Woodknoll, März 1147

Grendel hatte sich als großer Gewinn für ihre Gemeinschaft erwiesen, denn seine Anhänglichkeit und Lebensfreude waren Balsam für die auf so unterschiedliche Weise gepeinigten Seelen. Und allein Grendel war es zu verdanken, dass Godrics und Wulfrics Abschied von Gilham ohne große Verbitterung verlaufen war. So selig waren sie, ihren Freund aus vergangenen Tagen wiedergefunden zu haben, dass es sie beinah mit dem Diebstahl ihres Erbes versöhnte. Es sei ja nicht so, als wären ein paar Acre Land und ein paar Schafe in Gilham das Ziel seiner Träume gewesen, bekundete Godric. Wenn man ein wenig von der Welt gesehen habe so wie sie, käme Gilham einem doch ein klein wenig hinterwäldlerisch vor, fügte sein Bruder hinzu.

So machten sie sich also wieder auf die Reise, und je weiter nach Süden sie kamen, desto frühlingshafter wurde der Wald. Die Nächte waren noch kalt, aber frostfrei, und abgesehen von ein paar heftigen Schauern, die äußerst lebhafte Böen mit sich brachten, blieb das Wetter trocken. Es hätte schlimmer kommen können, betonte King Edmund in regelmäßigen Abständen, und die anderen gaben ihm recht.

Sie brauchten zwei Wochen bis nach Lincolnshire. Ein ausdauernder Wanderer hätte die Strecke auf einer guten Straße auch in der Hälfte der Zeit bewältigt, aber Oswald klagte meist schon am frühen Nachmittag über Schmerzen in Beinen und Füßen, und wenn Losian ihn ignorierte und seine Gefährten weitertrieb, fing Oswald früher oder später an zu weinen und wurde unleidlich. Also lernten sie, sich nach ihm zu richten. Auch die Beschaffenheit ihres Weges hielt sie auf, denn sie mieden die Straße, die York und Lincoln verband. Losian, Simon und King Edmund waren übereingekommen, Begegnungen mit anderen Reisenden zu vermeiden, solange es möglich war.

Thurgar hatte den Zwillingen zum Abschied eine Schleuder geschenkt, die den Gefährten hervorragende Dienste leistete. Sie lebten von dem Kleinwild, das Godric und Wulfric erlegten, von den ersten essbaren Pflanzen, die King Edmund im Wald entdeckte, und von dem herrlich reinen, wenn auch eisigen Wasser der Quellen, die die Wälder durchzogen.

Nach wenigen Tagen hatten sie zu einer neuen Routine gefunden: Sie brachen auf, sobald es hell genug war. Die Zwillinge, die einen unfehlbaren Orientierungssinn besaßen, gingen mit Grendel und Simon vorneweg. Dann folgten Oswald, Luke und King Edmund, die die Augen nach allem offenhielten, was essbar war. Losian bildete mit Regy die Nachhut. Er schlang sich das Ende der langen Kette um die Hüften, ehe sie aufbrachen, und sicherte sie mit dem Vorhängeschloss. Die Aufgabe, Regy zu hüten, war ihm zugefallen, ohne dass ein Wort darüber verloren worden war. Er hatte darauf bestanden, ihn mit in die Freiheit zu nehmen, also musste er auch die Folgen tragen, war die unausgesprochene Meinung der anderen. Er ließ Regy vorausgehen, behielt ihn immer im Blick – die Hände vor allem – und lauschte auf Anzeichen möglicher Gefahren: Wegelagerer und marodierende Soldaten machten die Wälder ebenso unsicher wie Keiler, Wildkatzen und Wölfe.

Wenn Oswald nicht mehr weiterkonnte, suchten sie sich einen Lagerplatz, meist an einem Bach. Losian kettete Regy an einen Baum, Luke und King Edmund suchten Feuerholz, die Zwillinge gingen auf die Jagd, Oswald setzte sich müde ins Gras und streichelte Grendel. Dann saßen sie ums Feuer – immer ein gutes Stück abseits von Regy –, knabberten an den mageren Hasenkeulen und tranken von der Suppe, die King Edmund aus Löwenzahn, Sauerampfer und den Tierknochen gekocht hatte. Sie schmeckte grässlich, aber sie machte satt, und regelmäßig lobten die Gefährten ihren Heiligen für seine Weitsicht, die ihn bewogen hatte, die Mönche von St. Pancras um einen kleinen Kochtopf zu erleichtern.

Sobald ihre Mägen nicht mehr knurrten, rollten sie sich in ihre Decken und schliefen.

»Da«, sagte Simon, hob den linken Arm und wies mit dem Finger nach Osten. »Das ist es.«

Wulfric beschirmte die Augen mit der Hand und sah in die gewiesene Richtung. Dann atmete er tief durch. »Euer Lincolnshire ist wahrhaftig ein Garten Eden.«

»Na ja. Ich würde sagen, das ist ein bisschen übertrieben«, schränkte Simon mit einem kleinen Lächeln ein. Doch insgeheim gab er seinem Freund recht. Lincolnshire war ein weites Land, dessen seichte Hügel wie Wellen an einem ruhigen Tag auf dem Meer aussahen. Es war nicht so wild und rau wie Yorkshire mit seinen Hochmooren und endlosen alten Wäldern, und Lincolnshire war dichter besiedelt, sodass den Forsten hier größere Flächen für Felder und Wiesen abgerungen worden waren.

Eilige weiße Wolken segelten über den Himmel, und die Sonne beschien die frisch gepflügten Äcker. Es war Vormittag, und überall sah man emsige Bauern eggen und säen. Woodknoll schmiegte sich in die Kehre eines breiten, flachen Baches, und am diesseitigen Ufer stand im Schutz einer Eibenhecke die bescheidene Halle des Gutsherrn, in der Simon zur Welt gekommen war.

Die Wanderer standen auf der Kuppe des baumbestandenen Hügels, der dem Dorf seinen Namen gegeben hatte, und blickten hinab.

»Wollen wir?«, fragte Losian.

Simon nickte und schluckte trocken. Er war nervös. Die Halle dort unten, das hübsche Dorf und das umliegende Land waren sein rechtmäßiges Eigentum, aber es war eine seltsame Heimkehr. »Was sie wohl sagen, wenn ich so plötzlich wieder auftauche?«, murmelte er.

»Es gibt nur einen Weg, das herauszufinden«, erwiderte Losian und vergewisserte sich noch einmal, dass Regys Kette ordentlich am Stamm einer Tanne gesichert war. Denn erst einmal wollten nur er und Simon hinuntergehen und feststellen, wie die Dinge standen. Die anderen sollten hier im Schutz der Bäume warten. Sie hatten dazugelernt und wollten ein Willkommen wie in Gilham nicht noch einmal riskieren.

»Bringt uns ein Stück Brot mit«, rief Godric ihnen gedämpft nach, als sie sich in Bewegung setzten.

»Verlass dich lieber nicht darauf, dass sie zurückkommen«, knurrte Regy.

Simon wollte empört herumfahren, aber Losian murmelte: »Hör nicht hin.«

»Er könnte dir ein bisschen dankbarer sein«, entgegnete der Junge verdrossen.

»Ich glaube nicht, dass er das könnte, selbst wenn er wollte. Das steckt einfach nicht in ihm. Und nun vergiss Regy und halt die Augen offen. Wenn du irgendetwas siehst, das dir nicht gefällt, lass es mich sofort wissen.«

Simon warf ihm einen raschen Seitenblick zu. Losian war also ebenso nervös wie er selbst, stellte er fest, und das trug nicht gerade dazu bei, seine Beklommenheit zu lindern.

Sie gingen quer über eine Wiese hügelab, kamen auf einen Pfad, der von knorrigen Weiden flankiert war und geradewegs auf die Halle zuführte.

Ein hölzernes Tor in der Hecke schützte die Bewohner der Halle vor unwillkommenen nächtlichen Besuchern, doch jetzt, am helllichten Tag stand es einladend offen und war unbewacht. Simon verharrte einen Moment und schaute sich im Innenhof um. Losian blieb ebenfalls stehen und folgte seinem Blick. »Es sieht großartig aus«, sagte er. »Ein guter Platz zum Leben.«

Simon lächelte ein wenig verlegen. »Na ja. Es ist … nichts Besonderes. Aber ein Zuhause eben.«

»Du bist zu beneiden.« Es klang nüchtern, aber Simon glaubte, einen sehnsüchtigen Unterton zu hören.

Er stieß sich vom Torpfosten ab. »Lass uns gehen.«

Einen Schritt vor Losian durchquerte er den Hof. Zur Linken erhob sich ein lang gezogenes Stallgebäude, aus dem man das Stampfen von Kühen auf Stroh hörte, und ein durchdringender Mistgeruch kam zu ihnen herübergeweht. Ein Eimer schepperte, aber Simon hielt nicht inne, um festzustellen, wer im Stall bei der Arbeit war, sondern ging geradewegs auf die strohgedeckte Halle aus verbrettertem Fachwerk zu.

Er stieg die zwei Stufen hinauf, öffnete die Tür und rief auf Englisch: »Edivia? Wilbert? Ich bin wieder da!«

Ein Jubelschrei kam aus dem dämmrigen Innern. »Lord Simon!« Ehe seine Augen sich ganz auf das schwache Licht eingestellt hatten, umschlangen zwei muskulöse Frauenarme seinen Hals. »Du bist wieder daheim! Oh, Gott sei gepriesen, du bist wieder daheim.«

Simon befreite sich mit einem Lachen. »Edivia. Es … es tut so unendlich gut, dich zu sehen.«

»Wo warst du nur so lange?«, fragte sie, legte ihm für einen Moment beide Hände auf die Wangen, und ihr Gesicht strahlte. »Wieso hast du nicht …« Sie unterbrach sich, als ihr Blick auf Losian fiel, und sie wich einen kleinen Schritt zurück. »Wer ist dein Freund?« Sie lächelte immer noch, aber plötzlich hatte ihre Stirn sich gefurcht.

»Oh, er ist nicht so gefährlich, wie er aussieht«, entgegnete Simon. Jedenfalls hoffe ich das, dachte er flüchtig. »Sein Name ist Reginald de Warenne.« Es war das Erste, was ihm in den Sinn gekommen war, und er wusste, es war keine glückliche Wahl. Aber wenn er ihn als »Losian« vorgestellt hätte, hätte er den Namen erklären müssen, und er fand, Losians Gedächtnisverlust war eine zu persönliche Angelegenheit. Hastig fuhr er fort: »Reginald, dies ist Edivia, die gute Seele dieser Halle.«

Losian zeigte ein kleines Lächeln und neigte fast unmerklich den Kopf.

Edivia ignorierte den hochmütigen Normannen und nahm Simon wieder bei der Hand. »Kommt. Ihr müsst hungrig und durstig sein. Eure Kleider verraten mir, dass ihr allerhand erlebt habt.« Sie zog Simon zu einer Bank an einem langen Tisch. »Setz dich, Simon. Und Ihr auch, Lord. Ich hole euch etwas Gutes, und dann reden wir.«

Sie fuhr Simon noch einmal flüchtig über den dunklen Schopf, als müsse sie sich mit ihren Händen vergewissern, dass er wirklich wieder da war, und wandte sich dann ab.

»Wo sind alle?«, rief Simon ihr nach.

»Auf den Feldern«, antwortete sie über die Schulter. »Der Boden war so lange gefroren, weißt du, und als endlich Tauwetter kam, musste alles gleichzeitig gepflügt werden. Ach, du weißt ja, wie es ist, Junge … Ich bin gleich zurück.«

Sie verließ die Halle durch eine Seitentür, die zum Vorratshaus führte. Simon stand auf, holte Becher von einem Bord neben dem Herd und füllte einen Krug mit der Kelle, die am Bierfass hing. Es war ein glückseliger Moment. Die Kelle war schlecht gearbeitet, und immer wenn man sie benutzte, verschüttete man ein wenig Bier. Früher hatte er sich endlos darüber aufregen können. Jetzt war ihm danach, die Kelle zu küssen, weil sie so vertraut war, ein Stück Geborgenheit. Er war zu Hause. Er begriff erst in diesem Augenblick, was das wirklich bedeutete. Ein Bleigewicht schien von seinen Schultern zu gleiten, und er verharrte einen Moment am Herd, um sich zusammenzunehmen, ehe er Krug und Becher zum Tisch zurücktrug.

Mit einem dankbaren Nicken ergriff Losian einen gut gefüllten Becher und trank durstig. »Deine Amme?«, tippte er.

Simon trank ebenfalls. Ihm kam in den Sinn, was King Edmund wohl sagen würde, wenn er sähe, dass sie in der Fastenzeit unverdünntes Bier tranken, aber er scheuchte den Gedanken gleich wieder fort. Er war ausgehungert, und Bier machte satt. King Edmunds Nörgeleien waren Teil der Vergangenheit. Hier war er der Herr der Halle, und er konnte sich entschließen, Bier in der Fastenzeit zu trinken und die Buße dafür anzunehmen, die er bei der Beichte auferlegt bekam. Es war allein seine Sache. Er war ein freier Mann.

»Ja, sie war meine Amme«, antwortete er. »Und doch viel mehr als das. Nach Mutters Tod hat sie die Dinge hier in die Hand genommen. Auch meinen Vater«, fügte er grinsend hinzu. »Ich weiß nicht, was wir ohne Edivia getan hätten. Sie ist die Tochter eines Hufschmieds, aber sie gehört mehr zu meiner Familie als zu ihrer eigenen.«

»Und du liebst sie sehr?«, fragte Losian über den Rand des Bechers hinweg, ehe er den Kopf zurücklehnte und das Bier bis auf den letzten Tropfen leerte.

»Und wenn es so wäre?«, entgegnete Simon angriffslustig. »Ist das ein Grund, mich zu verspotten? Musst du immer alles in den Schmutz treten, was nicht hart und kriegerisch ist?«

Losian schien einen Moment über die Frage nachzusinnen. Dann schüttelte er den Kopf. »Ich glaube nicht. Dir könnte es allerdings nicht schaden, ein bisschen härter und kriegerischer zu werden.«

»Ah ja? Und wieso?«

»Weil du die Enttäuschung, die dir bevorsteht, dann besser verkraften würdest.«

»Was soll das?«, fragte Simon wütend. »Wovon redest du?«

»Davon, dass deine Edivia dir nicht in die Augen sehen konnte.«

Er stand auf, wandte sich zur Seitentür und zog das Messer aus der Scheide, und im selben Moment hörte Simon eilige Schritte näher kommen. Schwere Schritte und viele. Er sprang ebenfalls von der Bank auf und warf Losian einen entsetzten Blick. »Was hat das …«

Er brach ab, als acht fremde Männer mit blanken Schwertern hereinstürmten. Zwei weitere kamen durch die große Eingangstür in der Stirnwand. Mit grimmigen Gesichtern gingen sie auf die Ankömmlinge zu, vereinten sich zu einer geschlossenen Linie und stellten sich im Halbkreis vor sie. Simon und Losian hatten den Tisch und die Bänke im Rücken. Sie saßen in der Falle.

»Was hat das zu bedeuten?«, fragte Simon, und er hörte selbst, wie fassungslos er klang. Das war kein Wunder. Er war fassungslos. Das hier war völlig falsch. Die Halle von Woodknoll war sein Heim und sein Eigentum, und fremde bewaffnete Raufbolde hatten hier nichts verloren. Was bildeten sie sich nur ein? Und wer hatte sie hereingelassen?

Losian stand einen Moment reglos an seiner Seite, dann ließ er die Hand mit dem Messer sinken. Sogar er schien einzusehen, dass zehn Schwerter gegen ein Messer zu viele waren.

Der vordere der Bewaffneten, der ein Kettenhemd aus schwarzen, stumpfen Ringen trug, hob die Linke und nickte Losian zu. »Her damit. Na los.«

Mit einer Bewegung, die ganz beiläufig wirkte, ließ Losian das Messer aus der Hand schnellen. Zitternd blieb es im festgestampften Lehmboden der Halle stecken, so nahe vor den Füßen des Anführers, dass der einen Schritt zurückspringen musste. Das gefiel dem Mann im Kettenhemd nicht. Mit verengten Augen knurrte er: »Packt sie euch.«

Vier stürzten sich auf Losian, zerrten ihm die Arme auf den Rücken und fesselten ihm die Hände mit einer stabilen Lederschnur. Zwei weitere taten das Gleiche mit Simon. Er wehrte sich überhaupt nicht. Er war zu sehr damit beschäftigt, auch nur zu begreifen, was hier geschah. »Was fällt euch ein?«, fragte er den Anführer. »Wer seid ihr? Ich bin Simon de Clare, dies ist mein Haus, und ihr habt kein Recht …«

»Mir ist egal, wie du heißt, Milchbart«, unterbrach das Raubein im Kettenhemd. »Diese Halle gehört Guy und Rollo de Laigle.«

»Behauptet wer?«, fragte Losian. Es klang geradezu höflich.

»Ich und mein Schwert«, bekam er zur Antwort.

»Und wer hat sie ihnen gegeben?«, verlangte Simon wütend zu wissen. »Der Earl of Pembroke?« Er biss die Zähne zusammen. Er wusste nicht, wie er diesem neuerlichen Verrat seines Onkels ins Auge blicken sollte.

Doch wenigstens das blieb ihm erspart. Raubein lachte brummig. »Wer soll das sein? Nein, nein, Milchbart. Keiner hat sie ihnen gegeben. Sie war unbewacht, als wir vorbeikamen, da haben sie sie sich genommen, verstehst du?«

Nein, dachte Simon verwirrt, aber das sagte er nicht. »Wo … wo ist Wilbert? Wo ist mein Steward?«, fragte er stattdessen.

Die Männer, die ihm grobschlächtig und dumm wie Trolle vorkamen, tauschten hämische Blicke. Dann tätschelte der im Kettenhemd Simon roh die Wange. »Wir bringen dich zu ihm. Ich schätze, ihr habt euch viel zu erzählen, he? Schafft sie weg«, befahl er seinen Kumpanen, und je zwei eskortierten Simon und Losian zur Tür.

Sie brachten sie quer über den stillen Hof zu einem kleinen, aber stabilen Nebengebäude. Die Tür hatte ein Schloss, weil hier früher Weinfässer, Wachskerzen und andere wertvolle Vorräte aufbewahrt worden waren, nahm Losian an. Jetzt war der Lagerraum indes zweckentfremdet.

»Schließ die Augen, Simon«, riet Losian über die Schulter, als er vor dem Jungen über die Schwelle ins Innere gestoßen wurde.

Simon befolgte den Rat. Er landete hart auf den Knien, die Lider fest zugekniffen, senkte den Kopf und atmete stoßweise.

»Dein Steward ist tot«, berichtete Losian, nachdem die Tür sich geschlossen hatte. »Vielleicht seit zwei Tagen.« Er betrachtete den nackten, grausam entstellten Leichnam am Boden und war befremdet über seine eigene Gelassenheit. Wilbert war ein stattlicher Angelsachse von vielleicht vierzig Jahren gewesen. Aber sein Holzfällerkreuz und seine keulengleichen Arme hatten ihm nichts genützt. Sein Leib, vor allem seine Füße wiesen furchtbare Brandwunden auf, und er war qualvoll gestorben.

»Was haben sie mit ihm getan?«, fragte Simon erstickt, der sich immer noch nicht gerührt hatte.

»Sie haben ihn gefragt, wo er dein Geld versteckt hat, schätze ich, und als er es ihnen schließlich gesagt hat, haben sie ihm eine Schlinge um den Hals gelegt und den Strick straff gespannt an seine Füße gebunden. So hat er sich langsam selbst erdrosselt. Er sieht … ziemlich schlimm aus. Wenn du hinschaust, denk daran, dass er jetzt nichts mehr fühlt, in Ordnung?«

Der Junge nickte, öffnete zögernd die Augen und wandte den Kopf. Stumm betrachtete er den Toten. Er rührte sich nicht und verzog keine Miene, aber Tränen rannen über sein Gesicht. Losian schalt ihn nicht. Das war wahrhaftig eine bittere Heimkehr. Was konnte ein argloser Junge wie Simon de Clare verbrochen haben, um zu verdienen, was das Schicksal ihm angetan hatte? Was dachte Gott sich nur dabei, das geschehen zu lassen? War es eine Prüfung? Hatte Gott sich bei Simons Erschaffung überlegt: Ich schlage dich mit einem Gebrechen, das dich zum Außenseiter macht, und dann schaue ich tatenlos zu, wie die Menschen Schindluder mit dir treiben, um zu sehen, wie fest dein Glaube ist? Waren sie alle, die von der Insel der Seligen entkommen waren, Hiobs Brüder?

»Es tut mir leid, Simon.«

Der Junge räusperte sich. »Ich wünschte, wir könnten irgendetwas für ihn tun. Es ist so schrecklich, wie er da liegt.«

Losian nickte. Seit die Tür sich geschlossen hatte und sie allein waren, drehte er unablässig die Handgelenke gegeneinander. Die Lederschnur schnitt ihm ins Fleisch, aber er hatte das Gefühl, sie habe sich schon ein wenig gelockert. »Es ist nur seine Hülle, würde King Edmund sagen«, erinnerte er Simon. »Und ich finde, du hast ihn jetzt lange genug angesehen. Dreh dich um.«

»Nein.« Es klang trotzig. »Es ist das Einzige, was ich noch für ihn tun kann. Es anschauen. Und niemals vergessen. Damit ich es eines Tages rächen kann.«

Ich bewundere deinen Optimismus, was unsere Lebensspanne angeht, fuhr es Losian durch den Kopf. »Wem immer du Rache schwörst, geh nicht zu hart mit deiner Amme ins Gericht.«

Nun wandte Simon sich doch zu ihm um. »Und wieso nicht? Sie hat uns verraten. Statt uns zu warnen und uns fortzuschicken, hat sie diese … Trolle geholt!«

»Und was, glaubst du, haben sie ihr angedroht für den Fall, dass sie sie hintergeht? Wenn ich mir deinen Steward so anschaue, kann ich mich des Eindrucks kaum erwehren, dass Guy und Rollo de Laigle nicht gerade zu den Sanftmütigsten unter Gottes Kindern zählen. Sie … sie hat sich wirklich gefreut, dich zu sehen, Simon. Aber ihre Furcht war zu groß. Ist das so unverzeihlich?«

Simon schnaubte. »Und ich dachte, gerade du verabscheust nichts so sehr wie Feigheit.«

Ja, das dachte ich eigentlich auch, ging Losian auf. »Nun, wie es scheint, haben wir uns beide geirrt. Einer wehrlosen Frau mit einem Rudel Trolle zu drohen ist vielleicht noch eine Spur abscheulicher.«

Simon biss die Zähne zusammen, streifte den toten Steward mit einem Blick und schien nicht zu wissen, was er denken sollte. Müde setzte er sich auf die kalte Erde. »Wie kann so etwas nur passieren, Losian? Wie ist es möglich, dass vorbeiziehendes Gesindel sich einfach so ungestraft mein Gut aneignen und meine Leute abschlachten kann?«

»Ich habe keine Ahnung«, bekannte Losian. »Ich weiß nicht viel über diese Welt hier draußen.«

»Wahrscheinlich ist es das, was die Leute meinen, wenn sie sagen, der Krieg habe das Land in Anarchie gestürzt«, murmelte der Junge nachdenklich. »Niemand kümmert sich mehr um Recht und Unrecht.«

»Ich schätze, die Menschen kümmern sich nur so lange um Recht und Unrecht, wie jemand da ist, der darüber wacht.«

»Ja. Aber die Lords und die Sheriffs und die Ritterschaft sind seit acht Jahren so damit beschäftigt, sich gegenseitig abzuschlachten, dass sie keine Zeit mehr finden, Recht und Ordnung aufrechtzuerhalten.«

Was ist das für ein verdammter Krieg?, wollte Losian wissen, aber er fragte nicht. Er spürte, dass die Antwort auf diese Frage gefährlich für ihn war. Er konnte sich nicht vorstellen, warum, war er doch Kreuzfahrer und mit einem edleren und gottgefälligeren Krieg als diesem befasst gewesen. Dieser Krieg hier ging ihn gar nichts an. Und doch erfüllte er ihn mit Schrecken.

Es vergingen vielleicht zwei Stunden, bis sie draußen Hufschlag und viele Schritte hörten. Mindestens drei Pferde waren in den Hof eingeritten, schätzte Losian.

»Bei Gott, was für eine Jagd!«, rief eine tiefe Stimme auf Normannisch. Sie klang aufgeräumt, geradezu euphorisch. »Hier, sieh dir diesen Keiler an, Pierre, ist er nicht ein Prachtbursche?«

Eine grummelnde Stimme antwortete. Losian verstand keine Worte, aber er erkannte die Stimme des Trolls im Kettenhemd. Er sah zu Simon, der nicht aufgehorcht hatte.

»Steh auf, Simon. Komm her, stell dich an meine Seite.«

Der Junge kam auf die Füße, fragte aber: »Wozu?«

»Wir bekommen gleich Besuch. Wenn du gerne noch ein bisschen weiterleben willst, dann tu, was ich sage.«

»Aber wie willst du …«

»Komm endlich«, herrschte Losian ihn an, und erschrocken glitt Simon neben ihn, mit dem Rücken zur Wand, das Gesicht zur Tür.

Tatsächlich dauerte es nur wenige Augenblicke, bis der Schlüssel rasselte und die Tür aufschwang. Der Troll, der offenbar Pierre hieß, und ein weiterer Mann traten ein, ein Normanne in mittleren Jahren von Losians Statur und Größe mit schulterlangem, dunkelblondem Haar, einem kantigen, glatt rasierten Kinn und einer beachtlichen Narbe auf der rechten Wange.

Mit konzentrierter Miene blieb er vor ihnen stehen, betrachtete erst Simon, dann Losian. »Du bist nicht Reginald de Warenne«, sagte er anklagend.

»Nein«, räumte Losian ein.

»Ich kenne ihn«, beharrte der Mann mit der Narbe, als hätte Losian ihm widersprochen.

»Das wundert mich nicht«, entgegnete er und gab sich keine Mühe, seinen Abscheu zu verbergen. Immer noch drehte er die Handgelenke gegeneinander, die zu bluten begonnen hatten. Er hatte es fast geschafft. Aber er wusste, er musste sich beeilen.

»Wie heißt du?«

»Fragt wer?«

»Guy de Laigle.«

»Ich sehe keine Veranlassung, mich dem Dieb vorzustellen, der diesem Jungen hier sein Hab und Gut gestohlen hat.«

De Laigle trat einen halben Schritt auf ihn zu. »Ich wäre an deiner Stelle ein bisschen vorsichtiger«, riet er und rammte ihm die Faust mit ungehemmter Kraft in die Magengrube.

Losian kam es vor, als sei die Zeit seltsam verlangsamt. Er sah den Schlag genau kommen, und etwas Merkwürdiges passierte mit seinem Bauch. Muskeln, von deren Existenz er nichts geahnt hatte, spannten sich an, und es war, als treffe der Hieb eine Mauer. Losian spürte Schmerz, aber es war nicht besonders schlimm. Ihm blieb auch nicht die Luft weg, wie er erwartet hatte, und weder krümmte er sich, noch fiel er hin. Das Gesicht seines Gegenübers zeigte beinah komische Überraschung, doch das war nichts im Vergleich zu Losians eigener Verblüffung.

»Wer bist du?«, fragte de Laigle noch einmal.

Losian wies mit dem Kinn in Simons Richtung. »Er ist der Mann, mit dem du reden solltest. Erklär ihm, wieso du ihn bestohlen und seinen Steward ermordet hast.«

De Laigle hob die Brauen und wandte sich mit einem Schmunzeln an Simon. »Er war sehr loyal, dein tapferer angelsächsischer Steward. Doch, das muss man ihm wirklich lassen. Aber am Ende hat er gequiekt wie ein Ferkelchen.«

Simon drehte gequält den Kopf weg, dann riss er sich zusammen, sah de Laigle wieder an und spuckte ihm ins Gesicht.

Der so rüde Beleidigte stieß ein wütendes Zischen aus, packte Simon bei den Haaren, ohrfeigte ihn links und rechts und krallte die Hand dann um seine Kehle. »Na warte, Söhnchen …«

Es war der Moment, auf den Losian gewartet hatte. Und er hatte genau gewusst, dass er kommen würde. Mit einem winzigen Ruck befreite er sich endgültig von seinen Handfesseln, zog die Rechte hinter dem Rücken hervor und winkte Pierre damit zu. Der machte erwartungsgemäß große Augen, wollte sich dann hastig auf ihn stürzen, und Losian ließ ihn auf sein Knie auflaufen. Während der stämmige Soldat jaulend zu Boden fiel, stahl Losian ihm das Schwert aus der Rechten und stieß es ihm in die Kehle. Dann rempelte er Simon mit der Schulter aus dem Weg und stellte sich de Laigle, der ebenfalls seine Waffe gezogen hatte. Losian ließ das erbeutete Schwert einmal kreisen, um seine Balance zu prüfen, und erkannte, dass es minderwertig war, aber das machte ihm keine Sorgen. Ohne de Laigle aus den Augen zu lassen, trat er zwei Schritte zurück, verschaffte sich Platz, und dann griff er an.

Genau wie eben übernahm sein Körper das Ruder, und Losian war nur ein unbeteiligter Zuschauer seiner eigenen Taten. Er versuchte, nicht zu denken, sich vollkommen seinen Instinkten zu überlassen und seinen verschütteten Erinnerungen, denn er wusste, sein Leben hing davon ab.

Das kleine Vorratshaus war eigentlich zu eng für einen Schwertkampf. De Laigle glitt einen Schritt nach hinten und stolperte über die Leiche des bedauernswerten Wilbert. Doch der normannische Raubritter führte sein Schwert auch nicht zum ersten Mal und hielt das Gleichgewicht mit einem mühelosen Schritt zur Seite. Gleichzeitig hoben sie die Waffen, den linken Arm leicht angewinkelt, obwohl sie keine Schilde trugen, und die Klingen kreuzten sich mit solcher Wucht, dass sie Funken schlugen.

»Simon, die Tür«, sagte Losian.

Der Junge verstand, wich vor den wieder ausholenden Schwertern rückwärts zur Tür, kehrte ihr den Rücken und zog sie ungeschickt zu, damit niemand, der draußen vorbeikam, sie entdeckte und de Laigle zu Hilfe kommen konnte.

Der war ein hervorragender Fechter, aber er hatte keine Chance. Losian sah jede Finte kommen, und er verfügte über die größere Kraft. Nach einem Dutzend Streichen hatte er seinen Gegner mit dem Rücken an die Wand gedrängt, vollführte eine elegante Vierteldrehung, trat ihm das Schwert aus der Hand und rammte ihm den Ellbogen vor den Kehlkopf.

De Laigle stieß ein ersticktes Keuchen aus und sackte zu Boden. Er tat noch ein paar röchelnde Atemzüge, dann wurde er still.

»Oh, Losian«, jubelte Simon gedämpft und kam näher. »Das war unglaublich. Los, mach ihn fertig. Schneid ihm die Kehle durch!«

Losian schüttelte den Kopf. »Ich glaube, er ist tot.« Er drehte de Laigle mit der Fußspitze auf die Seite und wies auf den sichtlich eingedrückten Kehlkopf. Dann stellte er sich hinter Simon und durchschnitt dessen Fesseln.

»Tu’s trotzdem«, drängte der Junge heiser. »Sicher ist sicher.«

»Nein. Ich will seine Kleider, und blutgetränkt nützen sie mir nichts.« Losian legte de Laigle die Hand auf die Brust, um sich zu vergewissern. »Nichts.«

»Großartig. Und was jetzt?«

»Nimm den Dolch und das Schwert des Trolls und leg sie an. Du kannst deinem Steward den Strick abschneiden, wenn du willst.«

Simon nickte, legte Pierres Waffen an und beugte sich über Wilbert, während Losian begann, Guy de Laigle auszuziehen. Es war nicht ganz einfach, denn der große Leib war schwer, und die Zeit saß ihnen im Nacken, aber schließlich lag de Laigle ebenso nackt und schutzlos zu ihren Füßen wie Wilbert. Losian riss sich die Lumpen vom Leib und schlüpfte in die erbeuteten Kleider – Leinenhemd, Beinkleider und Bliaut aus guter Wolle, deren Sauberkeit zu wünschen übrig ließ, die aber hervorragend passten. Das galt sogar für die wadenhohen Stiefel.

»Warum tust du das?«, fragte Simon, glitt zur Tür und spähte durch einen Spalt in den Hof hinaus.

»Warum?«, wiederholte Losian ungläubig. »Weil ich nicht länger wie ein Bettler aussehen will, deswegen.« Er nahm de Laigles Schwert und holte sich sein Messer zurück, das in Pierres Gürtel steckte.

»Oh.« Simon klang eine Spur enttäuscht. »Ich dachte, du hättest irgendeinen schlauen Plan.«

Losian nickte. »Er sieht vor, uns beide lebend hier herauszubringen. Ich fürchte, auf mehr dürfen wir nicht hoffen. Du und ich können es nicht allein mit den Trollen aufnehmen. Und wenn Rollo de Laigle – Guys Bruder, schätze ich – herkommt und sieht, was wir getan haben, wird er hinter uns her sein. Wir müssen auf der Stelle aus Woodknoll verschwinden. Es tut mir leid.«

»Aber …«

Losian schob ihn weg von der Tür und spähte selbst hinaus. »Zwei Pferde stehen noch am Tor. Sie sind müde und verschwitzt, aber vermutlich schneller als unsere Füße. Komm. Und zieh dein Schwert, verdammt noch mal, wo hast du deinen Kopf, Bengel?«

Simon folgte ihm in rebellischem Schweigen. Losian nahm an, der Junge war bitter enttäuscht, dass er nicht im Handstreich sein Gut zurückholen wollte, aber er wusste, das war ausgeschlossen. Vermutlich war einer der Gründe, warum er noch am Leben war, dass er seine eigenen Grenzen kannte.

Es waren nur zehn Schritte vom Vorratshaus zu den Pferden. Losian winkte Simon, ihm zu folgen, und nah an die Hecke gedrängt huschten sie zum Tor hinüber. Als Losian aufsaß, kam einer der Trolle aus dem Pferdestall. Losian erwischte ihn mit der Stiefelspitze am Kinn, und der Mann segelte in den Schlamm. Mit einem raschen Blick über die Schulter vergewisserte sich Losian, dass Simon im Sattel saß, dann galoppierte er aus dem Stand an und preschte durchs Tor, Simon gleich hinter ihm.

Sie ritten den Pfad zurück, den sie gekommen waren, dann hügelan über die Wiese. Allenthalben sahen sie sich um, aber noch waren keine Verfolger zu entdecken.

»Sie werden nicht lange auf sich warten lassen«, rief Simon Losian zu, und seine Furcht war kaum zu überhören.

»Wo können wir hin?«, fragte Losian.

Sie hatten den Rand des Wäldchens erreicht und saßen ab.

»Keine Ahnung …«

»Losian? Was ist passiert?« Das war King Edmund. Er zwängte sich zwischen zwei Holunderbüschen hindurch, die den ersten grünen Schimmer zeigten.

»Es gibt Ärger«, antwortete Losian grimmig, saß ab und ließ ihn stehen. Während er sich durch den Holunder zu den anderen kämpfte, setzte Simon King Edmund mit wenigen Worten ins Bild.

»Wulfric, Godric, kettet Regy los. Wir müssen verschwinden, schnell.«

»Aber was …«, begann Godric verständnislos.

»Nicht jetzt. Oswald, Luke, kommt auf die Füße. Beeilt euch.« Er nahm Oswalds Hand und zog ihn hoch.

Alle folgten seinen Anweisungen. Nach wenigen Augenblicken waren sie wieder unterwegs, drangen tiefer in den Wald, der sich über den Hügel und ein gutes Stück ins Tal hinab zog, aber zu klein war, um ihnen Schutz zu bieten.

»Zwei normannische Halunken haben sich Simons Gut unter den Nagel gerissen und seinen Steward ermordet«, erklärte Losian. »Ich habe einen von ihnen und einen seiner Raufbolde getötet, darum werden sie hinter uns her sein.«

»Oh, gratuliere, Losian«, spöttelte Regy. »Das hast du großartig gemacht.«

Losian knuffte ihn zwischen die Schultern. »Beweg dich schneller. Er kannte dich übrigens.«

»Ah ja? Wie war sein Name?«

»Guy de Laigle. Ein Freund von dir?«

»Schwerlich«, gab Regy zurück. Es klang eingeschnappt, als hätte Losian ihn beleidigt. »Ein ungehobelter, ehrloser Schurke. Abschaum, verstehst du.«

»Allerdings«, pflichtete Losian ihm bei und fragte sich gleichzeitig: Und was genau bist du, Regy? Aber für dergleichen hatten sie jetzt keine Zeit. »Simon, sag endlich, wo wir uns verstecken können. Du musst einen Ort hier in der Nähe kennen, du bist doch hier aufgewachsen.«

»Ja. Ich weiß einen Ort, wo uns so schnell keiner findet.« Er schien erleichtert, dass es ihm wieder eingefallen war.

»Ist es weit?«

»Zwei Meilen etwa.«

Losian vergeudete ein wenig ihrer kostbaren Zeit, um Oswald zu überreden, auf eines der Pferde zu steigen. Als das endlich bewerkstelligt war, ergriff er den Zügel und folgte Simon mit langen, eiligen Schritten.

Der Junge führte sie auf der dem Dorf abgewandten Seite den Hügel hinunter. Nach etwa einer Meile stießen sie schon wieder auf ein Flüsschen, dessen Verlauf nach Osten sie folgten.

»Was ist dieses Versteck, Simon?«, fragte Losian.

»Eine Höhle.«

»Können die Gäule mit hinein?«

Simon schüttelte den Kopf.

»Aber der Hund, will ich hoffen?«, fragte Godric nervös.

»Sicher.«

Losian dachte einen Moment nach, dann befahl er: »Steigt ab.«

Simon folgte sofort, aber Oswald protestierte. »Nein. Weiterreiten.«

Losian war versucht, ihn anzufahren. Er wusste genau, dass jeder Augenblick kostbar war. Ein Kribbeln zwischen den Schulterblättern gaukelte ihm vor, die Verfolger würden jeden Moment zwischen den Bäumen zum Vorschein kommen. Aber er nahm sich zusammen. Er trat zu Oswald und versetzte ihm einen freundschaftlichen Klaps auf den Oberschenkel. »Es muss sein. Komm schon, tu’s für mich.«

Oswalds Enttäuschung war herzerweichend, aber er folgte.

Losian führte die Pferde auf die andere Seite des Baches und scheuchte sie zwischen die Bäume, um eine falsche Spur zu legen. Dann watete er in die Mitte des flachen Wasserlaufs und winkte den anderen, es ihm nachzutun. »Das macht es schwieriger, uns zu folgen«, erklärte er.

Doch ebenso erschwerte es ihr Fortkommen. Oswald fing an zu heulen, weil ihm im eiskalten Wasser die Füße so weh taten, und Luke wimmerte, weil er meinte, die Schlange habe sich gerührt.

Jesus, was kommt als Nächstes?, dachte Losian, aber er biss die Zähne zusammen und sagte nichts. Er ließ die anderen vorausgehen, blieb allenthalben stehen und lauschte. Aber immer noch hörte er keine Verfolger.

Das Bachbett wurde steiniger, als sie die letzten Bäume hinter sich ließen und das Land in hügelige Heide überging. Das gefiel Losian ganz und gar nicht, denn hier waren sie so auffällig wie ein Rabe auf einem verschneiten Scheunendach.

Doch es war nicht mehr weit. Der Bach ergoss sich in einem Wasserfall über einen unvermuteten Steilhang, vielleicht zwölf Fuß tief, und hinter dem Vorhang aus herabstürzendem Wasser und dem feinen Nebel, den es aufwirbelte, lag eine Höhle.

»Hier ist es«, sagte Simon über die Schulter.

Losian schloss zu ihm auf, begutachtete ihr Versteck und nickte zufrieden. »Gute Wahl. Rein mit euch. Wir müssen uns verbergen. Ich schlage vor, bis Mitternacht.«

»Losian«, jammerte Luke. »Sie sagt, wenn sie nicht bald etwas zu fressen bekommt, hält sie sich an meinen Innereien schadlos …« Sein Gesicht verzerrte sich zu der so eigentümlich kindlichen Maske der Furcht.

»Ich weiß. Wir haben alle Hunger, Luke.« Er nahm die Schnur ab, an der er Regys Schlüssel um den Hals trug, und gab sie Wulfric. »Hier. Ihr müsst ihn noch ein Weilchen länger hüten. Ich sehe mich ein bisschen um und versuche, etwas zu essen zu finden.«

»Aber …«, begann Godric.

Losian schnitt ihm mit einer Geste das Wort ab. »Sie werden mich nicht erwischen, sei unbesorgt. Verhaltet euch so ruhig wie möglich. Das gilt auch für Grendel.«

Ohne weitere Einwände abzuwarten, durchmaß er mit einem Sprung den nassen Vorhang, der wie aufgeschnürte Perlen funkelte, und watete ans Ufer.

Er hatte nicht wirklich vor, die Umgebung zu erkunden oder Proviant zu beschaffen, und er wusste, es war unklug, das Versteck zu verlassen, ehe es dunkel wurde. Aber er musste allein sein. Seit er und Simon wieder zu ihren Gefährten gestoßen waren, spürte er es kommen, dieses unerklärliche lähmende Entsetzen, das ständig auf ihn lauerte. Er hatte es mit größter Mühe auf eine Armeslänge Abstand gehalten, bis sie in Sicherheit waren, aber er wusste, dass er seinen Widerstand nicht viel länger würde aufrechterhalten können. Und ihm graute vor der Enge in der Höhle hinter dem Wasserfall.

Seine Hände waren feucht, und er verspürte eine fahle Übelkeit. Obwohl es kalt war, begann er zu schwitzen. Sein Herz raste und stolperte. Schwindel rollte über ihn hinweg. Er tastete blind nach einem Baumstamm, um Halt zu finden, doch vergebens. Seine Knie knickten ein, er fiel auf die kalte, feuchte Erde und fing an zu würgen. Nichts kam hoch, denn er hatte zuletzt vor zwei Tagen etwas gegessen, aber die Übelkeit blieb. Und die Angst, die ihn in Finsternis stürzen wollte, in den Schlund eines Ungeheuers. Etwas wie ein schwarzer Schleier trübte seine Sicht, doch die Bilder vor seinem geistigen Auge waren umso deutlicher: der Troll, dem er mit dem Schwert fast den Kopf vom Rumpf getrennt hatte. De Laigle, der an seinem eigenen Kehlkopf erstickte. Er hatte zwei Menschen getötet, und er konnte nicht fassen, mit welcher Leichtigkeit er das getan hatte. Es hatte ihn nicht mehr Überwindung gekostet, als einen Apfel vom Baum zu pflücken. Und er hörte Schreie in seinem Kopf, nicht de Laigle, nicht den Troll, sondern die Schreie eines Kindes, und er wusste, obwohl er nicht denken konnte, dass dies eine Erinnerung war. Seine einzige echte Erinnerung war die an den qualvollen Tod eines Kindes, und er rollte sich mit dem Gesicht ins feuchte Laub und presste die Unterarme auf die Ohren, aber die Geisterstimme ließ sich nicht aussperren.

Es ging vorbei, so wie es immer irgendwann vorbeiging, auch wenn er jedes verdammte Mal wieder Zweifel hatte. Der schwarze Schleier vor seinen Augen lichtete sich, das Zittern seiner Glieder ließ nach, sein Herzschlag beruhigte sich allmählich – das Grauen ließ von ihm ab und verzog sich in die Schattenwelt, aus der es gekommen war. Fürs Erste.

Losian setzte sich auf und sah sich verwirrt um, weil er sich für einen Augenblick nicht sicher war, wo er sich befand. Schließlich stand er auf und ging zurück zum Bachufer. Dort kniete er sich ins Gras, wusch sich Gesicht und Hände und trank ein paar Schlucke. Das Wasser erfrischte ihn. Er war zumindest in der Lage, in Erwägung zu ziehen, zu den anderen zurückzukehren und seine Bürde wieder zu schultern.

Doch er trieb sich bis zum Einbruch der Dämmerung im Wald herum. Einmal hörte er zwei Reiter in der Nähe. Für ihn allein war es indessen nicht schwierig, sich rechtzeitig im Unterholz zu verbergen, zumal sie sich nicht einmal Mühe gaben, leise zu sein. Keine zehn Schritte entfernt sah er sie vorbeireiten, hörte sie beratschlagen, ob sie lieber in östlicher oder nördlicher Richtung weitersuchen sollten, dann waren sie verschwunden, und Losian hatte den Wald wieder für sich.

Die Stille tat ihm wohl. Auf einer Lichtung zog er Guy de Laigles Schwert, das eine Klasse besser war als das des Trolls. Er schloss die Finger um das Heft, einen nach dem anderen, und erkundete mit geschlossenen Augen, was sie ertasteten. Seine Finger sagten ihm, sie seien nach Hause gekommen. Der kalte Stahl fühlte sich vertraut und richtig an. Mit einem kleinen Lächeln zog Losian die Klinge aus der Scheide und ergötzte sich an dem metallischen Flüstern, das sie erzeugte. Dann hob er die Waffe, sah an der Klinge entlang, um Beschaffenheit und Schliff zu prüfen, und schließlich machte er ein paar Standardübungen. Die Schritte und Abläufe kamen wie von selbst, und er fand Gefallen an der Präzision seiner Bewegungen. Die Konzentration verlieh ihm eine innere Ruhe, die er nicht kannte, beinah eine Art Ausgeglichenheit. Womöglich lag es nur daran, dass er abgelenkt und dem ewigen Teufelskreis seiner Gedanken für den Moment entronnen war. Jedenfalls hob sich seine Stimmung, und die Schrecken der Ereignisse des Vormittags verblassten. Doch mit einem Mal genierte er sich für die alberne Schattenfechterei, und noch während er sich fragte, wieso, wurde ihm klar, dass er beobachtet wurde.

Er schärfte sich ein, sich nicht zu verkrampfen, weiterzumachen, sich nichts anmerken zu lassen. Er vollführte eine langsame halbe Drehung mit dem Gewicht auf dem linken Fuß, hob die Klinge am langen Arm wieder auf Kinnhöhe und spähte aus dem Augenwinkel zu beiden Seiten. Dann machte er einen langen Ausfallschritt, als wolle er einen Stoß über einen verschränkten Schild hinweg üben, sprang aber unvermittelt nach rechts, zerrte seinen Zuschauer mit der Linken hinter dem dicken Baumstamm hervor und setzte ihm die Klinge an die Kehle. »Irgendwie habe ich geahnt, dass wir uns wiedersehen, Edivia.«

Sie stieß ein Keuchen aus, aber sie schrie nicht.

»Und? Wie viele deiner neuen Freunde hast du mitgebracht?«, fragte Losian.

»Sie sind nicht meine Freunde«, gab Edivia zurück. »Und ich bin allein.«

Losian war zuversichtlich, dass das die Wahrheit war. Edivia trug einen abgedeckten Korb in der Hand. Vermutlich ahnte sie, wo Simon Zuflucht gesucht hatte, und hatte sich davongeschlichen, um ihm etwas zu essen zu bringen.

Er ließ sie los. »Dann lass uns hoffen, dass dir niemand gefolgt ist.«

»Bestimmt nicht. Sie sind alle ausgeschwärmt, um euch zu suchen. Darum ist es auch nicht besonders klug, dass Ihr Euch hier herumtreibt, Mylord.«

»Ich bin niemandes Lord«, stellte Losian klar. »Und im Übrigen ist mein Name auch nicht Reginald de Warenne. Was hast du da?« Er zeigte auf den Korb.

»Nur Brot. Ich dachte, damit ist euch am besten gedient.«

»Gib mir ein Stück.«

Sie hob das Tuch an, und Losian stieg der verführerische Duft von frischem Roggenbrot in die Nase. Er konnte sich nur mit Mühe davon abhalten, ihr einen Laib zu entreißen und mitsamt seiner Beute Reißaus zu nehmen. So viel Speichel sammelte sich plötzlich in seinem Mund, dass er immerzu schlucken musste.

Edivia brach ein großzügiges Stück ab und reichte es ihm wortlos. Losian drehte ihr den Rücken zu und verschlang es mit wenigen großen Bissen. Erst als das bohrende Hungergefühl sich legte, gestand er sich ein, wie sehr es ihm zu schaffen gemacht hatte. Er schloss die Augen und versuchte, den wunderbaren Geschmack auf der Zunge festzuhalten.

Dann schaute er Edivia wieder an. »Hast du genug, um acht Männer einmal richtig satt zu machen?«

»Wieso acht?«, fragte sie verwundert.

»Simon und ich sind nicht allein unterwegs.«

»Was ist ihm passiert? Wie geht es ihm?« Ihre Stimme war voll echter, mütterlicher Sorge. »Wenn du ihm wohlgesinnt bist, dann lass mich zu ihm.«

Losian hob warnend die Linke. »Wenn du dir selbst wohlgesinnt bist, gib mir den Korb und verschwinde. Simon ist nicht besonders gut auf dich zu sprechen.«

»Nein, das will ich glauben«, sagte sie. »Aber ich konnte nichts anderes tun.« Er sah, dass sie unglücklich war, aber in ihrer Stimme lag kein Flehen. Sie bettelte nicht um seine Absolution, sondern sie stellte eine Tatsache fest. Losian fand sie anziehend, und er konnte sich schon vorstellen, warum Simons Vater sich ihr zugewandt hatte, statt wieder zu heiraten, wie es sich eigentlich gehört hätte. Edivia war um die dreißig, schätzte er, hatte ein paar graue Strähnen im dunklen Haar, das sie im Nacken zu einem losen Zopf gebunden trug, aber er erahnte einen straffen, muskulösen Leib unter dem schlichten Kleid. Ihre blauen Augen hatten etwas Herausforderndes und ebenso Unerschütterliches, als hätten sie schon allerhand gesehen, und ihr breiter Mund brachte ihn aus der Fassung.

Ohne verräterische Hast wandte er den Blick ab. »Ich weiß«, antwortete er. »Aber er ist zu jung, um das zu verstehen. Und er … hat eine schlimme Zeit hinter sich. Der Gedanke, wieder nach Hause zu kommen, hat ihm Mut gegeben. Jetzt weiß er nicht, wie er weitermachen soll. Gib mir noch ein Stück Brot, sei so gut.«

Sie folgte der Bitte. »Du kennst ihn gut«, bemerkte sie, als sie es ihm reichte.

Losian zuckte die Achseln. Jedenfalls besser als mich, das steht fest, dachte er.

»Und wenn ihr zu acht seid, könnt ihr nicht versuchen, de Laigle und seine Schurken aus Woodknoll zu verjagen?«, fragte sie, mit einem Mal hoffnungsvoll. »Sie sind nur noch zu zehnt, und wenn ihr sie überrascht …«

Losian lachte leise. »Das gäbe eine denkwürdige Schlacht.« Dann wurde er wieder ernst und schüttelte den Kopf. »Es geht nicht, Edivia, glaub mir. Wir können niemanden besiegen und niemanden retten. Wir haben alle Hände voll damit zu tun zu überleben.«

»Wie kann das sein?«

Er erklärte es ihr. In knappen Worten beschrieb er ihr seine Gefährten und ihre sonderbaren Gebrechen – das seine ebenfalls, weil alles andere sich ungerecht und verlogen angefühlt hätte –, und er berichtete, was sie zusammengeführt hatte.

Edivia war erwartungsgemäß erschüttert. »Sie haben ihn eingesperrt? Auf einer Insel voller Narren?«

Losian verzog ironisch den Mund, nickte jedoch. »So kann man sagen.«

»Oh, das ist furchtbar …« Dann wurde ihr anscheinend klar, wie taktlos war, was sie gesagt hatte, und sie schlug die Hand vor den Mund. »Entschuldige.«

Kein »Mylord« mehr, fiel ihm auf. Er winkte ab. »Ich sollte gehen. Es wird dunkel, und sie haben wirklich Hunger.«

»Ich komme mit dir«, verkündete sie. »Ich muss ihn sprechen.«

»Warum? Um seine Kränkung zu lindern? Das wird dir kaum gelingen. Oder um dein Gewissen zu erleichtern? Dann geh zur Beichte. Tu’s nicht auf seine Kosten. Lass ihn zufrieden, er hat genug, womit er fertig werden muss. Und sein Vater und du, ihr habt es versäumt, ihm beizubringen, wie man das macht.«

»Du hast kein Recht, über seinen Vater zu urteilen. Oder über mich. Du weißt nicht, wie es ist, wenn man ein Kind liebt, das die Fallsucht hat und von der Welt immer als Sonderling oder Missgeburt oder als verdächtig angesehen werden wird. Du hast ja keine Ahnung, wie sich das anfühlt.«

»Nein, vermutlich nicht.« Er streckte die Hand aus. »Gib mir das Brot.«

Sie reichte ihm den Korb. Er war schwer. Viel Brot, erkannte Losian erleichtert.

»Ich habe noch nie Augen wie deine gesehen«, sagte Edivia.

»Wieso?«, fragte er. »Was ist damit?«

»Einen Moment meint man, sie sind blau, im nächsten Moment sind sie grün.«

»Wirklich?« Es war heraus, ehe er sich hindern konnte. Er hatte keine Erinnerung an sein Gesicht. Er kannte es schemenhaft von dem Spiegelbild, das er gelegentlich auf einer stillen Wasseroberfläche erhascht hatte, aber die Farbe seiner Augen hatte er nie gesehen.

Edivia blickte ihn wortlos an, und Losian stieß wütend die Luft aus. »Erspar mir dein Mitleid.«

Ohne jede Vorwarnung legte sie die Hand auf seine Wange. »Entschuldige.«

Er schreckte zurück und schlug die Hand weg. Dann drehte er ihr den Rücken zu, ging aber nicht.

»Wovor fürchtest du dich nur so?«, fragte sie.

»Vor mir. Und das solltest du auch tun.«

»Aber du machst mir keine Angst«, gab sie zurück, eine Spur von sanftmütigem Spott in ihrer Stimme. Sie umrundete ihn und stellte sich vor ihn. »Du wirst mich nicht zu ihm lassen, oder?«

Losian schüttelte den Kopf.

»Ist er … wie ein jüngerer Bruder für dich? Liebst du ihn?«

»Ich glaube nicht, dass ich so schöner Gefühle fähig bin. Ich passe auf ihn auf, weil er selbst es nicht kann. Das ist alles.«

»Schwöre mir, dass du dich um ihn kümmerst und ihn niemals im Stich lässt.«

Er sah ihr in die Augen, aber er war nicht sicher, ob er richtig verstand, was er dort zu lesen glaubte. Auch an seine Erfahrungen mit Frauen hatte er keine greifbare Erinnerung, und das machte ihn unsicher. Darum fragte er: »Und wenn ich es schwöre, legst du dich mit mir ins Gras?«

Sie nahm seine Linke und zog ihn mit sich zu Boden.

»Du meinst also, meine Loyalität sei käuflich?« Seine Stimme klang ein wenig atemlos.

Edivia lachte. Es war ein schönes Lachen, fand er, und er spürte etwas, das er vollkommen vergessen hatte: ein wohliges Schaudern. »So, wie es um dich bestellt ist«, antwortete sie, »würde ich sagen, ja.«

»Verdammt, du hast recht«, musste er einräumen.

Edivia ließ sich zurücksinken, raffte den Rock und öffnete einladend die Schenkel. Sie war eine großzügige und erfahrene Geliebte. Kaum war er eingedrungen, entlud er sich schon, und sie hielt ihn und küsste die zugekniffenen Lider. Dann wartete sie eine Weile, fütterte ihn mit Brotstückchen und brachte ihn zum Lachen, und als er wieder so weit war, kletterte sie auf ihn und ließ es geruhsam angehen, rollte mit ihm durchs Gras, ließ sich auf den wundervollen Mund küssen und umspielte seine Zunge mit der ihren, und dieses Mal kam sie mit ihm zusammen.

Schließlich lag er erschöpft auf dem Rücken, die Arme ausgebreitet, und er spürte Kälte und Feuchtigkeit aufsteigen, doch das war gleich. Ihm war selten wärmer gewesen. »Ich muss dir ein Geständnis machen«, murmelte er.

»Ah ja?« Edivia kniete neben ihm, strich sich das Haar glatt und band ihren Zopf neu. »Und zwar?«

»Du hattest bereits, was du kaufen wolltest. Ich könnte ihn ebenso wenig im Stich lassen wie die anderen.«

»Weil sie alles sind, was du hast«, mutmaßte sie.

Auf den Gedanken war er noch nie gekommen. »Vielleicht.«

Edivia hob gelassen die Schultern. »Nun, da der Preis kein Opfer war, macht es nichts. Außerdem kann es nicht schaden, wenn du dich gelegentlich an unseren Pakt erinnerst. Simon kann einen manchmal zur Weißglut bringen.«

»Oh ja.«

»Umso besser, wenn dein Gewissen sich dann regt und dich hindert, ihn am Wegesrand an einen Baum zu binden und zurückzulassen.«

Sie lachten, und Losian setzte sich auf und küsste sie noch einmal. Er zog es in die Länge, weil er wusste, dass es das letzte Mal war.

Als ihre Lippen sich voneinander lösten, legte Edivia ihm die Hand auf die Wange. »Fürchte dich nicht vor der Wahrheit. Dazu besteht kein Grund.«

»Wie willst du das wissen?«

»Weil …«

»Nein«, unterbrach er entschieden und nahm ihre Hände in seine. »Du hast mir genug geschenkt. Ich will keine schönen Lügen.«

Sie schüttelte den Kopf. »Es war keine Lüge.« Sie küsste ihm die Stirn und stand auf. »Aber wahrscheinlich musst du das selber erfahren, damit du es glauben kannst. Es ist schade, dass du fortmusst, weißt du. Ich könnte mich an dich gewöhnen.«

»Ja, ich auch. Ich könnte mich an dich gewöhnen, meine ich natürlich, nicht an mich. Soll heißen … ach!« Er machte eine ungeduldige, wegwerfende Bewegung, kam ebenfalls auf die Füße und half ihr, Laub von ihrem Rock zu lesen. »Sei’s drum. Werden sie dir keine Schwierigkeiten machen? Rollo de Laigle und seine Trolle?«

Sie hob kurz die Schultern. »Wir werden sehen, wie lange ihr Wohlwollen reicht, das ich mir heute Morgen erworben habe. Leb wohl, mein namenloser normannischer Freund. Danke, dass du mir nicht die Kehle durchgeschnitten hast. Ich hätte das verstanden, weißt du.«

Losian lachte in sich hinein. »Weise der Mann, der innehält, eh er im Zorn sein Urteil fällt, heißt es. Ich würde sagen, er ist ein Glückspilz. Leb wohl, Edivia.«

Er sah ihr nach, bis sie im Zwielicht zwischen den Bäumen verschwunden war. Dann nahm er den schweren Brotkorb auf und schlenderte zurück Richtung Bach. Er hatte nicht vergessen, dass sie immer noch verfolgt und gesucht wurden, und er blieb allenthalben stehen, sah zurück und lauschte konzentriert. Doch er konnte sich an keine Gelegenheit erinnern, da ihm so leicht ums Herz gewesen war.

Seine Unbeschwertheit währte genau so lange, wie er brauchte, um in Hörweite der Höhle zu kommen. Das Plätschern des Wasserfalls übertönte die erhobenen Stimmen, die herausdrangen, nur unzureichend.

»Sie ist aufgewacht und jetzt schlängelt und schlängelt sie sich …«

»Nun, es ist jetzt seit einer Stunde dunkel, Bübchen, und ganz gleich, was du sagst: Er kommt nicht zurück …«

»Halt dein verdammtes Schandmaul, Regy …«

»Wenn du noch einmal fluchst, Bengel …«

»Losian. Ich will Losian …«

Der trat eilig durch den Wasservorhang. »Seid ihr noch bei Trost? Wisst ihr eigentlich, dass man euch auf zwanzig Schritte Entfernung hört? Wollt ihr, dass sie kommen und euch abschlachten?«

Alle waren verstummt und starrten ihn im Licht eines kleinen Feuers an. Regy saß mit ausgestreckten Beinen und lässig verschränkten Armen an die ungleichmäßige Höhlenwand gelehnt und sah mit einem herablassenden Lächeln zu Simon hoch, der mit geballten Fäusten vor ihm stand, King Edmund mit sturmumwölkter Miene gleich an seiner Seite. Die Zwillinge hatten sich die Kette um die Hüften geschlungen, und Wulfric hielt sie zusätzlich in beiden Händen, als mache er sich bereit, Regy zurückzureißen, sobald es zu Handgreiflichkeiten kam. Luke saß zusammengekauert am Feuer und krallte die Hände in den Bauch, Oswald lag auf der kalten, harten Erde und weinte leise.

Großartig, dachte Losian angewidert. Was für eine Gesellschaft …

Simon rührte sich als Erster. »Wo zum Henker bist du gewesen? Wir sind außer uns vor Sorge!«

Bitterer Zorn überkam Losian – plötzlich, als habe er in einem Hinterhalt gelauert. »Ich kann kommen und gehen, wie es mir gefällt, und schulde dir keine Rechenschaft, Simon de Clare, hast du verstanden? Ich brauchte einfach …« … eine Pause von dieser Ansammlung von Jahrmarktsmonstrositäten, hatte ihm auf der Zunge gelegen, aber er nahm sich gerade noch rechtzeitig zusammen. Er wollte so etwas nicht sagen, denn das waren sie nicht. Es war erbärmlich und gemein, sie zu beleidigen, weil Gott sie anders erschaffen hatte als den Rest der Menschheit. Keiner dieser Männer – abgesehen von ihm selbst und Regy – trug die Schuld für das, was er war. In diesem Punkt hatte der ehrwürdige Abt von St. Pancras sich getäuscht, dessen war Losian sicher. Sie waren gutartiger und harmloser als der Durchschnitt, auch davon war er überzeugt, und es war nicht recht, sie zu beschimpfen, nur weil er ratlos und wütend war und ein schlechtes Gewissen hatte.

Er sah in die Gesichter, die ihm zugewandt waren – teils furchtsam, teils fragend –, und fing noch einmal von vorn an. »Es hat ein Weilchen gedauert, aber ich habe uns Brot beschafft. Hier.« Er streckte King Edmund den Korb entgegen.

Der Angelsachse griff danach und schlug das Tuch zurück. »Oh, der Herr Jesus Christus sei gepriesen! Und du auch, Losian.«

Der nahm einen der Laibe heraus, brach ihn in zwei Hälften und hockte sich vor Luke. »Hier. Du musst sie füttern, dann schläft sie wieder ein.«

Luke wimmerte mit geschlossenen Augen und schien ihn gar nicht zu hören, aber er nickte, und als Losian ihm den halben Laib in die Hand drückte, fing er gierig an zu essen.

Losian ging weiter zu Oswald. »Komm, mein Junge. Setz dich auf. Du musst etwas essen.« Er streckte ihm die Linke entgegen, und nach einem kleinen Zögern griff Oswald danach und zog sich in eine sitzende Position.

»Ich dachte, du kommst nicht wieder«, murmelte er, und immer noch liefen Tränen über sein Gesicht.

Losian sah kopfschüttelnd auf ihn hinab. »Wie kommst du nur auf so eine Idee? Wo sollte ich denn hin ohne euch?«

Oswald griff nach dem Brot und biss hinein. Dann pflückte er mit Daumen und Zeigefinger ein wenig des weichen Inneren heraus, knetete es zu einem Kügelchen und streckte es Losian entgegen. »Für dich.«

Das Brotkügelchen hatte eine bedenklich schwärzliche Farbe, denn Oswalds Hände waren nicht sauber. Losian nahm es trotzdem und aß es. »Hm! Wunderbar.«

Oswald legte den Kopf in den Nacken, um zu ihm hochschauen zu können, und ein kleines verschmitztes Lächeln erhellte sein rundes Gesicht. »Noch eins?«

Losian klopfte ihm auf die Schulter. »Nein, danke. Iss dein Brot nur selbst. Wir haben genug davon. Zumindest für heute.«

Eine Weile waren nur die Essgeräusche unterschiedlicher Lautstärke zu hören, mit denen die acht Wanderer das bitter nötige Brot verschlangen. Ein jeder hielt den Kopf über seinen halben Laib gebeugt und aß, ohne zu reden, denn im Augenblick gab es nichts Wichtigeres, als ihren Hunger zu stillen.

»Kann ich noch mehr?«, fragte Oswald schließlich.

King Edmund warf einen Blick auf den Korb. »Drei Brote haben wir noch. Also für jeden morgen früh noch ein ordentliches Stück. Ich bin dafür, es bis dahin aufzuheben.«

Losian nickte. »King Edmund hat recht, Oswald. Wir müssen heute Nacht noch ein paar Meilen wandern, und dann werden wir froh sein, wenn wir morgen früh etwas anderes zu essen haben als Löwenzahnsuppe und einen Bissen zähes Hasenfleisch.«

»Ich will aber nicht mehr laufen«, quengelte Oswald. »Ich bin müde.«

»Ich weiß. Aber es muss sein.«

»Und wohin?«, fragte Wulfric.

Eine Zeit lang antwortete niemand. Simon saß so weit wie möglich von den anderen entfernt auf seinem Mantel, hatte die Ellbogen auf die Knie und die Stirn auf die Fäuste gestützt. Er zeigte sein Gesicht nicht und hatte kein Wort mehr gesprochen, seit Losian ihn angefahren hatte. Aber jetzt hob er den Kopf und sagte zu den Zwillingen: »Es tut mir leid. Ehrlich. Ich habe euch mit meinen großartigen Versprechungen hierher gelockt, und jetzt bin ich genauso land- und mittellos wie ihr und kann sie nicht halten.«

»Das konnte nun wirklich kein Mensch ahnen«, protestierte Godric. »Und was haben wir schon verloren, indem wir mitgekommen sind? Wie gesagt, Gilham hatte keinen besonderen Reiz mehr ohne unser Land.«

Ganz so einfach war es natürlich nicht, wusste Losian. Die Bauern von Gilham mochten ihren Heimkehrern einen bizarren und äußerst kühlen Empfang bereitet haben, aber letztlich wäre ihnen gar nichts anderes übrig geblieben, als die Zwillinge wieder aufzunehmen und irgendwie zu versorgen – sei es mit neuem Land, als Tagelöhner oder notfalls mit Almosen. Und das nicht nur, weil viele von ihnen mit Wulfric und Godric verwandt waren, sondern weil Dorfgemeinschaften eben so funktionierten. Dieser Zusammenhalt ging gar so weit, dass das Gesetz nach angelsächsischem Brauch die Bauern eines Dorfes verpflichtete, sich in Gruppen von zehn oder zwölf zu einem Tithing zusammenzuschließen, in welchem die Mitglieder für das Wohlverhalten der anderen verantwortlich waren, sich füreinander vor Gericht verbürgten, der eine dem anderen zum Pflügen seine Ochsen lieh. Wer zu einem Tithing gehörte, war niemals allein. Wer außerhalb dieser Ordnung stand, war den Wechselfällen des Lebens schutzlos ausgeliefert. Die Zwillinge hatten viel aufgegeben, um Simon nach Woodknoll zu folgen, und es war kein Wunder, dass der Junge ein schlechtes Gewissen hatte.

Nach einer Weile stellte Losian fest, dass alle ihn anschauten. Doch er hob abwehrend die Hände. »Im Augenblick bin ich so ratlos wie ihr. Bisher sind wir immer nur davongelaufen. Erst von der Insel, dann aus dem zerstörten Kloster, aus Gilham, jetzt aus Woodknoll. Es wird Zeit, dass wir einmal irgendwohin gehen, aber ich weiß nicht, wo dieser Ort sein soll.«

»Nun, wenn keinem von euch etwas Besseres einfällt, dann lasst uns nach East Anglia ziehen«, schlug King Edmund vor. »Ich bin gewiss, dass das mein Weg ist. Und wer weiß, vielleicht hat der Herr uns zusammengeführt, weil es auch euer Weg ist.«

»Oh, natürlich«, höhnte Regy. »Gott hat dich ausersehen, das Übel des Krieges zu beenden oder etwas in der Richtung, war’s nicht so? Nun, es würde ihm ähnlich sehen, ausgerechnet einen Haufen wie diesen mit dieser ehrenvollen Aufgabe zu betrauen, hatte er doch immer schon eine Schwäche für Wirrköpfe …«

»Nimm dich in Acht, du Teufel«, drohte King Edmund leise.

Doch Regy ließ sich nicht unterbrechen. »Aber ausgerechnet in East Anglia? Dort gibt es nichts außer Sümpfen und Mönchen. Ich habe Zweifel, dass der Krieg sich die Mühe gemacht hat, dort auch nur vorbeizuschauen.«

»Und dennoch werden wir hingehen«, entschied Losian.

»Ich werde nicht gefragt, nehme ich an?«, tippte Regy verdrossen.

»So ist es. Alle außer dir sind natürlich frei, zu gehen, wohin sie wollen, aber ich denke, King Edmunds Ziel ist besser als gar keines.« Er nickte dem Angelsachsen zu. »Lass uns herausfinden, welche Pläne Gott mit uns hat.«

Sie brachen um Mitternacht auf. Es war Neumond, aber wolkenlos, und die Sterne spendeten genug Licht, sodass die Wanderer sich einen Weg durch den Wald bahnen konnten.

Losian ermahnte sie, sich möglichst still zu verhalten, und allenthalben blieb er stehen, sah zurück und lauschte. Aber es hatte den Anschein, als hätten de Laigles Männer die Suche für heute aufgegeben.

Simon trottete hinter den Zwillingen her und schaute sich so wenig wie möglich um. Er war früher in diesem Wald mit seinem Vater zur Jagd geritten, und er kannte hier jeden Halm und Stein, doch es war zu schmerzlich, sie anzuschauen. Edivias Verrat, Wilberts Ermordung und der Verlust von Woodknoll brachten den Schmerz über den Tod seines Vaters zurück, so frisch, als sei die Nachricht erst gestern gekommen. Der Kummer lähmte ihn in solchem Maß, dass er es kaum fertigbrachte, angemessenen Zorn über den Diebstahl seines Gutes zu empfinden. Simon fühlte sich wie betäubt, und er fand es mühsam, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Er wollte sich auf die kalte Erde legen, nichts mehr hören und nichts mehr sehen.

Wulfric und Godric gingen vor ihm, fanden wie üblich den Weg, der in die gewünschte Richtung – nach Südosten – führte, und sagten nichts. Hin und wieder sah einer von beiden über die Schulter und lächelte Simon aufmunternd zu. Godric zwinkerte auch hin und wieder oder schnitt eine Grimasse, die so viel sagte wie: Die Welt ist eine Jauchegrube, Mann, mach dir nichts draus.

Simon war ihnen so dankbar, dass er nie die passenden Worte dafür hätte finden können. Aber er wusste, das machte nichts. Sie wollten gar nichts hören.

Als der Morgen graute, zog der Himmel sich zu, und ein leiser Regen begann zu fallen. Die Gefährten wickelten sich in ihre Mäntel, rasteten im Schutz einer ausladenden Tanne, und um die gedrückte Stimmung zu heben, holte King Edmund in seinem Kessel Wasser, bat Losian respektvoll um seinen mörderisch scharfen Dolch und bot an, jeden, der es wünschte, zu rasieren. Nur er selbst – der Mann der Kirche – und die drei Normannen wollten ein glatt rasiertes Gesicht, und die anderen stellten sich im Kreis um sie auf, schauten zu und machten sich darüber lustig. Aber sie alle baten King Edmund, ihnen die Bärte in Form zu bringen, und so war es eine sehr viel zivilisiertere Reisegesellschaft, die sich im sachten Nieselregen wieder auf den Weg machte.

Am zweiten Tag wagten sie sich auf die Straße, die von Lincoln nach Norwich führte, und hier kamen sie wesentlich schneller voran. Hin und wieder begegneten sie Kaufleuten mit schwer beladenen Karren oder Bauern mit Ochsengespannen, und sie ernteten neugierige, oft auch feindselige Blicke, doch niemand behelligte sie. Losian ging jetzt an der Spitze, und das mächtige Schwert an seiner Seite flößte den Reisenden ebensolche Angst ein wie der wilde Geselle an der Kette, den er mit sich führte. Regy ließ es sich nicht nehmen, sie mit Fratzen und obszönen Gesten noch weiter zu erschrecken.

»Wer hätte das gedacht, Regy«, bemerkte Losian irgendwann. »Du machst dich nützlich.«

Fortan strafte Regy die Fremden auf der Straße mit Verachtung, aber seine Erscheinung war völlig ausreichend, um sie auf Distanz zu halten.

Für ihre Ernährung waren sie nun wieder auf das Jagdgeschick der Zwillinge und King Edmunds Pflanzenkunde angewiesen, und beide brachten selten genug zustande, um alle acht satt zu machen. Obendrein war der Wald, den sie jetzt durchwanderten, ein königliches Jagdrevier, wusste Simon, und wer sich hier dabei erwischen ließ, dass er einen Hasen oder eine Taube fing, dem drohte der Verlust einer Hand oder des Augenlichts und eine Haftstrafe von unbestimmter Dauer. »Nicht, dass der König derzeit viel Muße zur Jagd hätte«, fügte Simon verdrossen hinzu, »aber wir sollten lieber nicht hoffen, dass seine Förster deswegen nachsichtig sind.«

Also ließen sie Vorsicht walten, was nicht selten bedeutete, dass sie überhaupt nichts zu essen bekamen. Vor allem Oswald schien unter der mangelnden Ernährung zu leiden, und die langen Wanderungen wurden zunehmend zur Strapaze für ihn. Er wurde hohlwangig, und manchmal schien es Simon, als nehme Oswalds Gesicht eine bläuliche Tönung an.

»Losian, wir müssen rasten«, sagte Simon beschwörend, der nach vorn aufgeschlossen hatte.

»Wieso? Es kann kaum später als Mittag sein.«

Simon wies unauffällig über die Schulter. »Er kann nicht mehr weiter.«

Losian blieb stehen und wandte sich um. Oswald klammerte sich an King Edmunds Hand, hielt den Kopf gesenkt und keuchte.

»Du hast recht«, befand Losian. Es klang verdrossen.

»Es ist nicht so, als hätten wir es eilig, oder?«, gab Simon zurück.

»Das ist wahr. Aber ich hätte lieber an einem geschützteren Platz gerastet.«

Seit dem vorherigen Nachmittag führte die Straße durch die Fens, jenes scheinbar endlose, von Seen und tückischen Sümpfen durchzogene Marschland, das weite Teile von Lincolnshire und East Anglia bedeckte, und außer Schilf und einem gelegentlichen Gebüsch gab es hier nichts, das Deckung bot.

»Du glaubst nicht im Ernst, dass de Laigle immer noch hinter uns her ist, oder?«, fragte Simon leise.

Losian hob die Schultern. »Ich habe keine Ahnung.« Dann überlegte er kurz. »Nein, wahrscheinlich nicht. Sonst hätte er uns längst geschnappt.«

King Edmund, der zugehört hatte, wies nach Norden, wo sich gar nicht weit entfernt eine hölzerne Kirche erhob. »Da. Sieht aus wie ein Kloster. Klöster haben Gästehäuser und geben armen Wanderern zu essen.«

»Auf keinen Fall«, sagten Simon und Losian wie aus einem Munde, sahen sich verblüfft an und tauschten ein kleines Lächeln.

»Ihr könnt nicht für alle Zeit einen Bogen um jedes Gotteshaus machen, nur weil die Brüder von St. Pancras von Gottes rechtem Weg abgekommen waren«, wandte King Edmund ärgerlich ein. »Sie sind die Ausnahme, wisst ihr.«

»Wir gehen in kein Kloster«, erklärte Losian, und man konnte hören, dass es sein letztes Wort war.

Simon gab ihm recht. Selbst wenn nicht alle Äbte dazu neigten, Narren und Krüppel wegzusperren, war es gewiss unklug, in Begleitung eines Mannes an ihre Pforten zu klopfen, der sich für den Heiligen Edmund hielt.

Wulfric wies mit dem ausgestreckten Arm auf eine Ansammlung von Häusern, die ein Stück weiter südlich lag. »Da. Ein Dorf.«

»Sagen wir, ein Weiler«, brummte Regy.

»Ich schätze, das sind die Hörigen des Klosters«, fuhr Wulfric fort. »Was sie hier wohl machen? Ich sehe keine Felder.«

»Oh, es gibt Felder in den Fens«, gab King Edmund zurück. »Sehr fruchtbare, fette schwarze Erde haben wir hier. Und es gibt auch wundervolle Wälder.« Besitzerstolz schwang in seiner Stimme. »Aber nicht hier, wo es so sumpfig ist. Die Menschen stechen Torf und halten ein paar Ziegen und Schafe.«

»Man fragt sich, wer eine Straße durch dieses Sumpfland gebaut hat«, bemerkte Simon. »Wieso versinkt sie nicht einfach?«

»Es heißt, die Römer hätten sie angelegt. Auf einem Wall«, erklärte Edmund. »Die wussten anscheinend, was sie taten.«

»Hast du den Penny noch, Losian?«, fragte Godric plötzlich.

»Penny?«, wiederholte Losian verständnislos.

Die Zwillinge nickten. »Oswald hat ihn auf dem Wehrgang gefunden«, erinnerte Godric ihn. »Am Tag, als Simon kam«, fügte Wulfric hinzu.

Losian öffnete den Beutel an seinem Gürtel und schüttete den mageren Inhalt in seine Hand: ein paar Leinenstreifen, die er aus seinem alten Obergewand gerissen hatten, falls sie einmal Verbandszeug brauchen sollten. Ein kleines Stück Seil. Und der Penny. Er hielt ihn hoch.

»Großartig.« Wulfric strahlte. »Dafür bekommen wir von den Leuten in dem Dorf bestimmt Grütze für acht.«

»Hast du gehört, Oswald?«, Simon knuffte dem erschöpften jungen Mann aufmunternd die Schulter. »Wir kaufen von deinem Penny etwas zu essen. Es ist nicht weit, siehst du, da hinten sind die Häuser.«

Oswald nickte.

Doch Entfernungen trogen in den Fens. Der Weiler lag weiter von der Straße, als sie gedacht hatten. Sie brauchten fast eine halbe Stunde, und als vielleicht noch zweihundert Yards sie von den ersten Hütten trennten, blieben die Wanderer stehen.

»Ich kann mir nicht helfen, aber ich sehe schwarz für unsere Grütze«, bemerkte Regy.

Vielleicht ein Dutzend reetgedeckter Hütten hatte diese kleine, entlegene Siedlung einmal ausgemacht, aber sie waren nur noch verkohlte Gerippe. Kein Anzeichen von Leben war zu entdecken und nichts zu hören bis auf den unmelodischen Ruf einer Krähe.

Grendel winselte kurz, dann lief er ein Stück weiter. Mit einem leisen Pfiff befahl Godric ihn zurück an seine Seite, strich ihm über den grauen Kopf und murmelte: »Lass uns lieber vorsichtig sein, Kumpel.«

Simons Herz sank. »Kehren wir um«, riet er. »Außer ein paar Toten werden wir dort nichts finden.«

»Nun sind wir so weit gekommen, jetzt können wir die letzten Schritte auch noch gehen«, widersprach Losian. »Vielleicht lebt eins der Schafe noch.«

Alle stimmten beklommen zu. Losian ging mit Regy voraus, und die anderen folgten.

Was sie fanden, war ein Ort der Verwüstung: Die bescheidenen Hütten hatten, umgeben von kleinen Gärten, in einem unordentlichen Halbkreis gestanden. Es waren mehr, als sie aus der Ferne geschätzt hatten, aber die meisten waren zu ein paar geschwärzten Pfählen verbrannt. In den Gärten und auf der Dorfwiese lag zertrampeltes Federvieh. Viele beschlagene Hufe hatten Abdrücke im Schlamm hinterlassen.

Losian kettete Regy an den Stamm einer einzelnen Weide, die am Rand des Dorfplatzes stand, dann teilten sie sich auf und durchsuchten die niedergebrannten Hütten. Anscheinend hatten die meisten Dorfbewohner fliehen können, denn viele Leichen fanden die Wanderer nicht. Aber die wenigen waren grauenhaft zugerichtet. Hinter dem zweiten Häuschen, zu dem Simon und Losian kamen, lag eine tote Frau, deren Bauernkittel aus ungefärbter Wolle in Fetzen um ihre Körpermitte hing, und ihre Augen starrten in den grauen Himmel hinauf. Ihre linke Gesichtshälfte war blutüberströmt und ihre entblößte Brust ebenso.

»Geh ins Haus und sieh, ob du irgendetwas Essbares findest«, sagte Losian. Seine Stimm klang eigentümlich matt.

Simon gehorchte, und er hatte sogar Glück. Er entdeckte ein kleines Fass mit Sauerkohl, das angesengt, aber nicht verbrannt war. Als er mit dem Fässchen unter dem Arm zurück ins Freie kam, hatte Losian das zerrissene Kleid der Toten zurechtgezupft, sodass es ihre Blöße bedeckte, und die Augen geschlossen.

»Was mag hier passiert sein?«, fragte er kopfschüttelnd.

Simon hob die Schultern, wandte sich von der Toten ab, und sie machten sich auf den Rückweg. »König Stephens Truppen kontrollieren Ostengland. Wenn ›kontrollieren‹ denn der richtige Ausdruck ist. Sagen wir, sie sind hier zahlreicher als Mauds Männer, denn deren Rückhalt beschränkt sich inzwischen nur noch auf den Südwesten. Aber es gibt auch hier Leute, die mit ihr sympathisieren. Vielleicht haben diese Bauern einen ihrer Ritter versteckt, der vor Stephens Häschern auf der Flucht war. So sieht es jedenfalls aus. Und dann hat der Earl of Norfolk oder weiß der Henker wer einen Trupp Männer hergeschickt, um sicherzugehen, dass die Bauern es nicht wieder tun.«

»Und das Blöde ist, dass sich das Blatt nächste Woche wenden kann, und dann ist alles andersrum«, sagte Godric, als die Zwillinge und Grendel auf dem Dorfplatz zu ihnen traten. »Der Earl of Norfolk wechselt die Seiten oder wird von Mauds Truppen vertrieben, und dann schlachten sie die Bauern ab, die die Fliehenden aus Stephens Reihen verstecken. Ich sag dir, das geht so schnell, da kann sich kein Mensch mehr auskennen. Und dann gibt es natürlich noch die Lords, die weder Maud noch Stephen dienen, sondern nur ihren eigenen Absichten. Wie de Laigle, zum Beispiel.«

»Was ist das für ein verdammter Krieg, wo Earls die Seiten wechseln und ihre Truppen Bauern abschlachten, statt sich zur Schlacht zu treffen?«, fragte Losian ungehalten.

»Mein Sohn …«, schalt King Edmund mit einem Seufzer überstrapazierter Duldsamkeit.

»Entschuldige«, knurrte der Getadelte abwesend. »Also?«

»Na ja«, antwortete Wulfric. »Ein Bürgerkrieg eben. Einer von der Sorte, wo es keine richtige, sondern nur falsche Seiten gibt. Ich möchte nicht mit den Lords tauschen, ehrlich.«

»Erzählt mir mehr darüber«, verlangte Losian. »Ich habe immer gesagt, dieser Krieg gehe mich nichts an und ich wolle nichts davon hören, aber ich habe das Gefühl, er kommt uns näher.« Er wies auf die verkohlte Bretterwand, in deren Windschatten sie sich nahe der Weide auf die Erde gehockt hatten und ihre Ausbeute betrachteten: das Kohlfass, ein halbes Fass Bier, ein paar durchweichte, angeschimmelte Stücke Brot.

Regy ruckte das Kinn in Simons Richtung. »Erzähl du’s ihm, mein Augenstern. Du kannst das sicher viel bewegender als ich. Aber untersteh dich, deinen angebeteten König Stephen besser zu machen, als er ist, sonst muss ich einschreiten.«

Simon beachtete ihn nicht. Er sah Losian an und hob hilflos die Schultern. »Es ist alles passiert, weil es keinen Thronfolger gab, als der alte König vor zwölf Jahren starb. Nur seine Tochter. Kaiserin Maud.«

»Wieso Kaiserin?«, unterbrach Losian stirnrunzelnd.

»Sie war mit dem deutschen Kaiser Heinrich verheiratet«, antwortete Simon. »Und obwohl der schon vor Ewigkeiten gestorben und jetzt der Graf von Anjou ihr Gemahl ist, nennt sie sich immer noch ›Kaiserin Maud‹. Was dir einen Eindruck davon vermitteln sollte, welch ein arrogantes Miststück sie ist.«

»Das ist sie ohne Zweifel«, räumte Regy ein. »Doch ist es ihr gutes Recht, den Titel zu führen, denn der Papst hat sie zur Kaiserin gekrönt.«

Losian hob die Hand. »Egal. Erzähl weiter, Simon.«

»Der alte König ließ die englischen und normannischen Lords schwören, dass sie Maud zur Königin wählen, wenn er stirbt. Und ihr Cousin, Stephen de Blois, war einer der Ersten, der den Eid leistete. Genau wie ihr Bruder, Robert of Gloucester.«

»Augenblick. Sagtest du nicht, sie hatte keine Brüder?«

»Gloucester ist ein Bastard«, erklärte Simon. »Der alte Henry hatte zwei Dutzend Bastarde, behauptete mein Vater immer, und er hat sie zu Earls of Gloucester und Cornwall und was weiß ich wo gemacht. Jedenfalls, als er starb, brachen die Lords ihren Eid und setzten ihren Cousin Stephen auf den Thron.«

»Der ihr Treue geschworen hatte«, warf King Edmund entrüstet ein. »Es ist eine verkehrte Welt …«

»Mag sein, aber der Eroberer war Stephens Großvater ebenso wie Mauds, und die Lords wollten Stephen nun einmal lieber auf dem Thron als sie«, entgegnete Simon hitzig. »Weil sie ihn kannten – im Gegensatz zu ihr – und vor allem, weil sie nicht wollten, dass Mauds Gemahl, Geoffrey von Anjou, die Macht über England gewinnt. Und recht hatten sie. Er ist ein machtgieriger Blutsauger. Und Stephen ist ein guter König. Ein Ehrenmann. Es ist nicht seine Schuld, dass dieser Krieg mit solcher Erbitterung und Grausamkeit geführt wird.«

Regy schnaubte. »Es ist sehr wohl seine Schuld, denn er ist ein Waschweib und kann sich nie dazu durchringen, seine Feinde mit der nötigen Härte niederzuringen. Darum nimmt dieser blöde Krieg kein Ende. Und Tatsache bleibt: Dieser Ehrenmann und die übrigen Lords brachen ihren Eid und verstießen gegen den letzten Willen des Königs. Als Kaiserin Maud nach England kam, um ihr Recht zu fordern, bekamen manche von ihnen kalte Füße und schlossen sich ihrer Sache an.«

Simon nickte unwillig. »Vor allem ihr Halbbruder, der Earl of Gloucester, der ein hervorragender Soldat ist. Und so brach der Krieg aus. König David von Schottland – Kaiserin Mauds Onkel – überschritt die Grenze und sicherte den Norden für sie. Ihr Bruder Gloucester den Südwesten. König Stephen kontrolliert den Südosten. Um den Rest führen sie Krieg. Und das seit über acht Jahren.«

Losian war aufgestanden und hatte brauchbares Holz zusammengesucht, dabei aber aufmerksam gelauscht. »Wie kann es sein, dass der alte König eine Tochter und zwei Dutzend Bastarde hatte, aber keinen legitimen Sohn? Was für eine Ironie des Schicksals«, bemerkte er.

»Nun ja, es gab einen Thronfolger, Prinz William Ætheling«, antwortete Simon. »Aber der ist schon lange tot. Ertrunken auf dem Rückweg von der Normandie nach England. Viele gute Männer sind damals ertrunken, als das White Ship unterging und … Losian?«

»Was ist mit ihm?«, fragte King Edmund erschrocken.

Losian war mit dem Rücken zu ihnen stehen geblieben, wie erstarrt, und dann ohne jede Vorwarnung zusammengebrochen.

Die Zwillinge tauschten einen verwunderten Blick und beugten sich dann über ihn. »Bewusstlos«, berichtete Wulfric über die Schulter. »Völlig weggetreten«, fügte sein Bruder hinzu.

»Tja, es war ein bisschen einschläfernd, wie du die Geschichte erzählt hast, Simon«, befand Regy. »Aber so schlimm war sie nun auch wieder nicht.«

Losian erwachte aus einem ungewöhnlich lebhaften, wunderschönen Traum, den er aber auf der Stelle vergessen hatte, und setzte sich auf. »Was …« Er sah in die Gesichter, die ihn umringten, manche besorgt, manche verdutzt, und winkte verlegen ab. »Kein Grund zur Beunruhigung. Es ist … Das muss der Hunger sein. Nun stiert mich nicht an, als wär mir ein zweiter Kopf gewachsen.«

Er wusste noch genau, wovon sie gesprochen hatten. Und er spürte kein Unbehagen oder gar die lauernde Angst. Nur einen leichten Schwindel, der nicht einmal unangenehm war.

Simon betrachtete ihn kritisch. »Du warst … ziemlich tief abgetaucht. Man konnte dich nicht atmen sehen.«

Losian verdrehte ungeduldig die Augen. »Und wenn schon. Wie du siehst, weile ich noch unter den Lebenden. Erzähl weiter.«

Er nahm seinen hölzernen Löffel vom Gürtel, tauchte ihn in das Kohlfass und gab vor, die Blicke nicht zu bemerken, die die anderen tauschten. Schließlich folgten sie seinem Beispiel und begannen zu essen. Wie immer teilten die Zwillinge ihre Ration mit ihrem Hund, der ebenso hungerte wie die Menschen und sich darum dankbar auf den Sauerkohl stürzte.

»Es gibt nicht viel mehr zu erzählen«, sagte Simon. »Vor sechs Jahren gab es in Lincoln eine große Schlacht. König Stephen verlor und geriet in Gefangenschaft. Aber wenig später geriet Gloucester ebenfalls in Gefangenschaft, und sie wurden gegeneinander ausgetauscht. Alles ging wieder von vorn los. Bei ihrer Flucht aus Oxford vor ein paar Jahren wäre auch die Kaiserin beinah ihren Feinden in die Hände gefallen, und seither verschanzt sie sich in Devizes Castle und rührt sich nicht mehr.«

»Der Krieg schleppt sich lustlos dahin, und die Lords machen, was sie wollen«, fasste Regy zusammen. »Ich schätze, viele haben begriffen, dass sie ganz gut ohne einen König zurechtkommen – ohne eine Königin allemal –, und sonnen sich viel lieber in ihrer uneingeschränkten Macht, als einen der Kontrahenten zu unterstützen, dem sie sich dann irgendwann wieder unterwerfen müssten, wenn der Krieg aus wäre.«

»Aber wenn es keinen König gibt, wer soll dann das Recht verkörpern?«, wandte Simon ungeduldig ein.

Regy zwinkerte ihm zu. »Niemand. Das ist ja das Großartige.«

Simon machte eine ausholende Geste, die das ganze niedergebrannte Dorf umschloss. »Ich weiß wirklich nicht, was du so erheiternd daran findest, dass so etwas hier geschehen kann. Ungestraft und ungesühnt.«

»Wirklich nicht?«, fragte King Edmund. Er betrachtete Regy mit unverhohlenem Abscheu, was ihm nicht ähnlich sah. »Dann erkläre ich es dir, Simon de Clare: Dies ist die Anarchie. Die Rechtlosigkeit und das Chaos, auf denen der Satan sein Reich zu errichten gedenkt. Und das ist es, was Regy herbeisehnt.«

Die anderen bekreuzigten sich, und Regy lächelte verträumt vor sich hin.