Helmsby, Juni 1147

Guillaume FitzNigel war wie die meisten Männer des niederen Landadels gemischter Abstammung, aber so normannisch sein Name auch klang, war er doch mit Leib und Seele Engländer. Simon hatte ihn auf Anhieb gemocht, und erst mit einigen Tagen Verspätung ging ihm auf, woran das lag: Guillaume erinnerte ihn an Wilbert. Unter Gewissensbissen erkannte der junge Normanne, dass er seit Wochen kaum an seinen armen ermordeten Steward gedacht hatte, der doch aus Treue zu ihm solche Qualen gelitten hatte. Auch der Schmerz über Edivias Verrat, der ihn anfangs so niedergedrückt hatte, war nur noch ein schwacher Nachhall, genau wie sein Heimweh nach Woodknoll.

»Helmsby ist ein so wunderbarer Ort, und wir haben es hier so gut angetroffen, dass ich anfange, mein gestohlenes Zuhause zu vergessen«, gestand er Guillaume. »Das ist nicht gut.«

»Nein, wahrscheinlich nicht«, stimmte der Steward zu. »Aber es würde dir auch nichts nützen, dich Nacht um Nacht in den Schlaf zu heulen. Es ist vernünftig, die Dinge hinzunehmen, die man nicht ändern kann. Und irgendwann kommt Alan nach Hause, und dann wird er dir helfen, dein Woodknoll zurückzubekommen. Du wirst sehen.«

Sie ritten Seite an Seite zwischen den Feldern entlang, wo Weizen, Roggen und Gerste in üppigem Grün leuchteten. Das Korn sorgte jetzt bis zur Ernte für sich selbst, und das war gut so, denn die Bauern waren mit dem Heu und der Schur mehr als gut beschäftigt.

»Du klingst, als wärst du dir sicher, dass er zurückkommt.«

Guillaume nickte. »Wenn er sich erinnert, kommt er zurück. Er liebt Helmsby. Und war völlig hingerissen von seiner hübschen Burg.«

»Ja.« Simon seufzte neiderfüllt. »Das wäre ich auch. Wohin reiten wir?«

»Nach Metcombe. Noch ein Stück durch den Wald, dann sind wir da.«

Simon richtete den Blick auf den Widerrist seines Pferdes, als der Pfad in den Schatten der Bäume eintauchte.

Das entging Guillaume nicht. »Was ist los, mein Junge? Angst vor Waldgeistern?«

Simon lachte in sich hinein. »Die Waldgeister in East Anglia können nicht halb so durchtrieben sein wie unsere in Lincolnshire. Nein. Ich habe die Fallsucht, Guillaume, und das Glitzern der Sonne zwischen den Blättern ist gefährlich für mich.«

»Ah. Was muss ich tun, wenn du mir vom Gaul fällst und anfängst zu zucken?« Es klang eher unbehaglich als gehässig.

»Warte ein Weilchen. Es vergeht. Und es ist bei Weitem nicht so schlimm, wie es aussieht.«

»Du trägst es mit Fassung, merke ich.«

»Wie du sagtest: Es nützt nichts, sich Nacht um Nacht in den Schlaf zu heulen. Früher hat es mich sehr verbittert«, räumte er ein. »Vor allem, als diese verdammten Mönche mich auf eine Insel voller Narren gesperrt haben. Oder jedenfalls dachte ich das. Aber gerade diese Narren haben mich gelehrt, dass es Schlimmeres gibt als die Fallsucht.«

»Hm. Und jetzt, wo Alan sich verdrückt hat, hast du sie am Hals, deine Narren. Ich beneide dich nicht.«

Simon gab keinen Kommentar ab.

Die meisten seiner Gefährten hatten ein solches Ausmaß an Verständnis für Alans Flucht gezeigt, dass es ihn verblüfft hatte. Nur Oswald nicht. Der arme Oswald war in ein Jammertal der Verlorenheit gesunken. Er fühlte sich verlassen und verraten. Es war ihnen bislang nicht gelungen, ihm begreiflich zu machen, dass »Losian«, der in Oswalds Vorstellung in etwa so allmächtig und weise wie Gott war, hatte fortgehen müssen, weil ihm keine andere Wahl geblieben war. Weil er einmal etwas für sich selbst hatte tun müssen, ohne das Wohl seiner Gefährten über das eigene zu stellen. Nun sprach Oswald so gut wie gar nicht mehr, starrte stumpfsinnig vor sich hin, weinte viel und war nur unter Strafandrohung zu bewegen, zur Arbeit zu gehen. Simon war froh, dass Alan ihn nicht so sah.

Und Regy hatte Alans Verschwinden zum Anlass genommen, sich von seiner abscheulichsten Seite zu zeigen. Er weigerte sich, sich zu bekleiden und den Eimer für seine Notdurft zu benutzen. Er gebärdete sich wie ein Besessener, sobald er ein Publikum hatte, und sagte grauenhafte Dinge zu jedem, der sich in seine Nähe wagte. Die Wachen hatten mit Meuterei gedroht, wenn ihnen weiterhin befohlen wurde, das Turmzimmer zu betreten. So waren es Simon, King Edmund und die Zwillinge, die sich dieses zweifelhafte Vergnügen teilen mussten.

Metcombe war ein hübsches Dorf am Ufer des Ouse, dessen Katen sich um die kleine St.-Guthlac-Kirche schmiegten und bis an den Waldrand drängten. »Es ist über die letzten Generationen ordentlich gewachsen«, erklärte Guillaume. »Vor der Eroberung kamen alle naselang die Dänen und brannten es nieder. Seit das vorbei ist, gedeiht Metcombe.« Er sprach mit Befriedigung. Wie ein Landmann, der ein gut bestelltes Feld betrachtet. Das Wohlergehen der Menschen, die zu Alans Ländereien gehörten, war ihm wie jedem guten Steward eine Herzensangelegenheit.

Und offenbar wussten diese Menschen ihn zu schätzen. Als Guillaume und Simon Seite an Seite die schmale Dorfstraße entlangritten, grüßten die Frauen und Kinder in den Gärten und winkten ihnen zu.

Guillaume ritt bis zur Uferwiese, vorbei an einer großen Mühle und weiter zur Schmiede. Dort saß er ab und band sein Pferd an einen Apfelbaum. Simon folgte seinem Beispiel. In der Werkstatt, die zur Linken nahe am Ufer stand, sang kein Hammer, darum hielt der Steward auf das kleine Wohnhaus zu. »Cuthbert?«, rief er, und ohne eine Antwort abzuwarten, stieß er die Tür auf.

Wie so viele Schmiede war Cuthbert ein Bär von einem Mann, und wie so viele Schmiede betonte er seine unglaublichen Muskeln mit einem etwas zu eng geschneiderten Obergewand. Er saß mit dem Rücken zur Tür am Tisch, doch als er die Stimme hörte, wandte er sich halb um. »Guillaume!« Ein Lächeln tauchte in seinem struppigen Bart auf und zeigte schiefe, aber gesunde Zähne. »Wen bringst du uns da?«

»Simon de Clare, einen von Lord Alans Gefährten.«

Cuthbert nickte dem fremden Normannen zu. »Kommt rein und nehmt Platz.«

Er hielt ein Kind auf dem Schoß, erkannte Simon, als er näher trat: ein kleines Mädchen mit weizenblonden Locken, die so weich wie Entendaunen aussahen, und einem hinreißend schönen Gesicht. Der kleine rote Mund war verschmiert, und auf dem Tisch stand eine Schale Brei. Der Schmied tauchte den hölzernen Löffel ein und fütterte die Kleine – erstaunlich geschickt für einen Mann mit so großen Händen.

»Nehmt euch ein Bier«, lud er seine Gäste ein und gestikulierte entschuldigend mit dem Löffel. »Ich kann gerade nicht.«

Guillaume kannte sich offenbar gut in dieser Küche aus. Er trat an den Herd, nahm drei Becher vom Bord, öffnete auf Anhieb das richtige von mehreren Fässern am Boden und schöpfte mit einer Kelle Bier in die Gefäße. Simon nahm ihm zwei ab, trug sie zum Tisch und setzte sich, während der Steward ihm mit dem letzten Becher folgte.

Der Schmied legte den Löffel in die Schale, hob seinen Becher den Gästen entgegen und trank einen ordentlichen Zug. Dann wischte er sich mit dem Unterarm über den Mund, nahm den Löffel wieder auf und sagte zu seiner Tochter: »Du bist ein Nimmersatt, Blümchen. Gott weiß, wenn es nach dir ginge, brächte ich den ganzen Tag damit zu, dich mit Milch und Brei zu mästen.«

Sie kicherte, schmiegte sich vertrauensvoll in den Keulenarm, der sie hielt, sperrte den Mund auf und richtete den Blick auf Simon.

Dem stockte beinah der Atem. Die Augen des Kindes waren weder blau noch grün, groß und umrahmt von dichten, blonden Wimpern. Es war Alan of Helmsby, der ihn aus diesen Augen anschaute.

»Wie kommst du zurecht?«, fragte Guillaume den Schmied.

Der deutete ein Schulterzucken an. »Ganz gut. Der Knirps ist bei meiner Schwester. Die hat selbst gerade einen bekommen und säugt sie nun beide. Meine Nachbarinnen bekochen und bemuttern mich. Die Kleine nehme ich mit in die Schmiede, damit ich sie im Auge haben kann. Kein guter Platz für so ein kleines Kind, zu gefährlich eigentlich, aber ich will sie nicht weggeben. Ich wäre zu einsam. Na ja. Langsam gewöhnen wir uns dran, stimmt’s, Blümchen?«

Er machte gute Miene zu einem sehr bösen Spiel, ahnte Simon und war nicht überrascht, als Guillaume ihm erklärte: »Cuthbert ist im Januar verwitwet. Seine Frau starb im Kindbett.«

»Das tut mir leid, Cuthbert«, sagte Simon ernst.

Der Schmied nickte, trank einen Schluck und kratzte die Breischale leer. »Lord Alans Gefährte, he?«, fragte er mit einem etwas säuerlichen Lächeln. »Immerhin. Aber wann beehrt er uns selbst? Oder gibt es hier irgendwas, das ihm neuerdings peinlich ist?«

Simon beobachtete ungläubig, wie der bärtige Mann mit dem Finger auf das Kind zeigte. Cuthberts Unverblümtheit erschien ihm außergewöhnlich, selbst für einen Angelsachsen.

Guillaume schüttelte den Kopf. »Er ist schon wieder fort. Er ist …« Er brach unsicher ab.

»Ein bisschen wunderlich geworden, hört man«, beendete der Schmied den Satz für ihn. Ein gewisses Maß an Häme war nicht zu überhören.

Guillaume schien zu überlegen, wie er antworten sollte, und Simon überraschte sich selbst, als er sich sagen hörte: »Er hat das Gedächtnis verloren. Und hier zu sein oder vielmehr in Helmsby, an dem Ort, wohin er gehört, ohne sich an irgendwen oder irgendetwas erinnern zu können, war unerträglich für ihn. Aber er hat die übrigen Gefährten und mich vor dem Verhungern bewahrt und sicher von Nord Yorkshire hierhergeführt. Nein, er ist nicht wunderlich geworden, Cuthbert. Gott hat ihm nur einen ziemlich üblen Streich gespielt, das ist alles.«

Der Schmied betrachtete den jungen Normannen mit neuem Interesse, und nach einer Weile erwiderte er: »Ja, Gottes Streiche können einen Mann in die Knie zwingen.« Dann fragte er den Steward: »Bist du gekommen, um deinen neuen Dolch abzuholen? Er ist noch nicht fertig, fürchte ich. Ich bin mit der Arbeit hoffnungslos im Rückstand.«

Guillaume winkte ab. »Der Dolch hat keine Eile. Wie kommt ihr mit der Schur voran?«

»Langsam. Man kann merken, dass uns über den Winter zwanzig kräftige Männer und Jungen weggestorben sind, ihre Arbeitskraft fehlt überall. Und immer mehr Männer fahren jetzt zum Fischen auf den Fluss, weil sie gelernt haben, dass die Leute in der Stadt ein Vermögen für guten Räucherfisch bezahlen. Ich sag ihnen, sie dürfen die Herden nicht vernachlässigen, denn Wolle ist krisensicher, aber nach diesem grauenvollen Winter sind alle versessen darauf, genug Geld zu verdienen, um endlich einmal etwas beiseitelegen zu können. Wer immer nur von der Hand in den Mund lebt, sieht jeden Winter dem Tod ins Auge. Es ist kein Wunder, dass sie versuchen, ihr Leben und das ihrer Kinder ein bisschen sicherer zu machen.«

»Nein, das ist wahr«, stimmte Guillaume vorbehaltlos zu. »Simon, kannst du Schafe scheren?«

Simon war verblüfft, nickte aber. »Sicher.« Woodknoll war nur ein kleiner Besitz, wo der Gutsherr es sich nicht leisten konnte, zur Falkenjagd zu reiten, während seine Bauern sich die Hände für ihn schmutzig machten. Simon hatte angefangen, auf dem väterlichen Gut zu arbeiten, sobald er laufen konnte.

»Und wärst du gewillt, hier mit anzupacken?«

Simon konnte sich etwas Besseres vorstellen, womit er diesen herrlichen Tag verbringen könnte, aber er verstand, dass Guillaume ihn mit hergenommen hatte, um den Bauern und Fischern von Metcombe klarzumachen, dass man sie in Helmsby nicht vergessen hatte. In gewisser Weise war Simon als Alans Stellvertreter hier. Es war keine Rolle, die er sich ausgesucht hätte, wäre er gefragt worden, aber er fing an, sich daran zu gewöhnen. »Natürlich, Guillaume.«

Der Steward lächelte ihm dankbar zu. »Dann machen wir uns gleich mit an die Arbeit. Aber vorher sag mir noch, Cuthbert, wie geht es dem alten Æthelwold?«

Während er und der Schmied die jüngsten Ereignisse im Dorf besprachen, rutschte das kleine Mädchen vom Knie seines Stiefvaters, kam ohne alle Scheu zu Simon herüber und streckte ihm die schmuddeligen Hände entgegen. Man konnte sehen, dass dieses arme Kind den Großteil seiner Tage in einer Schmiede verbrachte.

Simon war ohne Geschwister aufgewachsen und hatte kaum Erfahrung mit kleinen Kindern. Er hatte im Allgemeinen auch nicht viel für sie übrig, erst recht nicht, wenn ihre Hände voller Ruß und ihre Münder breiverschmiert waren. Aber nach einem kurzen Zögern hob er das Mädchen auf, setzte es auf sein Knie, nahm es behutsam bei den Händen und ließ es reiten, so wie die Frauen in Woodknoll es immer mit ihren Kleinen taten. Und weil er ein bisschen verlegen war, fragte er: »Wie heißt du denn, hm?«

»Agatha«, antwortete sie, und die gemurmelte Unterhaltung der Männer am Tisch brach abrupt ab.

Die plötzliche Stille veranlasste Simon, aufzuschauen, und er sah in zwei Gesichter, deren Ausdruck des Erstaunens etwas Komisches hatte. Dem Schmied war gar die Kinnlade heruntergefallen.

»Was?«, fragte Simon verständnislos.

Guillaume fasste sich als Erster. »Sie … sie hat noch nie ein Wort gesprochen. Wir haben alle geglaubt, sie ist stumm.«

Simon erfuhr die Geschichte, als sie in der Dämmerung nach Helmsby zurückritten.

Sie hatten den lieben langen Tag geschuftet, mit krummem Rücken, ein Schaf zwischen den Knien, bis zu den Schultern in den warmen Vliesen, deren strengen Geruch man tagelang nicht aus der Nase und den Kleidern bekam, wie Simon wusste. Er war müde bis in die Knochen, aber er hatte den Tag genossen. Er war nicht so virtuos und auch nicht so großmäulig wie die besten unter den jungen Scherern von Metcombe gewesen, die sich gegenseitig mit ihrer Kraft und Ausdauer auszustechen versucht hatten, aber seine Tagesausbeute hatte ihn zufriedengestellt.

»Ich weiß nicht, ob dir das irgendetwas bedeutet, aber du hast dir heute ein ganzes Dorf zu Freunden gemacht«, bemerkte Guillaume. »Du hast dich richtig ins Zeug gelegt. Das konnte man merken, und es hat ihnen imponiert.«

»Freunde kann man nie genug haben, scheint mir«, erwiderte Simon lächelnd. »Warum sind die Leute von Metcombe schlecht auf Alan zu sprechen? Ist es wegen des Kindes?«

Guillaume schüttelte den Kopf. »Du weißt also, dass es seins ist?«

»Ich habe die Fallsucht, Guillaume, aber blind bin ich nicht. Sie ist ihm wie aus dem Gesicht geschnitten und hat seine Augen.«

»Ja.« Der Steward seufzte leise. »Ich weiß. Du solltest nicht gar zu schlecht von ihm denken wegen der Sache. Er war nie einer von den Lords, die sich Freiheiten bei den Bauernmädchen herausnehmen. Aber wenn ihm eine schöne Augen gemacht hat – und das passierte nicht so selten –, hat er sie auch nicht gerade mit der Mistgabel abgewehrt, wenn du verstehst, was ich meine.«

»Obwohl er verheiratet war?«, fragte Simon missfällig.

Guillaume hob hilflos die Schultern und nickte. »Susanna hat beide Augen zugedrückt. Ich glaube, es hat ihr sogar irgendwie geschmeichelt, zumindest so lange, wie sie sich fest im Sattel wusste. Eanfled – Agathas Mutter – hat gemerkt, dass sie ein Kind von ihm bekam, kurz nachdem er verschwunden war. Da war’s aus mit Susannas Nachsicht. Weil sie selbst kein Kind hatte, nehm ich an. Mit einem Mal sah sie ihre Stellung bedroht. Sie ist zu mir gekommen und hat gesagt, ich hätte eine Woche Zeit, Eanfled aus Helmsby fortzuschaffen, sonst würde sie sie beim Bischof wegen Unzucht anzeigen. Also hab ich das Mädchen nach Metcombe gebracht, und alles wurde gut. Der Schmied und Eanfled fanden bald Gefallen aneinander, und die Sache mit dem Kind nahm er nicht so tragisch. Du hast ja gesehen, wie er an der Kleinen hängt. Kein Vater könnte besser zu seinem Kind sein.«

»Und wieso hat sie nie gesprochen?«

»Tja, Simon de Clare. Das kann ich dir auch nicht sagen. Hat Susanna die kleine Agatha verflucht? Haben die Feen ihr die Sprache gestohlen? Niemand weiß es. Das Verrückte ist nicht, dass sie stumm war, sondern dass sie plötzlich angefangen hat zu sprechen, als du sie auf den Schoß genommen hast.« Und Agatha hatte es nicht bei dem einen Wort belassen. Sie war erst zwei Jahre alt und begriff längst nicht alle Fragen, die die drei Männer ihr in ihrer Erregung gestellt hatten, aber ihr Verstand schien vollkommen in Ordnung zu sein, und sie hatte »Ja« und »Nein« geantwortet und auf Simons Erkundigung nach ihrem Lieblingstier den Namen »Billa« genannt, bei dem es sich um ein Kälbchen der Müllerfamilie nebenan handelte.

Der Schmied war in Tränen ausgebrochen.

»Die Sache ist mir selbst ein bisschen unheimlich«, gestand Simon. »Aber seit ich auf der Narreninsel war, sind so viele merkwürdige Dinge geschehen, dass ich mich über nichts mehr wundere.«

Sie ritten eine Weile schweigend durch den klaren blauen Sommerabend.

»Also?«, fragte Simon schließlich, als sie aus dem Wald kamen und die ersten Felder von Helmsby erreichten. »Was ist es nun, das die Leute in Metcombe Alan verübeln?«

»Es hat nichts mit ihm persönlich zu tun. Sie sind aus alter Tradition auf jeden Lord Helmsby schlecht zu sprechen. Ein klein bisschen jedenfalls. Einer von Alans Vorfahren hat ihnen ihr Land abgegaunert und sie alle zu Pächtern gemacht. Vorher waren sie Freibauern, die ihr eigenes Land bestellten. Im Gegenzug hat dieser Lord Helmsby sie vor den Dänen beschützt. Die Kränkung vergessen sie natürlich trotzdem niemals.«

»Sie hätten ihr Land aber doch sowieso verloren nach der Eroberung«, wandte Simon ein, denn die Normannen hatten im rückständigen England das andernorts längst übliche Lehenssystem eingeführt: Alles Land gehörte der Krone. Die vergab es stückweise als Lehen an ihre Vasallen. Die Vasallen vergaben wiederum einen Teil ihres Landes als Lehen an kleinere Adlige und Ritter. Die großen Verlierer dieser Landreform waren die Bauern, die für die Scholle, die sie bestellten, Pacht an ihren Grundherrn bezahlen mussten und ihre persönliche Freiheit verloren hatten. »In Wahrheit haben sich doch längst alle daran gewöhnt. Unsere Bauern in Woodknoll trauern den alten Zeiten jedenfalls nicht nach, an die sich ohnehin niemand mehr erinnert. Jetzt herrscht Ordnung im Land, und das wissen sie zu schätzen.«

»Ordnung, wiederholte Guillaume ungläubig. »Krieg, Hunger und Tyrannei herrschen im Land.«

»Im Moment, ja«, entgegnete Simon ungeduldig. »Aber sie werden vorbeigehen. Das System als solches ist stabil, und du kannst mir nicht weismachen, das wüsstest du nicht.«

»Du hast natürlich recht«, räumte der Steward ein. »Ich sage auch nicht, dass die Bauern von Metcombe die alten Zeiten mitsamt den dänischen Piraten zurückwollen. Aber einen ganz leisen Groll hegen sie eben immer noch gegen die Helmsby. Die meisten Menschen tun das gern, einen leisen Groll hegen und ihn von Generation zu Generation weitergeben, weißt du.«

Das war ein seltsamer Gedanke. Simon hing ihm einen Moment nach und nickte schließlich. »Ich glaube, das stimmt. Nur deswegen wettern die Normannen wohl heute noch manchmal über die Angelsachsen und umgekehrt. In Wirklichkeit haben sie sich längst aneinander gewöhnt, und oft genug haben sie sich so vermischt, dass man gar nicht mehr sagen kann, was ein Mann denn nun eigentlich ist.« Die kleine Agatha fiel ihm wieder ein: die Mutter ein englisches Bauernmädchen, der Vater ein normannischer Edelmann mit englischen Wurzeln. »Was wohl einmal aus ihr wird? Agatha, meine ich. Denkst du, Alan wäre es recht, dass sie unter Bauern aufwächst?«

Guillaume warf ihm einen Seitenblick zu. »Agatha ist ein Punkt auf der langen, langen Liste drängender Fragen, die ich mit ihm erörtern wollte. Ich nehme an, auch das ist einer der Gründe, warum er davongelaufen ist.«

Gut möglich, dachte Simon. »Na ja. Mir scheint, vorerst ist sie gut aufgehoben da, wo sie ist.«

»Bis sie groß genug wird, dass die anderen Kinder sie spüren lassen, was sie von ihrem Vater halten. Ihrem leiblichen Vater, meine ich.«

»Das wird wohl noch ein paar Jahre dauern.«

»Bleibt zu hoffen, dass Alan wiederkommt, bevor sie um sind.«

Als sie zur Burg zurückkamen, richtete Emma ihnen aus, Lady Matilda wünsche sie beide zu sprechen.

Simon und Guillaume tauschten einen Blick. Seit Alan aus Helmsby verschwunden war, war seine Großmutter so fürchterlicher Laune, dass niemand sich freiwillig in ihre Nähe wagte. Doch da die alte Dame nach ihnen geschickt hatte, blieb ihnen natürlich nichts anderes übrig.

»Ich habe die Insel überlebt«, murmelte Simon auf der Treppe vor sich hin. »Vermutlich werde ich auch das hier überstehen.«

»Ja«, brummte Guillaume über die Schulter. »Wagen wir uns mannhaft in die Höhle des Drachen …«

Der fragliche Drache saß vor dem Stickrahmen am offenen Fenster, die Augen leicht verengt, denn es dunkelte jetzt, und Lady Matildas Augen waren nicht mehr die allerbesten.

»Ihr wünschtet uns zu sprechen, Madame?«, fragte Simon höflich.

Ohne sich zu erheben, streckte sie die Hand aus, nahm wortlos einen Brief vom Tisch und hielt ihn Simon hin. Der nahm ihn – sicherheitshalber mit einem kleinen Diener – und reichte ihn Guillaume, aber der schüttelte den Kopf. »Ich kann’s auch nicht«, sagte er. »Wir halten uns hier immer einen Mönch für die Bücher.«

Lady Matilda schnaubte diskret, aber unüberhörbar. »Dann her damit.« Simon gab ihr den Brief zurück, und sie las vor: »Ruben ben Isaac an Lady Matilda of Helmsby, Grüße. Ich nehme an, Ihr vermisst einen Enkel. Er hat uns zu verstehen gegeben, er wünsche nicht, dass irgendwer in Helmsby von seinem Aufenthaltsort erfährt, aber da meine Freundschaft für Euch weit älter ist als die für ihn, war es mir ein Anliegen, Eure Sorge zu zerstreuen: Er befindet sich in diesem Haus und in der Obhut meines Bruders. Ich kann nicht aufrichtig behaupten, dass es ihm wohl ergeht, denn sein Gemüt ist verdüstert, und mein Bruder ist ein gnadenloser Schinder, wenn er einen Kranken zu heilen versucht. Aber der junge Alan ist widerstandsfähig, will mir scheinen. Also seid beruhigt. Und gestattet mir, Euch einen Rat zu erteilen: Schickt nicht nach ihm. Wenn es einen Arzt auf der Welt gibt, der ihm helfen kann, ist es vermutlich mein Bruder, aber es braucht Zeit, wie Josua sich und uns jeden Tag vor Augen führt. Ich bete, dass seine Mühen von Erfolg gekrönt sein mögen, und verbleibe Euer ergebener Freund, der hier einen Ballen persischen Brokat liegen hat, der Euren Augen beinah gerecht wird und den er Euch gern zu Füßen legen würde. – Frecher Schmeichler«, fügte sie nahtlos an. »Ich bin alt genug, um deine Mutter zu sein …« Sie brummte, aber das winzige Lächeln verriet sie: Rubens Tändelei erheiterte sie.

Simon schüttelte fassungslos den Kopf. »Ihr kennt die Juden von Norwich, Madame?« Er hatte Josua und seine Familie schätzen gelernt und war ihnen dankbar für alles, was sie für die Gefährten getan hatten, aber ein klein bisschen peinlich war ihm die Episode dennoch. Er war zum Beispiel nicht sicher, ob er seinen Freunden daheim in Woodknoll davon erzählt hätte.

»Ein paar«, antwortete Matilda. »Ich habe schon früher in Winchester bei Rubens Vater die Stoffe für meine Garderobe gekauft. Das ist zwar verboten, aber für mich hat er eine Ausnahme gemacht. Rubens Großvater war ein Freund meiner Eltern. Ein Heiler, genau wie Rubens Bruder.« Dann tippte sie auf den Brief und sah Simon scharf an. »Hast du das gewusst?«, fragte sie.

Er versuchte erst gar nicht zu leugnen. »Nicht gewusst, Madame. Aber geahnt, ja.«

»Und du bist nicht auf die Idee gekommen, mir einen Ton zu sagen, damit ich nachts nicht wach liegen und mich zu Tode grämen muss, nein?«

Mit einem Mal wurde Simon wütend. Er war es satt, den Kopf für Alan und dessen Sünden hinzuhalten. »Noch seid Ihr ja ganz munter, scheint mir«, konterte er flegelhaft. »Im Übrigen war es seine Entscheidung, Euch im Dunkeln zu lassen, und ich nehme an, er hatte seine Gründe, die ich nicht kenne, aber respektiere.«

Nun war es an Matilda, verdutzt zu sein. Aber sie sammelte sich sogleich wieder. »Da sieh mal einer an. Du bist doch kein Lämmchen, wie ich zu befürchten anfing, Simon de Clare.«

»Nein. Aber diese Erkenntnis ist für mich auch noch neu«, gestand er.

Matilda lächelte vor sich hin. »Nichts kann einem so die Augen über das eigene Selbst öffnen wie ein paar Schicksalsschläge, nicht wahr«, murmelte sie. Dann blickte sie versonnen auf den bedauernswerten Märtyrer in ihrer Stickerei hinab und kam schließlich zu einer Entscheidung. »Also schön. Wir lassen Alan unbehelligt. Fürs Erste. Und ich schlage vor, dass wir diesen Brief Haimon und Susanna und am besten auch allen anderen verschweigen, auf dass das Geheimnis sich nicht wie ein Schilffeuer in Helmsby verbreite.«

Simon und Guillaume stimmten erleichtert zu. Dann wechselte Letzterer das Thema. »Wir waren in Metcombe. Und Ihr werdet nicht glauben, was passiert ist, Lady Matilda: Das Kind hat gesprochen.«

»Agatha?«, fragte sie.

Guillaume nickte und wies auf Simon. »Er hat sie auf den Schoß genommen, sie nach ihrem Namen gefragt, und sie hat geantwortet. Einfach so.«

Matilda schlug die Hände zusammen, und die blauen Augen leuchteten. »Habe ich nicht immer gesagt, mit dem Kind sei alles in Ordnung?« Aber ihre offenkundige Erleichterung verriet, wie groß ihre Zweifel gewesen waren. »Alan hat auch erst mit zwei angefangen zu sprechen. Den Mund nur dann aufzumachen, wenn man etwas zu sagen hat, ist nicht die schlechteste Gabe, die ein Vater seinem Kind vererben kann.«

»Wie dem auch sei. Ich schlage vor, dass wir auch das Susanna und Haimon verschweigen«, riet Guillaume.

»Das wäre gewiss das Beste«, stimmte die alte Dame zu. »Ich wünschte, Haimon verschwände endlich aus Helmsby. Dann könnten wir die Kleine herholen. Sie würde Alan Freude machen und Mut geben, wenn er heimkommt. Zu seinem treulosen Weib.«

Simon verabscheute, was Henry und Susanna getan hatten, aber allmählich fing er an, die junge Frau zu bedauern. Sie bezahlte teuer für ihr Vergehen. Matilda zwang sie, an den Mahlzeiten in der Halle teilzunehmen, um sie dann öffentlich mit größtmöglicher Verachtung zu behandeln. Auch Haimon ließ keine Gelegenheit aus, bei Tisch Andeutungen und Bemerkungen über ihren Ehebruch fallen zu lassen. Wahrscheinlich tat er das, argwöhnte Simon, damit auch ja niemand in Helmsby vergaß, dass Susanna ihrem Gemahl Hörner aufgesetzt hatte, denn es erfüllte Haimon mit Schadenfreude. Was immer seine Gründe sein mochten − für Susanna war die hohe Tafel zum Pranger geworden.

»Vielleicht wäre es klüger, Ihr ließet sie in ein Kloster gehen, bis er heimkommt und entscheidet, wie es weitergehen soll«, regte Simon zaghaft an. »Ich weiß, dass sie das möchte.«

»Nun, ihre Wünsche sind hier nicht länger von Belang«, beschied Matilda. »Im Übrigen hat sie den Trost eines Klosters gar nicht nötig, denn sie hat sich eurem seltsamen Heiligen anvertraut und verbringt jeden Tag Stunden mit ihm in der Kirche.«

»King Edmund?«, fragte Simon verblüfft. Der Gedanke erleichterte ihn.

Lady Matilda nickte. »Ich hoffe, er ist so keusch, wie er tut.«