über Gilles schreiben. Doch als ich mir die Frage stellte, ob ich wirklich zwei Jahre meines Lebens – so lang brauche ich ungefähr für einen Roman – in seiner Gesellschaft verbringen wollte, lautete die Antwort: Nein, vielleicht lieber doch nicht. Dennoch hat mich das Thema nie losgelassen, nicht zuletzt auch der Aspekt, wie lange und mühelos ein Angehöriger des Adels Kinder aus der bäuerlichen Unterschicht verschwinden lassen konnte, ehe der Justizapparat sich in Bewegung setzte und wenigstens einmal nachfragte.
Das Down-Syndrom, das Sie vermutlich bei Oswald diagnostiziert haben, hielt man lange für ein Phänomen der Neuzeit, weil es erst im 19. Jahrhundert wissenschaftlich beschrieben wurde. Inzwischen sind aber 3000 Jahre alte Ton- und Steinfiguren und spätmittelalterliche Gemälde entdeckt worden, die Menschen mit typischen Merkmalen dieser genetischen Anomalie zeigen.
Epilepsie, die angeboren oder durch eine Verletzung verursacht sein kann, wird schon bei den alten Ägyptern und Babyloniern beschrieben. In der Antike galten Epileptiker als Lieblinge der Götter. Alexander der Große und Julius Caesar litten daran, um nur zwei der berühmtesten Vertreter zu nennen. Im Mittelalter ließ die Beliebtheit der Betroffenen merklich nach. Nicht immer, aber auch nicht selten wurde Epilepsie als göttliche Strafe angesehen oder als Besessenheit diagnostiziert, der man mit Exorzismen beizukommen suchte.
Die Lehrmeinung der mittelalterlichen Wissenschaft zu Ursachen körperlicher und geistiger Behinderungen oder psychischer Störungen war nicht einheitlich, ebenso wenig die Beantwortung der Frage, wie Betroffene zu behandeln seien und welchen Platz in der Gesellschaft sie einnehmen sollten. Der Schönheitswahn, der heutzutage die Umsätze der plastischen Chirurgen ankurbelt, war im Mittelalter unbekannt. Arm- und Beinstümpfe von Kriegsverletzungen, Fehlbildungen, Hauterkrankungen etc. gehörten zum Alltagsbild, und niemand wäre auf die Idee gekommen, sich sonderlich darüber aufzuregen. Doch gab es eben auch eine kirchliche Lehrmeinung, die besagte, dass geistig Behinderte keine Seele haben und Menschen mit körperlichen Fehlbildungen nicht nach Gottes Ebenbild erschaffen seien und man sie deshalb separieren müsse, weil der Gemeinschaft der Christen ein Zusammenleben mit diesen Personengruppen nicht zuzumuten sei. Als die Lepra sich im späteren Mittelalter auf dem Rückzug befand, war die Praxis verbreitet, Behinderte in den nicht mehr benötigten Leprosarien einzusperren. Es gab indes auch zu dieser frühen Zeit schon Gelehrte, die psychische Störungen als medizinisches Phänomen verstanden und zu behandeln versuchten. Da die gesamte medizinische Wissenschaft aber bei Muslimen, Juden und Christen gleichermaßen auf der antiken Lehre von den vier Körpersäften basierte, waren ihre Fortschritte eher bescheiden. Die explosive Mischung aus Hypnose und Drogen, mit der Josua ben Isaac Alan im Roman zu helfen versucht, habe ich erfunden, aber Behandlungsansätze mit Hypnose, Diäten und Bädern sind ebenso belegt wie leider auch die glühenden Stahlstifte.
Lange habe ich nach der geeigneten Form und den richtigen Figuren gesucht, um die Geschichte vom Untergang des White Ship und all dem, was danach geschah, zu erzählen, so wie ich es im Nachwort von Das zweite Königreich in Aussicht gestellt habe, und um dieser Epoche gerecht zu werden, die ihren Namen – The Anarchy – wahrhaftig zu Recht trägt. Oder besser gesagt: Ich habe lange auf die geeignete Form und die richtigen Figuren gewartet. Irgendwann kommen sie nämlich ganz von selbst, hat die Erfahrung mich gelehrt, und so war es auch dieses Mal. Das erste Steinchen zum Mosaik dieses Romans fand ich auf höchst angenehme Art, nämlich im Urlaub auf Kreta, wo ich von der Terrasse einen wundervollen Blick auf die kleine vorgelagerte Insel Spinalonga hatte. In der alten venezianischen Festung auf diesem Inselchen verwahrte die griechische Regierung bis in die 50er-Jahre des 20. Jahrhunderts Leprakranke. Als mein Mann und ich die Insel besuchten, betraten wir die Festung durch ein gewaltiges Tor, und ich bekam ganz weiche Knie. Wie muss es sich angefühlt haben, habe ich mich gefragt, wenn man als Kranker durch dieses Tor kam? Mit der Gewissheit, dass man die Insel nie wieder verlassen würde? Die Erinnerung an dieses Erlebnis hat mich lange begleitet, aber bei den ersten Überlegungen, einen Roman daraus zu machen, stellte ich bald fest, dass Lepra nicht das Thema war, das ich suchte. Dann las ich wenige Monate später im stern einen Bericht über siebzehn psychisch kranke und drogenabhängige Männer, die zusammen vor dem Hurrikan Katrina aus einem Obdachlosenasyl in New Orleans geflohen waren und während ihrer langen Odyssee so gut aufeinander achtgegeben hatten, wie sie eben konnten. Diese Geschichte fand ich ebenso faszinierend wie anrührend, und sie wurde zur Initialzündung dieses Romans. Mein herzlicher Dank gilt daher dem Autor Jan Christoph Wiechmann. Ich wünschte, ich könnte so großartige Geschichten in so knapper Form schreiben, aber wie man an diesem Buch hier wieder einmal unschwer erkennen kann, ist es mir einfach nicht gegeben, mich kurzzufassen.
Danken möchte ich auch all den fachkundigen Menschen, die mir bei der Recherche geholfen und meine vielen Fragen beantwortet haben, insbesondere Guido Gerhards, der sich mit Kreuzzügen und der Topographie im Heiligen Land des 12. Jahrhunderts auskennt, Jens Börner, der mir höchst interessante Dinge über Fecht- und Waffentechnik erklärt hat, Dr. Oliver Walter für seine Ausführungen zur dissoziativen Amnesie und deren Wahrscheinlichkeit oder Unwahrscheinlichkeit im 12. Jahrhundert, meiner Schwester Dr. Sabine Rose wieder einmal für die geduldige Beantwortung aller anderen medizinischen Fragen und mindestens so geduldiges Testlesen, meinem Neffen Dennis Rose für seine »Free-Regy«-Kampagne, die mir das tröstliche Gefühl gegeben hat, dass ich nicht die Einzige mit einer befremdlichen Schwäche für diese Romanfigur war, meiner Schwester Regina Hütter für anregende freitägliche Gespräche über Historie und die Wissenschaft ihrer Erforschung, meinem Vater Wolfgang Krane nicht nur fürs Testlesen, sondern auch für das Schreib-Gen, meiner Mutter Hildegard Krane für die Organisation von Du-weißt-schon-was und das Geschichts-Gen, meiner Lektorin Karin Schmidt, meinem Agenten Michael Meller, Detlef Bierstedt und Andreas Fröhlich für ihre Stimmen, und wo ich gerade beim Thema bin, nutze ich die Gelegenheit, an dieser Stelle auch Renate Schönbeck, Carolin Bunk, Claudia Baumhöver, Ariane Skupch, Axel Pleuser, Udo Schenk, Matthias Koeberlin, Max von Pufendorf, Christina Kühnreich und allen anderen für die grandiosen Hörspiele zu danken.
Es hat ja schon Tradition, dass der letzte und wichtigste Platz in dieser Liste guter Geister meinem Mann Michael vorbehalten bleibt, und das ist auch dieses Mal wieder so, denn wie immer gebührt ihm mein größter Dank. Für seine ungebrochene Lust und Akribie als erster Testleser, seine vielfältige Unterstützung meines Schaffens, Begleitung auf all meinen Reisen und tausend andere Dinge. Und für einen Rat, den er mir vor fünfzehn Jahren einmal gegeben hat – wo er doch so ungern Ratschläge erteilt wie Gildor Inglorion aus Finrods Geschlecht –, ohne den ich aber nie einen historischen Roman geschrieben hätte.
R.G., Mai 2007 – November 2008