Helmsby, Mai 1147
Henry fintierte einen Hieb von oben und führte den Stoß dann auf Alans Arm. Sein Gegner entging ihm mühelos mit einer Vierteldrehung, aber der Junge war schnell. Die französischen Ritter applaudierten und johlten.
Die Fechtenden hatten sich in einen stillen Winkel des Burghofes zurückgezogen, denn Alan wollte kein Spektakel geben. Aber die Zuschauer hatten sich dennoch nach und nach eingefunden, erst einzeln und zu zweit, dann scharenweise. Sie bildeten einen weiträumigen Ring um die Kontrahenten, ließen ihnen reichlich Platz und kommentierten jeden Schlagabtausch mit Beifall, Buhrufen oder Ratschlägen.
»Es wird Zeit, dass du den Bengel zurechtstutzt, Alan!«, brüllte der Steward.
Alan gab ihm recht. Aber es war leichter gesagt als getan. Henry war so schnell wie ein Falke und schlüpfrig wie ein Aal. Er griff wieder an. Alan parierte den Hieb und lenkte ihn schleifend nach unten ab, ehe er selbst seine Waffe hob, die linke hinter die rechte Hand ans Heft legte und einen verschränkten Stoß führte. Bei jedem Schritt schlugen ihm die zertrümmerten Überreste seines Schilds in den Rücken, denn genau wie Henry hatte er ihn sich über die Schulter geworfen, nachdem der Schild nichts mehr taugte, um ungehindert kämpfen zu können. Aber der Gurt hielt noch, und allmählich wurde Alan kreuzlahm. Zeit, zum Ende zu kommen, befand er.
Henrys nächsten Angriff parierte er nicht mit dem Schwert, sondern riss die eigene Klinge zur Seite und packte Henrys mit der behandschuhten Linken. Damit hatte der jüngere Kämpfer nicht gerechnet, und viel mehr als ein plötzlicher Ruck war nicht nötig, um ihn ins Stolpern zu bringen. Alan ließ Henrys Schwert los, glitt seitlich um ihn herum und trat ihn in die Nieren. Henry stieß einen unartikulierten Wutschrei aus und taumelte nach vorn, schlug aber nicht hin. Verdammt, was ist mit dir, Bengel, dachte Alan ungläubig, haben deine Füße Wurzeln im Boden geschlagen? Er nutzte Henrys momentanes Ringen um Gleichgewicht. Es gab ihm alle Zeit der Welt. Dieses Mal packte er sein eigenes Schwert an der Klinge, nahe der Spitze, ließ das Heft in einem eleganten Bogen abwärtsschwingen, und es erwischte den taumelnden Gegner von hinten zwischen den Beinen.
Im letzten Moment schwächte Alan den Schlag ab, aber Henry schrie auf, während er in die Knie brach und das Schwert ihm aus den Fingern glitt. Augenblicklich nahm er sich zusammen, und der schmerzvolle Laut endete wie abgeschnitten. Dann verharrte der Besiegte reglos, stützte die Hände auf die Oberschenkel und keuchte stoßweise.
Alan, der selber ziemlich außer Atem war, trat zu ihm und klopfte ihm auf die Schulter. »Das war gut.«
Henrys Antwort war ein Fauchen. Alan hatte noch nie gehört, wie es klang, wenn ein wütender Löwe fauchte, aber er nahm an, es war so ähnlich.
Er ließ dem Jungen Zeit, Niederlage und Schmerz zu überwinden, steckte sein Schwert in die Scheide und wandte sich an die Zuschauer. Mit einem kleinen Lächeln sagte er: »Das war’s. Kein Grund, hier länger eure Zeit zu verschwenden.«
Guillaume warf ihm ein ausgefranstes, nicht sonderlich sauberes Handtuch zu.
Alan wischte sich den Schweiß vom Gesicht und tupfte das Blut von einer kleinen, oberflächlichen Wunde am Unterarm. »Danke.«
»Du warst … unglaublich, Vetter«, bekundete der Steward mit stolzgeschwellter Brust.
Ich glaube, ich war schon besser, dachte Alan kritisch. Ich bin aus der Übung. Aber er nickte Guillaume zu und war dankbar zu sehen, dass Henrys Ritter den Anfang machten, den anderen mit gutem Beispiel vorangingen und sich verdrückten. Die übrigen Zuschauer folgten ihnen nach und nach.
Haimon war der Letzte, der ging.
Als sie endlich allein waren, trat Alan wieder zu Henry, der sich immer noch nicht erkennbar gerührt hatte, und hielt ihm das Handtuch hin.
Nach einem Moment nahm sein junger Gast es mit der Linken, ohne zu ihm aufzuschauen, fuhr sich ebenfalls übers Gesicht und seine Blessuren und hing sich das Tuch dann achtlos um den Hals.
»Was hab ich falsch gemacht?«, fragte er. Es klang erschüttert.
»Ich rede mit dir, wenn du aufstehst«, gab Alan schroff zurück. »Vorher nicht.«
Henry kam ein wenig schwankend auf die Füße und fuhr zu ihm herum. »Also?« Er biss immer noch die Zähne zusammen, und er war bleich. Zorn, Erschöpfung und Schmerz rangen in seinem Gesicht um die Oberhand, und Alan war nicht überrascht, als der Zorn siegte. »Dein letzter Streich war feige!«
Alan schüttelte langsam den Kopf. »Du hast zugelassen, dass ich hinter dich kam, und warst für diesen Angriff offen. Es war nicht feige, sondern folgerichtig, ihn zu führen. Du hast nichts falsch gemacht, Henry. Du hast einfach weniger Erfahrung als ich. Du denkst an dein Schwert lediglich als Klinge, als Hieb- und Stichwaffe. Aber damit beschränkst du deine Möglichkeiten, denn das ganze Schwert ist deine Waffe, auch das Heft. Das Geheimnis zu überleben besteht darin, niemals, niemals eine Chance ungenutzt zu lassen, die sich dir bietet.« Er verstummte abrupt. Der letzte Satz stammte nicht von ihm, ahnte er. Irgendwer hatte ihm das irgendwann eingeschärft. In einem anderen Leben, so kam es ihm vor …
»Wieso hast du dich so lange davor gedrückt, gegen mich anzutreten?«, verlangte Henry zu wissen. »Wenn du doch wusstest, dass ich dich nicht schlagen kann?«
»Ich wusste nichts dergleichen. Du bist ein sehr gefährlicher Gegner. Ich würde dir nur höchst ungern auf einem Schlachtfeld gegenüberstehen. Aber du bist noch jung. Deine Kräfte sind noch nicht voll entwickelt. Gegen Ende wurdest du müde und darum unachtsam. Es mangelt dir an Ausdauer.«
Henry kämpfte sich aus dem Haltegurt seines Schilds und warf die zersplitterten Überreste wütend ins Gras. »Du hast meine Frage nicht beantwortet. Warum hast du gezögert?«
Alan wischte versonnen mit der Linken über die Wunde, die immer noch blutete. Weil es ihn erschütterte, sich in eine perfekte Kriegsmaschine zu verwandeln? Nein, erkannte er, das war es nicht. »Ich glaube, ich bin einfach kein Freund von Übungskämpfen«, antwortete er schließlich. »Natürlich sind sie notwendig, damit man geschmeidig bleibt und die Fertigkeiten und Handgriffe vervollkommnet, aber irgendwie sind sie auch unnütz. Geradezu lächerlich. Wenn man ein Schwert in die Hand nimmt, dann, um seinen Gegner zu töten, Henry. Nimmt man es in der Absicht in die Hand, ihn nur ja nicht ernstlich zu verletzen, wird der Kampf zur Farce. Das war im Übrigen der zweite Grund, warum du unterlegen bist: Deine Sorge, mich am Kopf zu treffen, war so groß, dass du fast nur auf meine untere Blöße gegangen bist.«
»Und damit Chancen ungenutzt gelassen habe, die sich mir boten?« Wenigstens der Schatten des unbekümmerten Lächelns stellte sich ein.
Alan nickte. »Wäre der Kampf ernst gewesen und ich dein Feind, hättest du mich vielleicht getötet. Das werden wir nie wissen. Darum sage ich, Übungskämpfe sind unnütz. Man kennt sich selbst und seine Fähigkeiten nachher nie wirklich besser als vorher.«
Henry bückte sich nach seinem Schwert und steckte es ein. »Das nächste Mal setzen wir Helme auf«, verkündete er.
»Es wird kein nächstes Mal geben«, entgegnete Alan, während sie Seite an Seite Richtung Zugbrücke zurückschlenderten.
»Oh, komm schon, warum denn nicht?«
»Ich dachte, das hätte ich dir eben dargelegt.«
»Das war ein Haufen Kuhscheiße, Cousin.«
»Nun, wie dem auch sei. Ich stehe leider nicht mehr zu deiner Verfügung. Du hasst es, zu verlieren, und falls du wider alle Wahrscheinlichkeit König von England werden solltest, wäre es sicher unklug, wenn ich mir dein Missfallen zuzöge.«
Henry schnaubte belustigt. »Es stimmt. Bei den Augen Gottes, ich hasse es, zu verlieren. Aber wenn ich König von England werde, kann ich dir befehlen, gegen mich anzutreten, und du wirst es tun oder ins Exil gehen müssen.«
»Ich habe noch Ländereien in Lisieux …«
»Mein Vater hat die Normandie erobert, Alan«, rief Henry ihm in Erinnerung. »Sie wird mir also auch gehören. Das ganze anglo-normannische Reich, das unser fürchterlicher Urgroßvater errichtet hat, wird mir gehören. Du wirst also weit fliehen müssen, um meinem Zorn zu entrinnen.«
»Wenn mir gar nichts anderes übrig bleibt, kann ich immer noch in die Fußstapfen meines Großvaters treten und in den Heiligen Krieg ziehen.«
Henry lachte in sich hinein. »Dann geh doch mit König Louis, diesem hoffnungslosen Trottel, und seiner verruchten Gemahlin Aliénor. Ich schätze, wenn sie mit dir fertig wäre, kämst du bedingungslos nach England zurückgekrochen.«
Alan stellte zufrieden fest, dass der junge Mann seinen Groll über die öffentliche Niederlage rasch überwunden hatte. »Danke«, erwiderte er trocken. »Aber meine Gemahlin reicht mir.«
Es war ein herrlicher Frühsommertag, und ein tiefblauer Himmel wölbte sich über dem weiten Flachland von East Anglia. Alan war unbehelligt in seine Kammer zurückgelangt, stand am offenen Fenster und schaute auf die bestellten Felder und die blühenden Wiesen hinab, die seine Burg und das Dorf umgaben. Es war ein schönes, fruchtbares Land. Es hätte ihm leichterfallen sollen, es zu lieben, aber in dieser Hinsicht hatte er noch keinerlei Fortschritte gemacht.
Seit gut zwei Wochen waren er und seine Gefährten jetzt in Helmsby, und er hatte sich daran gewöhnt, die feinen Kleider zu tragen, gut zu essen und in einem himmlisch weichen Bett mit Federkissen zu schlafen. Und er hatte die Machtposition, in welcher er sich hier so unverhofft gefunden hatte, genutzt, um zwei Dinge zu tun: Er hatte Gunnild im Dorf eine neue, größere Kate bauen lassen, wo sie nun mit Oswald wohnte. Der Junge ging zur Arbeit in die Mühle, und die Mehrzahl der Menschen von Helmsby nahm seine Anwesenheit in ihrer Mitte bereitwillig hin, denn sie hatten Gorm gekannt und störten sich nicht an Oswalds Eigenarten. Oswald hatte Alan vor einigen Tagen gefragt, ob Helmsby das Paradies sei, und wenn ja, warum Gott und Jesus Christus dann nicht oben in der Burg wohnten. Zufrieden hatte Alan geschlossen, dass er das Richtige für den Jungen getan hatte. Aber Gunnild war alt und würde nicht ewig leben. Und nicht alle Dorfbewohner waren Oswald freundlich gesinnt. Alan nahm an, sie duldeten den Jungen zähneknirschend, weil sie sich vor seinem – Alans – Zorn fürchteten.
Seine zweite Entscheidung, die weitaus umstrittener war, hatte darin bestanden, King Edmund das Haus und in gewisser Weise auch das Amt des Dorfpfarrers zu übertragen. Vater Edwin, der langjährige Hirte von Helmsby, war im vergangenen Jahr gestorben. Bruder Elias, einer der drei Mönche aus Ely, war Priester und hatte das Amt darum versehen können. Doch Bruder Elias war ein normannischer Edelmann; er hatte weit mehr für Alans Tafel und Weinkeller übrig als für die Bauern von Helmsby, und er besaß auch nicht ihr Vertrauen. Ganz anders als King Edmund, den die Bauern zutiefst verehrten. Sie füllten die wundervolle Kirche, wenn er die Messe hielt, und glänzten durch Abwesenheit, wenn Bruder Elias es tat. So führten die beiden Gottesmänner einen stillen Stellungskrieg, der die Bauern und Alan amüsierte und alle anderen Burgbewohner erzürnte. Nicht nur Haimon hatte offen an Alans Verstand gezweifelt. Aber Alans höflichen Ratschlag, er könne ja nach Hause reiten, wenn ihm hier irgendetwas nicht gefalle, hatte Haimon leider nicht befolgt …
Luke wohnte mit King Edmund zusammen im Dorf. Er hatte begonnen, Bier nach dem Rezept der Mönche von St. Pancras zu brauen, und ganz Helmsby wartete voller Spannung auf die Reife der ersten Fässer. Hin und wieder half er auf den Feldern seines Nachbarn aus, der ein Neffe oder Enkel oder Ähnliches von Gunnild war und dessen Tochter den beiden Gefährten fürsorglich das Haus führte. Für den Moment schien das Arrangement praktikabel. Aber was passieren würde, wenn King Edmund zum ersten Mal über einen armen Sünder herfiel, der in seiner Hörweite fluchte, oder wenn die Dörfler erlebten, dass Luke wimmernd und heulend in einer Ecke hockte und von einer Schlange in seinem Bauch faselte, das wusste Alan beim besten Willen nicht.
Noch ratloser machte ihn die heikle Frage, was aus Regy werden sollte. Alan war nicht mehr bei ihm gewesen, seit er ihn am Tag vor Simons, Godrics und Wulfrics Aufbruch um Rat gebeten hatte. Und er war alles andere als überrascht, als Guillaume zu ihm gekommen war und gesagt hatte, dass die Wachen anfingen, sich über Regy zu beklagen, und murrten, wenn sie ihm das Essen bringen sollten. Dann zahl ihnen mehr Sold oder sag ihnen, sie sollen ihm die Kehle durchschneiden – mir ist es gleich, hatte Alan erwidert. Guillaume hatte Ersteres gewählt, aber höchst unwillig, und es hatte sie einer Lösung des Problems keinen Schritt näher gebracht.
Dennoch konnte man wohl sagen, Oswald, King Edmund, Luke und in gewisser Weise sogar Regy kamen in Helmsby zurecht.
Alan selbst tat sich schwerer. Er war rastlos. Seine Schlaflosigkeit hatte sich verschlimmert, und er fühlte sich auf seiner Burg eingesperrt. Unter den einfachen Menschen im Dorf kam er sich freier und weniger argwöhnisch beäugt vor, darum floh er immer häufiger dorthin. Das schmeichelte den Bauern, die sich hinter seinem Rücken – aber nicht ohne sein Wissen – zuraunten, der neue Alan sei zwar ein bisschen sonderbar, aber besser als der alte. Und es entzückte den Steward, der Alans häufige Ausflüge ins Dorf nutzte, um sich ihm ungebeten anzuschließen und ihn mit den Gegebenheiten der Pachtverhältnisse und den vielfältigen Problemen des Gutsbetriebs vertraut zu machen. Alan ließ Guillaume gewähren, denn ihm war alles recht, was ihn davor bewahrte, sich mit sich selbst, seiner verlorenen Vergangenheit, seiner Großmutter oder – schlimmster aller Schrecken – seiner Frau befassen zu müssen.
Abends trank er mit Henry und dessen Rittern. Er fand nach wie vor großen Gefallen an seinem jungen Cousin und genoss dessen anspruchslose Gesellschaft, aber er tat es vor allem, um eine Entschuldigung zu haben, in der Halle zu bleiben, statt Susanna in ihrer Schlafkammer zu besuchen. Die Scham darüber versuchte er Abend für Abend im Wein zu ertränken, was er jeden Morgen bitter bereute. Er stand immer später auf, um das Frühstück zu versäumen und seinen Kater zu pflegen. Er ging nicht mehr zur Beichte und nur unregelmäßig zur Messe. Er wusste, so konnte es nicht weitergehen. Er war auf dem besten Wege zu verlottern. Ein Trunkenbold zu werden. Doch was er nicht wusste, war, was er stattdessen tun sollte.
Er kehrte dem Fenster den Rücken. Sein Arm blutete hartnäckig weiter. Alan ließ den hochklassigen Kampf mit einem Lächeln Revue passieren, schenkte Wasser aus einer bereitstehenden Kanne auf der Truhe in die Waschschüssel und wusch das Blut ab. Dann verband er die Wunde mit dem feuchten Tuch, damit er seinen feinen Bliaut nicht vollblutete und sich Emmas Zorn zuzog.
Sein Blick fiel auf die Laute. Er hatte sie seit mindestens einer Woche nicht zur Hand genommen, dabei hatte es ihm anfangs solche Freude bereitet, darauf zu spielen. Unschlüssig betrachtete er das Instrument. Als er es ergriff, tat er es vor allem, um sich zu beweisen, dass er es wagte.
Er setzte sich auf den Schemel am Fenster, beugte den Kopf über den Korpus und stimmte die Saiten. Dann begann er zu spielen, ohne sich Zeit zum Nachdenken zu lassen, überließ die Entscheidung seinen Fingern. Eine Ballade über einen Kreuzfahrer und seinen Schmerz über die Trennung von seiner Liebsten kam dabei heraus. Alan spielte mit konzentrierter Miene und summte die Melodie selbstvergessen mit. Es waren komplizierte Griffe und Läufe, und seine Finger hatten die nötige Geschmeidigkeit noch nicht wieder erlernt. Aber er war zufrieden. Als Nächstes wagte er etwas Schwierigeres, ein ziemlich burleskes Lied über einen alten Edelmann mit einer blutjungen Braut und einem lüsternen Knecht. Die beschwingte Melodie erforderte größere Schnelligkeit, und nach acht oder neun Takten erlitt er Schiffbruch. Seine Finger stockten, und er wusste nicht weiter. Kopfschüttelnd begann er noch einmal von vorn, doch er strauchelte an der gleichen Stelle. Alan schnalzte ungeduldig, begann erneut. Er spielte schneller in der unsinnigen Hoffnung, seine Finger würden einfach über die Gefahrenstelle hinwegfliegen, aber es nützte nichts. Die ersten neun Takte spielte er mit traumwandlerischer Sicherheit, und danach war Schluss, der weitere Verlauf des Liedes war wie aus seinem Gedächtnis getilgt. Alan fluchte. Als er zum vierten Mal ansetzte, wusste er schon, dass er scheitern würde. Und genau so kam es auch.
Er stand auf und ließ das Instrument sinken. Einen Moment stand er reglos neben dem Tisch, die Finger der Rechten locker um den Hals der Laute geschlossen. Dann schwang er das Instrument in einem weiten, beinah gemächlichen Bogen und zertrümmerte die Laute auf der Tischkante.
Die Saiten gaben wie zum Protest einen lauten Missklang von sich, und das Splittern von Holz war ein satter Laut der Zerstörung, der ihm für einen Moment Erleichterung verschaffte.
Vergleichsweise gedämpft klang der Schrei von der Tür.
Alan wandte ohne Eile den Kopf.
Seine Großmutter hatte die Hände vor Mund und Nase gelegt. Ihre Augen waren weit aufgerissen. Sie sah genauso aus wie in dem Moment, als er heimgekommen war und sie ihn erkannt hatte. »Diese Laute hat meinem Vater gehört«, hörte er sie sagen, die Stimme von ihren Händen gedämpft. »Wulfnoth Godwinson hatte sie ihm geschenkt.«
Alan sah nicht hinab, doch spürte er das zerbrochene Instrument in seiner Rechten, fühlte den Korpus an den Saiten pendeln, die jetzt das Einzige waren, was Schallkörper und Hals verband. »Vielleicht war es unklug, mir etwas anzuvertrauen, dessen Wert in seiner Geschichte liegt«, sagte er leise. »Denn ich fürchte, ich beginne alle Dinge und alle Menschen zu hassen, die eine besitzen.«
Lady Matilda ließ die Hände sinken, trat ein und schloss die Tür. Er wusste, sie war erschüttert über den Verlust der Laute, aber wie immer beherrschte sie sich meisterlich. »Ich denke, es wird Zeit, dass wir uns auf die Suche nach der deinen machen, mein Junge.«
»Das ist zwecklos. Mir zu sagen, wer ich bin, wer meine Ahnen sind und was ihre Taten waren, bringt mir mein Selbst nicht zurück.«
»Du hast es noch gar nicht wirklich versucht, scheint mir, und ich habe nichts unternommen, um dir zu helfen. Ich dachte, wenn du deine gewohnte Umgebung und vertraute Menschen um dich hast, kommt irgendwann alles von allein zurück. Darum habe ich zugelassen, dass Guillaume dir ständig nachstellt. Dass Haimon hierbleibt. Und Susanna, natürlich. Sie schien mit die Wichtigste zu sein.«
»Obwohl du sie so leidenschaftlich verabscheust?«
»Sagt wer?«, fragte Matilda entrüstet.
»Dein Gesicht, wenn du sie anschaust.«
»Wenn es so ist, dann bin ich im Unrecht. Sie ist – auf ihre Weise – eine gute Frau. Und du warst geradezu besessen von ihr.«
Er presste die Lippen zusammen. Dann atmete er tief durch und legte die Laute behutsam auf dem Tisch ab. »Bei allem Respekt, Großmutter, aber ich bin es satt, mir anzuhören, wie ich früher war. Ihr alle tut so, als sei der Mann, der ich heute bin, eine Art Irrtum. Ein peinlicher Irrtum, würden Haimon und Susanna vermutlich sagen. Und als müsse ich mir nur mehr Mühe geben, um den Irrtum zu korrigieren. Aber es nützt nichts. Verstehst du? Ich gebe mir Mühe. Ich tue nichts anderes, als zu versuchen, mich zu erinnern, Tag und Nacht. Vor allem nachts. Aber es nützt nichts!«
Er wandte ihr den Rücken zu, stierte aus dem Fenster, rang um Fassung und wartete darauf, sie sagen zu hören, dass er vielleicht mehr Erfolg mit seinen nächtlichen Bemühungen hätte, wenn er sich nicht jeden Abend volllaufen ließe.
Was sie stattdessen sagte, traf ihn unvorbereitet: »Du warst noch nicht am Grab deiner Mutter.«
»Woher weißt du das?«
Sie kam näher und setzte sich auf einen der Schemel. »Dein King Edmund hat es mir erzählt. Er wohnt ja mehr oder minder in der Kirche, und ihm entgeht nichts, was dort oder auf dem Friedhof vor sich geht.«
»Er ist nicht mein King Edmund.« Und ich werde ihm die Zähne einschlagen, dachte er wütend. Was fällt ihm ein, hinter meinem Rücken mit ihr zu reden?
»Aber es stimmt?«
»Ja.« Alan wandte sich vom Fenster ab, lehnte sich an die Wand daneben und verschränkte die Arme vor der Brust. »Es stimmt.«
»Warum nicht?«
Er antwortete nicht sofort. Stattdessen studierte er seine Großmutter und versuchte, den Ausdruck der strahlend blauen Augen in diesem alten Gesicht zu deuten. Das war nicht einfach. Matilda achtete immer sorgsam darauf, eine gewisse Distanz zu ihm zu wahren. Zu diesem Fremden, der er geworden war. Darum war ihr Blick nie unmaskiert. Aber er zweifelte nicht an ihrem Wohlwollen. Dies war immerhin die Frau, die Mutterstelle an ihm vertreten hatte. Dass er es nicht mehr wusste, machte es nicht weniger wahr. Das Mindeste, was sie verdient hatte, war Aufrichtigkeit. »Weil ich mich vor ihr schäme«, antwortete er. Es kostete ihn Mühe, das einzugestehen. »So wie vor dir, nur noch schlimmer. Meine Mutter ist gestorben, um mir das Leben zu schenken, und ich war so unachtsam, den entscheidenden Teil dieses Lebens zu verlieren. Darum wage ich mich nicht hin.«
Matilda schüttelte mit einem kleinen Lächeln den Kopf. »Vielleicht wirkt sie ein Wunder, wenn du hingehst, und gibt dir dein Gedächtnis zurück. Das sähe ihr ähnlich.«
Der Frau, die seine Mutter in seiner Vorstellung war, sah es nicht ähnlich. Wenn er an sie dachte, sah er ein blutjunges Mädchen, allein, verängstigt und hochschwanger an einem einsamen, dunklen Ort. Eine Gestrauchelte, die einen hohen Preis für ihre Sünden zahlen musste. Ein Blatt im Wind. Keine machtvolle überirdische Instanz. »Ich fürchte, ich kann an ein solches Wunder nicht glauben, Großmutter.«
»Eigenartig. Wie würdest du das nennen, was dich auf deiner Irrfahrt durch dieses weite Land ausgerechnet nach Helmsby geführt hat?«
Er war nicht sicher. Aber er hielt es zumindest nicht für völlig ausgeschlossen, dass King Edmund und die göttliche Führung, die er für sich in Anspruch nahm, etwas damit zu tun hatten. »Was immer es war, derzeit bin ich mir keineswegs sicher, ob es so ein großer Glückfall war. Weder für Helmsby noch für mich.«
»Nein, ich weiß«, gab sie zurück. »Aber es ist, wie es ist. Und es wird Zeit, dass du damit aufhörst, dich zu bemitleiden, und dein Leben endlich in die Hand nimmst. Es gibt wichtige Dinge zu tun.«
»Tu du sie«, entgegnete er kühl. »Helmsby hat drei Jahre gut auf mich verzichten können, es wird wohl noch ein Weilchen länger gehen.«
»Es hat nicht gut auf dich verzichten können«, widersprach sie ärgerlich. »Und wenn du dir die Mühe machen würdest, einmal genau hinzuschauen, würdest du das sehen. Du machst den Bauern weis, du seiest ihr Freund und zögest ihre Gesellschaft vor, aber du bist noch keinmal nach Metcombe geritten. Dort leben fast doppelt so viele Menschen wie in Helmsby. Sie alle sind deine Pächter und Hörigen, und sie hatten einen furchtbaren Winter. Sie brauchen deine Hilfe. Noch schlimmer steht es in Blackmore. Seit jeher war es der Zankapfel zwischen Helmsby und Fenwick. Haimon hat deine Abwesenheit ausgenutzt, um es sich unter den Nagel zu reißen. Er drangsaliert die Bauern dort, weil sie dir gegenüber loyal sind und ihm nur unwillig Pacht zahlen. Du musst ihm Einhalt gebieten, Alan! Wenn du ihn in Blackmore gewähren lässt, wird er die Hand nach Helmsby ausstrecken, denn das ist es, was er eigentlich will.«
Er hob abwehrend die Hände. »Ja, ich weiß. Das Problem ist nur dies, Großmutter: Seine Mutter war die ältere Schwester meiner Mutter. Er ist ein ehelicher Sohn, ich bin ein Bastard. Haimon mag kein besonders netter Kerl sein, aber er hat nun einmal recht. Helmsby sollte ihm gehören, nicht mir. Doch du hast deinen König umgarnt und dafür gesorgt, dass ich es bekam, weil du meine Mutter mehr geliebt hast als Haimons Mutter. Völlig willkürlich. Und das war unrecht.«
Matilda erhob sich ohne Hast. »Ich denke, für heute habe ich genug gehört.« Da war es wieder: Stahl auf Eis. Alan ahnte, dass sie noch nicht fertig war, und wappnete sich. »Ich bin keine geduldige Frau, Alan, aber ich hatte Geduld mit dir. Ich könnte dir den Hals umdrehen wegen der Laute meines Vaters, aber ich habe es hingenommen. Ich habe dir Zeit gelassen, dich einzugewöhnen, Helmsby neu kennenzulernen und wieder in deine Aufgaben hineinzuwachsen. Aber du tust nichts, um es auch nur zu versuchen. Selbst das habe ich hingenommen. Doch die Überheblichkeit, mit der du mir unterstellst, ein Unrecht begangen zu haben, wo du in Wirklichkeit nur zu bequem und zu feige bist, dich Haimon, deiner Vergangenheit und deiner Verantwortung zu stellen, bin ich nicht bereit hinzunehmen.«
Alan spürte sein Gesicht kalt werden vor Zorn, aber er gestattete sich nicht, ihren Köder zu schlucken. Er wusste, sie hatte ihn aus Berechnung einen Feigling genannt. Ein Wort wie ein Nadelstich. Damit er aufschreckte und irgendetwas tat, um ihr das Gegenteil zu beweisen. Und zwar das tat, was sie wollte …
»Und das bedeutet?«, erkundigte er sich mit eisiger Höflichkeit.
Vorsichtig, geradezu liebevoll hob sie die Bruchstücke der Laute auf und trug sie hinaus, ohne ihren Enkel auch nur noch eines Blickes zu würdigen.
»Verstehe«, sagte Alan zu der geschlossenen Tür. Dann wandte er den Kopf und sah wieder aus dem Fenster. »Verdammt, Simon de Clare. Wo bleibst du nur?«
In der Nacht schlug das Wetter um, und zwei Tage lang regnete es ohne Unterlass. Ein nasskalter Wind fegte über die Fens und die Wälder von East Anglia; es donnerte, hagelte und schneite sogar, sodass die Menschen sich in den Häusern verkrochen und der sonnige Frühsommer, den sie genossen hatten, zu einer unwirklichen Erinnerung verblasste. Die Bauern sorgten sich um die Saat auf den Feldern. Haimon, Susanna, Henry und seine Ritter waren enttäuscht, weil sie ihre geplante Falkenjagd hatten absagen müssen.
Alan war es recht. Er hatte seine Falknerei besucht und festgestellt, dass er zwei hervorragende Beizvögel besaß, aber der Gedanke an die Jagd hatte ihn beunruhigt. Er wusste nicht, wieso. Er nahm an, früher hatte er keine Gelegenheit zu jagen ausgelassen, denn es war nun einmal der liebste Zeitvertreib aller Edelleute – Bereicherung ihrer Tafel ebenso wie Ausdruck ihrer privilegierten Stellung –, aber der Gedanke an das rituelle Blutvergießen hatte ihn abgestoßen.
Er nutzte das scheußliche Wetter, um sich endlich dem Buch zu widmen, das seine Großmutter ihm am Tag nach seiner Ankunft hier gegeben hatte. Lies es, und du wirst verstehen, wer du bist …
Also hatte er beschlossen, es zu versuchen. Er wusste, es würde keine Erleuchtung auslösen, aber er war dankbar für alles, was ihn von seinen endlos kreisenden Gedanken ablenkte. Er schlug es willkürlich auf und las: … sich mit dem Papst geeinigt hatte, kehrte König Henry im Sommer 1106 in die Normandie zurück. Er belagerte die Burg von Tinchebray, und als sein Bruder, Herzog Robert von der Normandie, mit seiner Armee dorthin kam, um die Belagerung aufzuheben, kam es zur Schlacht. Dort fiel Ælfric of Helmsby im Kampf für seinen König, als Herzog Robert bereits gefangen und die Schlacht fast vorüber war. So ging der Letzte der großen angelsächsischen Krieger dahin. Sein Bruder Wulfnoth brachte den Sarg heim, ritt weiter nach Ely und wurde Mönch, wie er es schon viel früher hätte tun sollen, denn das war seine Bestimmung …
Es war ein seltsames Buch, stellte Alan fest. Eine Geschichte der Ereignisse in England vor und nach der Eroberung, wie der Titel versprach, aber manchmal auch eine Geschichte derer von Helmsby, und der Verfasser hatte mit seiner persönlichen Meinung nicht gegeizt. So war beispielsweise zu erfahren, dass er einen gewissen einarmigen Lucien de Ponthieu nicht sonderlich gemocht hatte, doch an der Stelle, wo er begann, die Missetaten dieses Lucien aufzuzählen, hatte jemand die Tinte abgeschmirgelt, wahrscheinlich mit einem Bimsstein. Haimon, vermutete Alan, denn dieser einarmige Lucien musste dessen Urgroßvater oder so etwas Ähnliches gewesen sein. Alan fuhr mit dem Finger über das Pergament und spürte, wie aufgeraut es war.
Nun, ihm war es gleich; all diese Gestalten aus der Vergangenheit interessierten ihn nicht besonders, selbst wenn sie seine Ahnen sein mochten.
Er blätterte weiter, bis er zum Jahr seiner Geburt kam. Die Handschrift hatte sich geändert. Einige Seiten zurück fand er den Eintrag, dass der Chronist, Leif Guthrumson, gestorben sei und sein Sohn Agmund die Geschichte nun fortführen wolle.
Und mit dem Untergang kam großes Leid über den König und das ganze Land, denn nicht nur sein Erbe und sein Bastard Richard und seine Tochter ertranken, sondern auch die ganzen Würdenträger des prinzlichen Haushalts und seine Ritter, sodass es keine edle Familie im Lande gab, die keinen Verlust zu beklagen hatte. Und das Meer gab seine Toten nicht preis. Keiner der Verlorenen konnte beerdigt werden.
In derselben Nacht gebar Adelisa of Helmsby einen Bastard und starb. Ihre Schwester Eloise, deren Gemahl mit dem White Ship untergegangen war, kam mit ihrem Sohn Haimon nach Helmsby, da dieser nun der Erbe war, und brachte den Bastard heimlich zu armen Torfstechern in den Fens. Doch da kam der König im Zorn über sie, denn das Waisenknäblein war sein Enkel, und er ließ sie in eine seiner Festungen sperren, bis sie das Versteck des Bastards preisgäbe. Drei Monate hielt sie aus, denn sie war ein halsstarriges Weib, und sie hoffte, der Bastard werde sterben. Doch Gott strafte sie für ihre Auflehnung gegen den König und holte zwei ihrer Kinder zu sich, während sie in Festungshaft war. Da zerbrach ihr Widerstand. Der König gab Helmsby seinem kleinen Bastardenkel zu Lehen und verheiratete Eloise mit einem Bretonen, den nicht einmal sie verdient hatte …
»Jesus«, stieß Alan angewidert hervor. »Die pikanten Details hast du mir verschwiegen, Großmutter.«
Vielleicht lag es daran, dass Alan of Helmsby ein Fremder für ihn war, jedenfalls bedauerte er seine unglückliche Tante. Langsam bekam er eine Ahnung davon, welches Ausmaß diese Schiffskatastrophe für die Betroffenen gehabt haben musste. Sowohl für seine Großmutter als auch für den König und diese Eloise war in jener Nacht die ganze Welt zerbrochen. Söhne, Töchter, Ehemänner, Geschwister – tot, einfach so, verschlungen von der See. Wo doch gerade der Krieg vorüber war und alle Pläne für eine bessere Zukunft schmiedeten. Und wie unbarmherzig diese Menschen einander für ihren Schmerz hatten büßen lassen. Es war wohl kein Wunder, dass sie gnadenlos gewesen waren. Gewiss, es war nicht besonders nett von seiner Tante gewesen, ihn ausgerechnet zu armen Torfstechern zu bringen, wo seine Überlebenschancen gering gewesen waren. Aber sie hatte teuer bezahlt. Zwei Kinder verloren und Helmsby obendrein und einen Wüterich zum Gemahl bekommen. Und seine Großmutter – ihre Mutter, Herrgott noch mal – hatte offenbar keinen Finger gerührt, um ihr zu helfen.
Und Haimon? Alan wusste, sein Cousin war keine zwei Jahre älter als er. Noch nicht aus den Windeln, hatte Haimon schon für die Sünden seiner Mutter büßen müssen, seine Geschwister und die Gunst des Königs verloren und einen vermutlich fürchterlichen Stiefvater bekommen.
Obwohl das Bild, welches allmählich entstand, immer noch große weiße Flecken aufwies, spürte Alan doch, dass diese längst vergangenen Ereignisse ihn und alle anderen genau hierhin geführt hatten, wo sie heute standen. Es war, als sinke das White Ship immer noch.
Langsam klappte er das schwere Buch zu. Er fühlte sich bedrückt und gleichzeitig seltsam matt. So viel Elend. So viel Schmerz. Und er war unfähig, die Wunden zu heilen, die immer noch klafften, weil er sich nicht erinnern konnte. Er wusste nicht einmal, ob Haimons Mutter, die unglückliche Eloise, noch lebte.
In der vagen Absicht, seinen Cousin ausfindig zu machen und ihn zu fragen, stand er auf und verließ sein Gemach. Auf dem Flur zog es fürchterlich; die Fackeln fauchten und rußten, und sein Schatten an der Wand war mal der eines Gnoms, dann der eines buckligen Riesen. Alan stieg die Treppe hinab und schaute sich in der Halle um. Die Frauen saßen beieinander, putzten Gemüse oder spannen, ein paar dienstfreie Wachen hockten über einem späten Frühstück aus Brot, Räucherhering und Bier, und zwei von Henrys Rittern maßen sich im Armdrücken.
Alan hielt bei ihnen an. »Wisst ihr zufällig, wo Haimon steckt?«
»Er begleitet Eure Großmutter in die Kirche, Monseigneur«, antwortete einer höflich. Sie waren immer ausnehmend höflich zu Alan, was ihn argwöhnen ließ, dass sie ihn in Wahrheit belächelten.
»Danke.«
Er verließ die Halle, obwohl er nicht die Absicht hatte, Haimon und Lady Matilda zu folgen. Es hatte unbestreitbar seine Vorzüge, dass seine Großmutter derzeit kein Wort mit ihm sprach, aber das machte es ziemlich unsinnig, ihre Gesellschaft zu suchen. Unschlüssig verließ er das Gebäude und stieg die steinerne Treppe hinab. Der Regen hatte ein wenig nachgelassen. Ein ungemütlicher Wind fegte jedoch immer noch über den Burghof, und es war viel zu kalt für Mai. Alan fand die frische Luft indes wohltuend. Er nickte der Torwache zu, schlenderte den überdachten Gang zum Burghof hinab und weiter Richtung Pferdestall. Er hatte keine Ahnung, warum er nach rechts abbog und die Scheune betrat. Er hatte dort nichts verloren, kein Interesse daran, zu überprüfen, ob das frisch gedeckte Dach dicht oder genug Platz fürs neue Heu geschaffen worden war. Es war eben einfach die Scheune, zu der seine Füße ihn trugen. Doch als er eintrat, bereute er bitter, dass er nicht vorbeigegangen war.
Seine Frau lag im Heu wie die fleischgewordene lasterhafte Schäferstochter, von der so viele Lieder schwärmten: die wundervolle weißblonde Haarpracht aufgelöst, das Kleid aufgeschnürt, die Brüste entblößt, die Röcke gerafft. Und zwischen ihren angewinkelten Knien lag Henry Plantagenet und … rammelte.
Sie hatten es nicht sehr weit ins Innere der Scheune geschafft. Vermutlich war die Leiter zum Heuboden ihr Ziel gewesen, aber ihre Lust hatte sie übermannt, ehe sie sie erreichten. Was soll’s, hatte der unbekümmerte Henry sich vermutlich gedacht. Bei diesem Sauwetter läuft kein Mensch im Hof herum.
Aber er hatte sich getäuscht. Alan trat durchs Tor, lehnte sich an die Bretterwand und schaute ihnen zu. Susanna und Henry waren zu sehr miteinander beschäftigt, um ihn zu bemerken. Seine bildschöne Frau hatte die Augen geschlossen, den Kopf zurückgeworfen und wölbte sich ihrem emsigen jugendlichen Liebhaber entgegen. Henry stieß einen kehligen Laut der Zufriedenheit aus. Seine Hände verschwanden in ihren Röcken, vielleicht um ihr vermutlich ebenfalls hinreißendes Gesäß zu umklammern, und er wurde schneller. Susanna schlang die Arme um seinen Hals, öffnete die Lider, sah ihrem Gemahl direkt in die Augen und schrie entsetzt auf.
Henry begriff nicht sogleich, dass es ein Problem gab. Gewiss hielt er ihren markerschütternden Schrei für einen Ausdruck ihrer Lust – genug Mühe gab er sich jedenfalls. Als Susanna sich versteifte und die Handballen gegen seine Schultern stemmte, um ihn zum Einhalten zu bewegen, keuchte er: »Moment noch, Herzchen …«
In ihrer Verzweiflung packte Susanna ihn beim Schopf und drehte seinen Kopf zum Tor.
Auch Henrys Augen weiteten sich voller Schrecken, aber gleichzeitig zuckte sein Mund. Es gelang ihm nicht ganz, den Laut der Wonne zu unterdrücken, und er kniff einen Moment die Lider zu.
Alan lächelte ihn an. »Mission erfüllt?«
Die beiden Ertappten richteten sich auf, wandten ihm den Rücken zu und brachten ihre Kleider in Ordnung. Seite an Seite knieten sie da im Heu, die Köpfe gesenkt, und von hinten sahen sie aus wie Büßer in der Kirche.
Dann stand Henry auf, wandte sich um und machte einen Schritt auf ihn zu. »Alan … Es tut mir leid.«
Und das ist die reine Wahrheit, erkannte Alan. Henrys Augen waren so weit aufgerissen, dass rund um die Iris das Weiße sichtbar war, aber es war mehr Kummer als Schrecken, der darin zu lesen stand. Plötzlich konnte man sehen, dass der Junge erst vierzehn Jahre alt war.
»Was genau?«, erkundigte sich Alan und dachte: Ich könnte dich töten. Du bist der außergewöhnlichste Mensch, den ich kenne, du bist mein Cousin, und du bist mir teuer, aber ich könnte dich töten. Weil du dir genommen hast, was mir gehört. Ich lege zwar keinen großen Wert darauf, aber trotzdem würde ich dich gern töten. Er schauderte bei der Erkenntnis, wie niedrig seine Hemmschwelle war. »Was genau, Henry? Dass du’s getan hast? Oder dass ich euch erwischt habe?«
Henry schüttelte den Kopf und wagte sich noch zwei Schritte näher. »Dass es passiert ist.«
»Nun, ich nehme an, du wolltest dich vergewissern, dass dein bestes Stück noch tauglich ist nach dem Hieb in die Glocken. Du hattest recht. Du bist ein schlechter Verlierer, weiß Gott.«
Der Junge hob flehentlich die Hände. »Alan, du musst mir glauben …«
»Nein«, unterbrach Alan und schüttelte langsam den Kopf. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich dir je wieder etwas glauben werde. Und jetzt sei so gut und verschwinde.«
Henry ließ den Kopf hängen, nickte unglücklich und ging hinaus. Ohne Susanna auch nur noch eines Blickes zu würdigen, bemerkte Alan.
Sie hatte unterdessen die Hände vors Gesicht geschlagen, und ihre Schultern zuckten.
»Tränen, Teuerste?« Alan ging auf sie zu, langsam, weil ihm davor graute, ihr ins Gesicht zu sehen. Er stellte sich vor sie und schaute auf sie hinab. »Das kannst du dir wirklich sparen.«
Sie fuhr sich mit dem Ärmel über die Augen und erhob sich. Das machte sie sehr graziös, den Kopf leicht zur Seite geneigt, den Rock mit einer Hand zusammengerafft. Als sie ihn ansah, hatte sie die Fassung wiedergefunden. Ihr Blick war voller Trotz. »Du bist nicht unschuldig, Alan.«
»Wirklich nicht? Weil ich deinem Bett zwei Wochen lang ferngeblieben bin, musstest du es mit dem erstbesten Kerl treiben, der sich fand? Falls er denn der einzige war.«
Sie fuhr zusammen, und einen Moment lang glaubte er, sie werde ihn ohrfeigen. Aber dann kam sie offenbar zu dem Schluss, dass sie sich diese Art von Entrüstung im Augenblick schwerlich leisten konnte. »Er war der Einzige. Und dies das einzige Mal«, stellte sie eisig klar.
»Und nun soll ich erleichtert sein? War zwei Wochen wirklich alles an Wartezeit, was du für mich aufbringen konntest?«
»Ich habe drei Jahre auf dich gewartet. Und da du bei der Wiedererlangung deines Gedächtnisses ja keine Fortschritte machst, will ich dir gern auf die Sprünge helfen: Wir hatten uns nicht gerade im Frieden getrennt, denn am Abend vor deinem Aufbruch habe ich dich mit der Schwester des Reeve im Pferdestall erwischt. Es war genau wie eben.« Sie wies auf den zerwühlten Heuhaufen. »Nur umgekehrt.«
Alan biss die Zähne zusammen. Er fürchtete, dass sie die Wahrheit sagte, denn es passte so hervorragend zu dem Bild, das er sich von Alan of Helmsby gemacht hatte. Doch er gedachte nicht, sich in die Defensive drängen zu lassen. »Seltsam. Hast du mir nicht neulich erzählt, wie glücklich wir miteinander waren?«
Sie schnaubte. »Welchen Mann hätte das je gehindert?«
»Gerade wurde bewiesen, dass Männer kein Monopol auf Untreue haben.«
»Ja, ich war dir untreu. Und es ist schändlich und ehrlos. Aber du bist nicht nur meinem Bett ferngeblieben. Du hast nicht einmal mit mir geredet! Du hast mich wie Luft behandelt. Ich war so verzweifelt. Und Henry hat …«
»Ich glaube nicht, dass ich das hören möchte. Es stimmt, ich habe dich gemieden. Womöglich lag es daran, dass du mich eine Monstrosität genannt hast, das wollen wir doch nicht vergessen, nicht wahr? Es hat mir … nicht gerade Mut gemacht.«
Sie betrachtete ihn und schüttelte mit einem mitleidigen Lächeln den Kopf. »Hör dich doch nur an. Aus Alan of Helmsby ist eine Maus geworden.«
Bleierne Resignation überkam ihn. Es war, als sprächen sie verschiedene Sprachen. Ohne ein weiteres Wort wandte er sich ab und ging zum Tor.
»Sie hat übrigens einen Bastard von dir, die Schwester des Reeve. Haimon hat dem Schmied von Metcombe Geld bezahlt, damit der sie heiratet, aber reite nur hin und schau dir dein Töchterchen an. Es wird dir gefallen, es ist genauso schwachsinnig wie deine Freunde.«
Die Neuigkeiten erschütterten ihn, aber mehr noch ihre Niedertracht und die Erkenntnis, was genau es war, das Susanna hier beabsichtigte. Sie wollte ihn provozieren. Damit er über sie herfiel, sein Besitzrecht einforderte, irgendetwas in der Art. Damit er sich so verhielt, wie ein betrogener Ehemann sich ihrer Vorstellung nach verhalten sollte, auf dass er endlich wieder der Alan of Helmsby wurde, den sie wollte, den sie kannte, den sie begreifen konnte.
Am Tor blieb er noch einmal stehen, aber er wandte sich nicht um. »Solltest du einen Bastard von Henry Plantagenet bekommen, richte Haimon aus, er möge sich auf die Suche nach einem geeigneten Schmied für dich machen. Leb wohl, Susanna.«
Er ging zum Pferdestall, sattelte Conan und verschwand aus Helmsby, ohne auch nur einen Blick zurückzuwerfen.