Dover, Juli 1147

Keiner von ihnen hatte je einen so großen Hafen gesehen, und die drei Reisenden blickten sich staunend um, mit leuchtenden Augen. Einmastige Schiffe und Boote lagen dicht an dicht entlang der Kais, wo sich Waren in Fässern, Säcken und Ballen stapelten. Hafenarbeiter, Seeleute, schmuddlige Straßenkinder und Beutelschneider liefen umher wie Ameisen, und vor jeder Hafenschenke fanden sich Huren, die mit ihren Freiern feilschten oder vorlaut um Kundschaft warben.

»Ja, was seid ihr denn für welche? So was hab ich ja noch nie gesehen. Aber kommt nur, ich werd auch mit zweien fertig!« Keck kam das junge Mädchen auf Godric und Wulfric zugeschlendert. Sie trug einen formlosen Kittel, dessen Ausschnitt so weit eingerissen war, dass er einen großzügigen Blick auf ihre vollen Brüste bot. Schuhe besaß sie nicht, aber nicht nur ihre Füße waren schmutzig. Jeder sichtbare Zoll Haut war mit einer gräulichen Dreckschicht bedeckt, und als sie näher kam, zuckten die drei Freunde vor ihrem Geruch zurück.

Hastig legte Simon den Zwillingen von hinten die Hände auf die Schultern und lotste sie um die Hure herum. »Da vorn, das muss es sein«, sagte er. »Ein Segel mit grünen Streifen, hat der Hafenmeister gesagt.«

Es war ein Handelssegler, der englisches Leder nach Dieppe bringen sollte. Ein großer Mann mit feinen Kleidern und einem braun gebrannten Gesicht beaufsichtigte ein Dutzend Arbeiter, die die schweren, zu Ballen verschnürten Häute an Bord trugen. Seine Augen waren zu Schlitzen verengt, und er wirkte grimmig.

Simon fasste sich dennoch ein Herz und trat auf ihn zu. »Verzeiht mir, mein Freund, ist das hier die St. Anne

Der Mann streifte sie mit einem abschätzigen Blick. Nichts regte sich in seiner Miene, als er die Zwillinge sah. Er nickte.

»In dem Falle hätte ich gern Kapitän Arnod gesprochen.«

»Steht genau vor dir, Söhnchen.«

Simon lächelte höflich. »Ich suche eine Passage für meine Freunde und mich, Monseigneur, und ich bin ganz gewiss nicht Euer Söhnchen.«

»Zwei Pence für Euch, sechs für die Krüppel«, bekundete Arnod.

»Warum sind sie teurer?«, erkundigte sich Simon.

»Weil sie die Mannschaft nervös machen werden, und das bereitet mir Verdruss. Verdruss lasse ich mir immer bezahlen.«

»Für acht Pence bekommen wir einen windgeschützten Platz und ein warmes, genießbares Abendessen.«

Der Kapitän nickte und streckte die Hand aus. Simon unterdrückte ein Seufzen, als er seine Börse aufschnürte und das Geld abzählte. Ihre Barschaft schmolz schneller dahin, als ihm lieb war. Er ließ die Münzen in Arnods schwielige Hand klimpern.

Der brummte zufrieden. »Geht an Bord. Wir segeln, sobald die Ladung komplett und vertäut ist.«

Simon ging zu Godric und Wulfric zurück, die ein paar Schritte entfernt gewartet hatten.

»Schwierigkeiten?«, erkundigte sich Godric.

»Im Gegenteil. Genießbares Abendessen.«

Wulfric brummte. »Wer’s glaubt.«

»Wir können an Bord, hat er gesagt.«

Sie gingen zu der zweiten Planke weiter hinten, wo weniger Betrieb herrschte, weil das Beladen hier vermutlich schon abgeschlossen war. Am landseitigen Ende der Planke stand ein Mann von vielleicht Mitte zwanzig in sehr eleganten, aber dunkel gehaltenen Kleidern und blickte voller Skepsis auf das schmutzig graue Wasser zwischen Kaimauer und Bordwand.

»Nur Mut, Monseigneur«, sagte Simon.

Der Mann wandte den Kopf, lächelte eine Spur kläglich und antwortete: »Ich meine, diese Planke ist entschieden zu schmal für einen Mann. Ich weiß genau, dass ich hineinfallen werde. Und seht Euch nur diese widerwärtige Brühe an.« Er schauderte, und auch wenn seine Miene Selbstironie verriet, war das Schaudern doch echt.

»Godric, Wulfric, tut ein gutes Werk an diesem armen Reisenden und zeigt ihm, dass man selbst zu zweit unbeschadet hinüberkommt«, sagte Simon über die Schulter.

Grinsend traten die Zwillinge näher, stellten sich seitlich zur Planke und liefen mit der ihnen eigenen mühelosen Grazie seitwärts hinauf. Leichtfüßig.

Der Fremde in dem edlen Mantel bestaunte sie mit geöffneten Lippen. Dann straffte er die Schultern. »Also gut«, murmelte er vor sich hin. »Ich muss nach Rouen, also muss ich über diese Planke. Es hilft alles nichts …«

Mit grimmiger Entschlossenheit setzte er den ersten Fuß auf den hölzernen Steg, dann den nächsten, den Blick fest auf sein Ziel geheftet.

Simon folgte ihm nach wenigen Schritten und schloss auf leisen Sohlen auf. Und das erwies sich als Glücksfall. Nur noch zwei oder drei Ellen von der rettenden Bordwand entfernt, geriet der Mann ins Wanken, stieß einen halb wütenden, halb furchtsamen Laut aus, rang rudernd um Gleichgewicht und kippte dann nach links weg.

Simon erwischte ihn am Arm und zerrte ihn mit einem Ruck zurück. Er war nicht sicher, ob er sie damit nicht zusammen auf der anderen Seite von der Planke befördert hätte, aber die Zwillinge waren zur Stelle. Wulfric umschlang Simons Taille, und Godric fasste den Fremden ein wenig zaghafter bei der Schulter. »Nur noch zwei Schritte«, sagte er ermutigend.

Trockenen Fußes gelangten sie alle vier an Bord.

Der Fremde tat einen Seufzer der Erleichterung. »Wenigstens dieser gefahrvolle Teil meiner Reise wäre glücklich überstanden. Dank Eurer Hilfe.« Und beinah schlagartig änderte sich sein Gebaren. Die etwas verschreckte Miene wich einem halb neugierigen, halb herausfordernden Blick, der über Schiff, Ladung und Mannschaft schweifte und dem gewiss nicht viel entging. Der Reisende hielt seine feinen Glacéhandschuhe in der Linken und ließ sie abwesend in die Rechte klatschen. »Der heilige Petrus möge uns behüten. Was für ein Seelenverkäufer …« Mit erschütternder Plötzlichkeit kehrte der Blick der scharfen blaugrauen Augen zu Simon zurück. »Ist es möglich, dass wir uns kennen?«

»Ich glaube nicht, Monseigneur.« Simon verneigte sich. »Simon de Clare of Woodknoll.«

»Ah. Dann muss es wohl daran liegen. Ihr de Clare seid wahrhaftig Legion.« Ehe Simon sich nach dem Sinn dieser seltsamen Worte erkundigen konnte, stellte der Mann sich vor: »Becket. Thomas Becket. Of Nirgendwo.« Der etwas zu breite Mund verzog sich zu einem flüchtigen Lächeln. »Und wer sind Eure unzertrennlichen Freunde, die uns vor einem Bad im Hafendreck bewahrt haben?«, fragte er auf Englisch.

»Godric«, sagte Wulfric und wies auf seinen Bruder.

»Und Wulfric«, fügte Godric hinzu und spiegelte die Geste. »Aus Gilham in Yorkshire.«

Becket nickte liebenswürdig, betrachtete mit einem missvergnügten Stirnrunzeln die mäßig sauberen Planken, zögerte kurz und ließ sich dann nieder. »Weit weg von zu Hause«, bemerkte er.

Simon und die Zwillinge folgten seinem Beispiel und setzten sich. Becket beobachtete die perfekt abgestimmten Bewegungen der Zwillinge mit unverhohlener Faszination. »Seid Ihr schon lange unterwegs?«, fragte er.

»Wir sind vor drei Tagen von East Anglia aufgebrochen«, berichtete Simon. »Da Godric und Wulfric nicht reiten können, haben wir praktisch die ganze Strecke auf dem Wasser zurückgelegt: mit einem Flusskahn nach Yarmouth, von dort mit einem Fischerboot nach Dover. In Dieppe wollen wir versuchen, ein Küstenschiff zu finden, das uns bis zur Loiremündung bringt.«

»Wo soll’s denn hingehen?« Becket streckte die eleganten Stiefel vor sich aus und lehnte sich bequem gegen einen Stapel der Ladung.

»Wir suchen jemanden und wissen nicht genau, wo wir ihn finden werden«, antwortete Simon vorsichtig.

»Oh. Wie geheimnisvoll.« Die blaugrauen Augen sahen ihn durchdringend an, und ein spöttischer Zug lag um den Mund, der dem Gesicht fast einen Anstrich von Grausamkeit verlieh. Es war ein auffallend gut aussehendes, hellhäutiges Gesicht, umrahmt von Haaren, die so glatt und schwarz waren wie Simons.

»Und wie steht es mit Euch?«, konterte der junge de Clare.

»Nun, ein wenig geheimnisvoll ist meine Mission auch.« Becket klopfte auf die Ledertasche, die halb unter dem Mantel verborgen an seiner Seite hing. »Ich bringe dem Herzog der Normandie ein paar brisante Neuigkeiten.«

Simon und die Zwillinge tauschten einen verwunderten Blick. Mehr aus alter Gewohnheit entgegnete Simon: »Und ich war sicher, König Stephen sei der Herzog der Normandie.«

Die schmalen, geraden Brauen fuhren in die Höhe. »Du meine Güte, wo habt Ihr gesteckt, de Clare? In einem Erdloch? Der Graf von Anjou hat die Normandie erobert und den Herzogstitel schon vor drei Jahren angenommen.«

Simon nickte seufzend. »Ja, ich weiß.«

»Ob er ein Recht dazu hatte, darf man in Zweifel ziehen, selbst wenn er behauptet, nur das Recht seiner über alles geliebten Gemahlin, Kaiserin Maud, auszuüben. Aber wie dem auch sei. Der König von Frankreich hat ihm einen Lehnseid für die Normandie abgenommen. Das nennt man Fakten schaffen.«

»Ja, Monseigneur, auch das ist mir bekannt.«

»Und ich sehe, Ihr wisst nicht so genau, was Ihr davon halten sollt. Ehrlich gesagt, ich beneide Euch Edelleute nicht, die Ihr Euch für eine Seite entscheiden müsst. Wenigstens hin und wieder. Da haben wir Kirchenmänner es leichter.«

»Ihr seht nicht aus wie ein Priester«, befand Godric.

»Das bin ich auch nicht. Und keineswegs sicher, ob ich das je werden will.« Mit einem beinah verliebten Blick betrachtete er seine edlen Stiefel und das kostbare Schwert an der linken Seite. »Ich stehe im Dienst des Erzbischofs von Canterbury, der ein sehr großzügiger Gönner und Förderer meiner nicht unbeträchtlichen Talente ist, aber der Priesterweihe bin ich bislang entronnen.« Er sah in die drei verständnislosen Gesichter, und ihre Mienen schienen ihn zu amüsieren. Dann erklärte er seine eigenartige Position: »Mein Vater war Kaufmann und kam als normannischer Einwanderer nach London. Er brachte es schnell zu ziemlich viel Geld, und bald gehörte ihm halb Cheapside. Aber all die hübschen Häuser gingen in Rauch auf, und über Nacht waren wir bettelarm. Also brauchte ich plötzlich Arbeit. Ich habe eine Zeit lang einem Londoner Bankier die Bücher geführt, aber vor zwei Jahren konnte ich in den Haushalt des Erzbischofs wechseln. Das ist eine weitaus reizvollere Stellung. Und weil ich wieder einmal meine große Klappe aufreißen musste und behauptet habe, ich sei durchaus in der Lage, eine diplomatische Mission zu erfüllen, hat er mich nun zu dem fürchterlichen Geoffrey von Anjou geschickt.« Er klopfte kurz auf seine Ledertasche. »Aber was ist mit Euch? Irgendetwas lässt mich ahnen, dass Eure Geschichte viel interessanter ist als meine.«

Während die Leinen losgemacht wurden und das Schiff ablegte, berichteten Simon und die Zwillinge abwechselnd. Von der Insel, der Flucht von dort und so weiter.

»Alan of Helmsby?«, unterbrach Becket erstaunt, als der Name fiel. »Du meine Güte. Illustre Freunde habt Ihr.«

»Ihr kennt ihn?«, fragte Wulfric.

»Nein. Aber natürlich habe ich von ihm gehört. Mauds schärfstes Schwert. Und er schickt Euch in die Normandie?«

»Nein«, erwiderte Simon und zögerte einen Moment. Dann traf er seine Entscheidung. »Wenn Ihr die Wahrheit wissen wollt, Master Becket: Wir wollen uns auf die Suche nach Henry Plantagenet machen und uns ihm anschließen. Auf unserer Wanderung durch England ist er uns praktisch in die Arme gelaufen.« Der Rest war schnell erzählt. »Mir ist ein wenig unheimlich bei dem, was ich tue«, gestand er zum Schluss, »denn mein Vater hat mich gelehrt, dass Stephen der rechtmäßige König ist und ich treu zu ihm stehen muss. Mein Vater ist tot, und es fühlt sich abscheulich an, gegen seine Wünsche zu verstoßen. Aber ich habe König Stephen gesehen …« Er brach ab. Er brachte es einfach nicht fertig, zu beschreiben, wie er den König vorgefunden hatte.

Aber das erwies sich als unnötig. Becket nickte. »Ja, ich weiß«, sagte er leise, mit einem Mal sehr ernst. »Ihr solltet Euch nicht gar zu sehr grämen, weil Ihr einen anderen Weg eingeschlagen habt als Euer Vater, de Clare. Was England braucht, haben weder König Stephen noch Kaiserin Maud. Das glaubt übrigens auch Erzbischof Theobald.«

Simon sah ihn unsicher an. »Und das ist der Grund für Eure Reise zum Herzog der Normandie?«, fragte er.

»Sagen wir es mal so: Ich glaube kaum, dass der Erzbischof seinem Amtskollegen in Winchester, König Stephens Bruder, von dieser kleinen Mission erzählt hat.«

Es wurde eine unerwartet angenehme Reise. Das Wetter blieb ihnen gewogen, die See war ruhig, und keiner der Passagiere wurde seekrank. Kapitän Arnod hielt Wort, wies ihnen einen geschützten Platz an Deck zu, und kurz vor Sonnenuntergang brachte einer der Matrosen ihnen Schalen mit lauwarmem Eintopf. Er bot keine besondere Gaumenfreude, aber zumindest enthielt er ordentlich Fisch und Mehlklößchen, und sie bekamen sogar einen Krug Ale dazu. Thomas Becket war ein höchst angenehmer Reisegefährte. Er vertrieb ihnen die Abendstunden mit urkomischen Geschichten über die Eigenarten der englischen und normannischen Bischöfe, aber er war kein Schwätzer, und er hörte so gern zu, wie er redete.

Als die St. Anne am nächsten Morgen in Dieppe einlief, bedauerten die drei Freunde, dass ihre Wege sich dort trennen sollten.

Wieder beäugte Becket die Laufplanke wie einen tückischen Gegner.

»Für einen sonst recht wackeren Kerl machst du ein ziemliches Gewese um die Planke«, bemerkte Godric unverblümt.

»Da hast du recht«, räumte Becket ein. »Als Knabe bin ich bei der Jagd einmal von einer Brücke in einen sehr kalten und sehr nassen Fluss gestürzt. Seither geh ich nicht gern übers Wasser.«

»Vielleicht solltest du doch Priester werden«, meinte Wulfric. »Es heißt ja, je heiliger man ist, umso leichter fällt es einem.«

Thomas Becket lachte vergnügt. »Ich glaube nicht, dass ich das Zeug zum Heiligen habe.«