Wallingford, August 1153

Sie blieben einige Tage in Wallingford, weil Henry den mit Stephen vereinbarten Abriss von Crowmarsh Castle am anderen Themseufer persönlich überwachen wollte. Die Garnison der Burg war mit Stephen abgezogen. Richard de Clare war indes zu Henry gekommen und hatte ihn gebeten, ihn in seinen Dienst zu nehmen. Henry hatte eingewilligt, denn Simons Cousin war der Earl of Pembroke und somit ein mächtiger Mann in Wales und den Grenzmarken. »Aber vergeben kann ich ihm nicht und trauen erst recht nicht«, hatte er Simon und Alan nach der kurzen Unterredung anvertraut. »Ich habe ihn nach Hause geschickt. Da kann er von mir aus versauern.«

Er übertrug die Organisation des Abrisses Simon und den Zwillingen, denen es Befriedigung gab, die Burg dem Erdboden gleichzumachen, wo sie so grauenvolle Stunden hatten erleben müssen. Die Palisaden und jede Menge anderes Bauholz von Crowmarsh wurden verwendet, um die Befestigungen und Gebäude von Wallingford Castle zu reparieren. Die restlichen Holztrümmer ließen sie liegen, denn sie wussten, die Bauern, die vereinzelt noch in der Gegend lebten, waren immer dankbar für Brennholz, und tatsächlich schrumpfte der Trümmerberg Nacht für Nacht.

In der ersten Augustwoche rüsteten sie sich zum Aufbruch. Alan und der Earl of Leicester hatten Henry eindringlich geraten, in die sicheren Midlands zurückzukehren, bis die Vertragsverhandlungen zwischen dem Erzbischof von Canterbury und dem Bischof von Winchester so weit fortgeschritten waren, dass sie seine Anwesenheit in Winchester erforderten.

Schweren Herzens willigte Henry ein. »Meinetwegen ziehen wir also zurück in die Midlands. Ich habe nur Zweifel, ob man dort ebenso herrlich jagen kann wie hier.«

»Ihr werdet staunen, Monseigneur«, prophezeite Leicester. »Womöglich noch besser. Überall in England lässt sich gut jagen. Reitet von welchem Ort auch immer in jede beliebige Richtung − nach spätestens einer Meile kommt ihr in den Wald. Und ich schwöre Euch: Kein Wald in Frankreich kann sich mit unserem hier messen, was Schönheit und Wildreichtum angeht.«

Henry seufzte glücklich. »Oh, Robert. Ich glaube, ich werde es lieben, König von England zu sein.«

Alan und Simon lachten, leerten ihren Becher und standen auf.

»Wo soll’s denn hingehen?«, fragte Henry – rastlos wie üblich – und sprang auf. »Ich begleite euch.«

Alan war im Begriff, mit dem Proviantmeister zu besprechen, was sie für den Marsch zurück in die Midlands noch an Vorräten brauchen würden. »Mach dich lieber auf die Suche nach einem Trainingspartner und geh auf den Sandplatz«, riet er. »Oder nimm ein Bad in der Themse. Es gehört sich nicht für den zukünftigen König, sich persönlich um Nebensächlichkeiten wie Proviant zu kümmern.«

Henry schüttelte trotzig den Kopf. »Ich werde ein König sein, der sich um alles persönlich kümmert«, entgegnete er und hob einen belehrenden Zeigefinger. »Je eher sich alle daran gewöhnen, desto besser.«

Sie hatten den Eingang der Halle fast erreicht, als dort ein kleiner Tumult ausbrach. Offenbar versuchte schon wieder irgendwer, der hier nichts verloren hatte, einzudringen und Henry irgendein Anliegen vorzutragen.

»Was gibt es denn?«, fragte Simon und beschleunigte seine Schritte.

Die beiden Wachen verstellten tatsächlich jemandem den Zutritt. Einer der Männer wandte den Kopf. »Hier ist ein abgerissener Priester, der darauf besteht …«

»King Edmund!«, unterbrach Simon verdutzt. »Lasst ihn eintreten«, befahl er den Wachen.

Alan war stehen geblieben. Seine Hände wurden feucht, und sein Herzschlag hatte sich beschleunigt. Er wusste, es konnte nichts Gutes zu bedeuten haben, wenn King Edmund sich auf die Suche nach ihnen gemacht hatte. Schweigend sah er ihm entgegen und fand seine Befürchtung bestätigt, als Edmund über die Schwelle trat und ihm in die Augen sah.

»Gott sei gepriesen, dass ich dich gefunden habe, Alan«, sagte er. Er war ein wenig außer Atem nach seinem Gerangel mit der Wache, und seine Augen waren weit aufgerissen. Er wirkte verstört und angstvoll und tatsächlich ein wenig verrückt.

»Was ist passiert?«, fragte Alan, dessen Mund so trocken war, dass er die Worte kaum herausbekam.

Edmund umklammerte seinen Arm. »Eustache de Boulogne ist in East Anglia eingefallen und …«

»Ist er in Helmsby?«, fragte er, und gleichzeitig flehte er: Bitte, Gott, nicht Miriam und die Kinder. Und bitte nicht Oswald. Er wusste, wie verwerflich es war, zuerst an die Seinen zu denken und dass Gott sie ihm vielleicht genau deswegen genommen hatte, aber er konnte nicht anders.

»Nein«, hörte er Edmund sagen, der immer noch an seinem Arm rüttelte.

Alan befreite sich von seinem Griff, nicht mit einem unwilligen Ruck, aber bestimmt. »Spann uns nicht auf die Folter, King Edmund. Erzähl uns, was passiert ist. Hier, besser, du setzt dich hin.« Er führte ihn zu einer Bank.

Edmund sank ein bisschen zu schnell darauf nieder, weil seine Knie vermutlich weich waren. Alan erging es nicht besser, und er setzte sich zu ihm. Henry und Simon waren ihnen gefolgt, und Simon schenkte Ale in einen Becher und reichte ihn Edmund.

»Danke, mein Sohn«, murmelte der zerstreut, trank aber nicht. »Er kam mit zwei Dutzend übler Gesellen von Südwesten und hat in Suffolk gewütet, Dörfer niedergebrannt und Kirchen geplündert. Und jetzt verwüstet er die Umgebung von Bedericsworth …« Er konnte nicht weitersprechen.

»Bedericsworth?«, wiederholte Simon. »Wo ist das?«

Kaum jemand kannte den alten Namen des kleinen Ortes noch, wusste Alan, denn die meisten nannten ihn heute Bury St. Edmunds, weil im dortigen Kloster die Gebeine des berühmten angelsächsischen Märtyrerkönigs verwahrt wurden.

»Alan.« King Edmund starrte ihn unverwandt an. »Was, wenn er mein Grab plündert? Du musst irgendetwas tun. Und zwar schnell.« Er sprach jetzt gefasster und mit Autorität, aber Alan sah das Entsetzen immer noch in seinen Augen.

Er hatte keine Ahnung, was genau es war, das ihren seltsamen Heiligen an der Vorstellung so erschreckte, jemand könne sein Grab schänden, da es in seiner Vorstellung doch ganz gewiss leer sein musste. Aber die Frage war im Grunde nicht von Bedeutung. »Ich mache mich sofort auf den Weg, King Edmund«, versprach er und stand auf.

Simon hatte leise für Henry übersetzt.

»Ähm, entschuldige, Alan«, begann dieser nun verwirrt. »Aber du kannst jetzt nicht …«

Alan packte ihn unsanft am Arm und zog ihn in einen stillen Winkel. »Wir dürfen Eustache nicht einfach gewähren lassen«, sagte er eindringlich. »Das Kloster von Bury St. Edmunds ist reich, der Abt ein mächtiger Mann. Er wird es sehr zu schätzen wissen, wenn er sieht, dass du ihm Hilfe geschickt hast, um sein Haus zu beschützen.«

»Und das Wohlwollen eines mächtigen Abts können wir gut gebrauchen«, fügte Simon hinzu, der ihnen gefolgt war.

Henry brummte missvergnügt. »Kann nicht jemand anderes sich um Eustache kümmern? Ich will dich an meiner Seite, wenn wir zu den Verhandlungen nach Winchester gehen, Alan.«

»Das ist sehr schmeichelhaft«, erwiderte dieser. »Aber dort sind Simon und Thomas Becket viel wertvoller für dich als ich. Außerdem bin ich bis dahin längst zurück, so Gott will.«

Henry verschränkte die Arme und sah ihn an. »Du wirst dich nicht davon abbringen lassen, ganz gleich, was ich sage, richtig?«

»Richtig.«

»Würde es etwas ändern, wenn ich es verbiete?«

Alan sagte weder Ja noch Nein. Noch trug Henry die Krone nicht und konnte ihm daher rein gar nichts verbieten, aber dennoch wollte Alan lieber mit seinem Segen gehen als ohne. »Es ist meine Heimat, Henry. Die Menschen dort haben genug gelitten unter dem Krieg und unter Geoffrey de Mandeville. Wenn du ihr König sein willst, dann lass mich gehen und sie beschützen. Niemand sonst wird es tun.«

»Warum nicht?«, fragte sein junger Cousin verständnislos. »Gibt es keinen … wie heißen die Grafen gleich wieder in England … Earl, richtig? Gibt es keinen Earl of Norfolk und Earl of Suffolk?«

»Oh ja. Hugh Bigod ist beides. Er hat mehr oder weniger standhaft aufseiten deiner Mutter gekämpft, aber er hält sich lieber am Hof des Erzbischofs von Canterbury auf, als in den Fens und Wäldern und Dörfern seiner Grafschaften nach dem Rechten zu sehen. Und der Sheriff von Norfolk hat nicht genug Macht, Geld und Männer, um der Anarchie in East Anglia irgendetwas entgegenzusetzen. Mehr als in Norwich für Ordnung zu sorgen, kann er nicht tun. Das Land liegt für jeden Halunken offen, der die Hand danach ausstreckt.« Er gab sich keine große Mühe, seine Verbitterung über diese Missstände zu verbergen.

Henry betrachtete ihn einen Moment versonnen und erwiderte dann: »Ich sage dir, das werden wir ändern, wenn ich König bin.«

»Bury St. Edmunds kann nicht so lange warten.«

»Na schön. Dann geh.«

»Aber nicht allein«, sagte Simon kategorisch.

Alan nickte ihnen beiden zu und wollte sich abwenden, ohne zu antworten, aber Simon verstellte ihm den Weg. »Das kann nicht dein Ernst sein.«

»Ich kann keine Armee nach Bury St. Edmunds führen, Simon«, erkläre Alan ungeduldig. »Ihr braucht hier jeden Mann. Und mit Verlaub: Mit Eustache werd ich am besten allein fertig.«

»Oh, gewiss«, höhnte Simon. »So wie damals mit Geoffrey de Mandeville, nicht wahr?«

Alan runzelte ärgerlich die Stirn. »Willst du mir vorwerfen, dass ich ihn nicht gefunden habe?«

»Nein. Ich werfe dir vor, dass du aus deinen Fehlern nichts lernst. Du hast dich allein auf den Weg gemacht, um ihn zu stellen, und das hat dir drei Jahre Seeluft auf der Isle of Whitholm eingebracht. Und doch willst du jetzt wieder allein gehen. Weil deine Unabhängigkeit dir kostbarer ist als alles andere auf der Welt und du dir und deinen Bewunderern beweisen musst, dass du es immer noch kannst, immer noch am besten alles allein vollbringst. Dafür gehst du unverantwortliche Risiken ein und nimmst nicht die geringste Rücksicht auf die Menschen, die zurückbleiben und um dich trauern müssen, solltest du wieder verschwinden. Dieses Mal vermutlich endgültig.«

Alan fühlte ein sengendes Prickeln in den Fingerspitzen, so sehr verlangte ihn danach, die Faust zu ballen und Simon das Maul zu stopfen. So wie der verlorene Mann ohne Gedächtnis es getan hatte an dem eisigen Wintermorgen nach der Sturmnacht auf der Isle of Whitholm, als Simon de Clare ihm zum ersten Mal ein paar unangenehme Wahrheiten gesagt hatte. Aber heute gelang es Alan, sich zu beherrschen. Er beschränkte sich darauf, Simon einen vernichtenden Blick entgegenzuschleudern, dann ging er wortlos zurück zu King Edmund und setzte sich neben ihn auf die Bank.

Den Kopf gesenkt, die Hände auf die Knie gestützt, dachte er nach. Simons Vorwürfe hatten verdächtige Ähnlichkeit mit dem, den sein Onkel Gloucester ihm einst gemacht hatte. Wenn du das je wieder tust, wirst du aus meinen Diensten scheiden müssen. Ich habe nichts unversucht gelassen, dich zur Vernunft zu bringen. Aber du bist wie besessen.

War er das wirklich immer noch? Besessen von der Idee, den Krieg eigenhändig gewinnen zu müssen, weil er seinen jungen Vater mit seiner bevorstehenden Geburt in ein feuchtes Grab gelockt hatte?

Was für ein Irrsinn. Hatte er nicht längst begriffen, dass nichts von dem, was passiert war, seine Schuld war? Wie kam es dann nur, dass er immer wieder in die gleiche Falle zu tappen drohte? Statt endlich das zu tun, was er Robert of Gloucester auf dem Sterbebett versprochen hatte.

Alan wandte den Kopf ein klein wenig und stellte fest, dass King Edmund ihn belauerte.

»Was?«, fragte Alan unwirsch.

»Er hat recht, mein Sohn.«

»Du hast doch gar nicht verstanden, was er gesagt hat.«

»Nicht die Worte, aber den Sinn. Er hat recht, und das weißt du selbst am allerbesten.«

Alan nickte unwillig, stand auf und kehrte zu Simon zurück. »Also schön. Dann sag mir, was ich deiner Meinung nach tun soll. Wenn ich dich mitnehme, werden die Zwillinge nicht zurückbleiben wollen. Aber sie können nicht reiten und werden uns aufhalten. Wie werden sie sich fühlen, wenn wir ihretwegen zu spät kommen?«

Simon schüttelte den Kopf. »Ich kann nicht mitkommen. Ich will Eustache nicht wiedersehen, denn ganz gleich, was er getan hat, er ist König Stephens Sohn, und diese Tatsache bindet mir die Hände, immer noch. Ich habe getan, was du nicht konntest, und Rache an Haimon genommen. Das ist genug. Jetzt tu du das, was ich nicht tun kann. Nimm deine Cousins Athelstan und Ælfric mit und Bedwyn und die übrigen Männer aus Blackmore.«

Alan nickte, und sie umarmten sich kurz.

»Geh mit Gott, Alan«, murmelte Simon.

»Dafür sorge ich schon«, versicherte King Edmund ungeduldig. »Jetzt lasst uns endlich aufbrechen.«