Helmsby, November 1147
Graupel war am frühen Morgen gefallen, und die kleineren der ungezählten Seen und Tümpel in den Fens hatten eine dünne Eisschicht. Tau und Regen waren auf Wiesen, Schilf und Bäumen gefroren; der verfrühte Wintereinbruch hatte das weite Flachland in eine weiße Zauberwelt verwandelt. Die beinah unirdische Stille der Fens hatte Alan gutgetan, und obwohl er sich so fürchterlich nach Miriam sehnte, dass er Bauchschmerzen davon bekam, hatte er sich nicht beeilt. Er hatte an Robert of Gloucester gedacht, hatte sich erinnert und darüber nachgesonnen, dass ausgerechnet dieser Mann ihm wieder und wieder in seinen Träumen erschienen war, als er sein Gedächtnis verloren hatte, so als wolle er ihn zurückrufen. Er hatte ihn beweint, und er hätte gern für ihn gebetet, aber er wagte nicht, das Wort an Gott zu richten.
Als er nach Helmsby kam, war es vorbei mit der verzauberten Winterstille, denn wie überall wurde auch in Helmsby im November geschlachtet, und die kalte Luft war erfüllt vom Grunzen und Quieken verängstigter Tiere und dem beißenden Gestank ihrer aufgeschlitzten Leiber.
Alan machte an der Kirche halt, um ein Wort mit King Edmund zu wechseln. Er saß ab, hämmerte mit der Faust ans Portal und trat dann einen Schritt zurück.
Wie üblich dauerte es ein Weilchen, bis die Kirchentür geöffnet wurde, aber nicht King Edmund, sondern Simon de Clare stand auf der Schwelle. »Alan!« Er trat ins Freie.
»Simon.«
Sie umarmten sich kurz und brüsk. Das war üblich unter Männern von Stand, aber sie hatten es noch nie getan.
»Er ist wieder da«, rief Simon über die Schulter ins Innere der Kirche, und es dauerte nicht lange, bis Edmund, Oswald und die Zwillinge herauskamen.
»Seit wann seid ihr zurück?«, fragte Alan.
»Vorgestern«, antwortete Godric. »Wir hatten …«
»Ist dein Onkel gestorben?«, fiel Oswald ihm ins Wort.
Alan sah ihn an und legte ihm zum Gruß die Hand auf den Arm. Er hatte Oswald erklärt, warum er fortmusste. Es verstimmte ihn ein wenig, dass er Helmsby nicht verlassen konnte, ohne quasi Oswalds Segen einzuholen, aber so war es eben. »Ja, er ist tot.«
»Doch nicht Gloucester?«, fragte Simon erschrocken.
Alan nickte.
King Edmund, die Zwillinge und Simon bekreuzigten sich, und Letzterer sagte: »Es wird Henry hart treffen, wenn er das hört.«
»Bist du traurig?«, fragte Oswald Alan, wie immer gewillt, Mitgefühl und Trost zu spenden.
»Ja«, gestand Alan freimütig. »Wollen wir hinauf auf die Burg? Kein Grund, dass wir hier am Boden festfrieren, nur weil ich keine Kirche betreten darf.«
Die Gefährten willigten ein, und Alan war dankbar, dass Simon, Godric und Wulfric ihn nicht mit Fragen nach seinem Kirchenverweis bedrängten. Er nahm an, wenn sie schon zwei Tage hier waren, hatten sie ohnehin längst alles erfahren.
Auf dem kurzen Weg zur Burg hinüber erkundigten sich Alan und Simon höflich nach dem Reiseverlauf des anderen und musterten einander verstohlen. Simon war äußerlich beinah unverändert, aber er war selbstbewusster geworden, stellte Alan zufrieden fest. Es hatte nichts mit dem Schwert zu tun, welches der junge Mann jetzt offen und mit größter Selbstverständlichkeit trug, sondern man sah es an seinem Schritt und hörte es an seiner Stimme.
»Schöne Waffe«, bemerkte Alan.
»Henry hat sie mir geschenkt«, erklärte Simon und seufzte. »Er ist wild entschlossen, einen Krieger aus mir zu machen.«
»Und nimmt dich hart ran, was?«
»Fürchterlich. Wenn es nach ihm ginge, würden wir von Sonnenaufgang bis Einbruch der Dunkelheit auf dem Sandplatz verbringen.«
»Es hat dir nicht geschadet, scheint mir. Du wirkst kerngesund.«
Simon hob leicht die Schultern. »Du und ich wissen, dass ich das niemals sein werde, aber du hast schon ganz recht. Ich kann mich nicht erinnern, mich je besser gefühlt zu haben.«
Miriam und Guillaumes Frau saßen zusammen an der hohen Tafel. Aldgyth hielt ihren achtwöchigen Sohn im Arm, und Alans Gemahlin unterhielt den Kleinen mit einer uralten abgeblätterten Kinderrassel, die sie in der Truhe in ihrer Kammer gefunden hatte. Als sie die Gefährten eintreten sah, legte sie das Spielzeug beiseite, stand auf und kam auf sie zu. Sie lief nicht, aber ihr Schritt war leichtfüßig und rasch, und die Augen, die Alan entgegenblickten, leuchteten vor Freude.
Er trat zu ihr und zog sie an sich – ihm war gleich, ob sie es unschicklich fand. Für einen Herzschlag presste er sie zu fest an sich, weil er einfach nicht genug von ihr spüren konnte, aber sofort besann er sich und lockerte seinen Griff, denn in der Nacht vor seinem Aufbruch hatte sie ihm gesagt, dass sie guter Hoffnung sei.
»Willkommen daheim, Alan«, flüsterte sie, die Lippen an seinem Hals. »Du hast mir gefehlt.«
»Gut«, murmelte er befriedigt und strich noch für einen Augenblick mit den Lippen über ihre Schläfe, aber nur zu bald machte sie sich von ihm los. Sie missbilligte Gefühlsbekundungen in der Öffentlichkeit, und eigentlich tat er das auch.
»Oswald, bist du etwa schon wieder ohne Mantel durch die Kälte gelaufen?«, fragte sie kritisch.
Oswald nickte zerknirscht. »’tschuldigung.«
Mit gestrenger Miene wies sie auf die Stirnseite der Halle. »Setz dich vors Feuer, damit du uns nicht wieder krank wirst.« Und zu den übrigen Gefährten sagte sie: »Ihr seid leichtsinnig, einer wie der andere. Wann werdet ihr lernen, darauf zu achten, dass der Junge warm genug gekleidet ist?«
King Edmund schenkte ihr sein gewinnendstes Lächeln. »Du hast ja recht, mein Kind. Gott segne dich für deine Fürsorge. Ich werde besser achtgeben, du hast mein Wort.«
Sie setzten sich nah ans Feuer, denn sie alle waren durchgefroren, und Miriam trug Emma auf, heißen Wein und Brot und etwas von der frischen Wurst aus der Küche zu holen.
»Ja, Mylady.« Emma eilte willig davon. Wie so viele der Mägde und Knechte begegnete sie Miriam mit einer ehrfürchtigen Hingabe, die Alan amüsierte. Es war die stille Würde gepaart mit dieser unbestimmten Traurigkeit, die das Gesinde bewog, Miriam zu Füßen zu liegen. Alan hätte gern darauf verzichtet, wenn es ihm dafür gelungen wäre, die Traurigkeit zu vertreiben. Aber in Wahrheit wusste er, dass sie zu Miriam gehörte wie die schwarzen Augen. Seine Frau war nicht unglücklich; im Gegenteil. Helmsby hatte sie mit offenen Armen aufgenommen, und als sie Alan gestanden hatte, dass sie sich noch niemals irgendwo so wohl, so sicher, so zu Hause gefühlt hatte wie hier, hatte er gewusst, dass es die Wahrheit war. Das änderte indessen nichts an ihrem Kummer über alles, was sie hatte aufgeben müssen.
Die Gefährten langten hungrig zu und berichteten sich gegenseitig von ihren Erlebnissen. Wulfric und Godric hatte das kleine Abenteuer auf dem Kontinent ebenso gutgetan wie Simon. Henry hatte auch sie mit Waffen bedacht, und sie berichteten mit weit mehr Enthusiasmus von ihren neu erworbenen Fechtkünsten als Simon. Sie waren bekümmert über den Tod ihres Hundes, der das letzte Bindeglied zu ihrer Kindheit in Gilham und ihrem Vater gewesen war, aber dennoch strahlten beide einen Übermut aus, der selbst für ihre sonnigen Gemüter ungewöhnlich war und den Alan erst begriff, als er wieder und wieder die Namen zweier Zwillingsschwestern aus Chinon hörte. Kein Zweifel, erkannte er, Godric und Wulfric hatte es schwer erwischt.
»Erzähl uns von Luke«, bat Ersterer Alan schließlich. »King Edmund wusste nichts Genaues, und Oswald wollte nicht darüber reden.«
Alan tauschte einen Blick mit seiner Frau. Dann antwortete er: »Miriam, Oswald, Luke und ich sind Anfang September nach Norwich geritten. Luke … wollte nicht. Aber ich wusste mir keinen anderen Rat, denn sein Zustand wurde immer bedenklicher, und die Leute in Helmsby tuschelten, er hätte den Teufel im Leib. Ich hatte die Hoffnung, wenn Josua ihn sieht, könnte er vielleicht irgendetwas für ihn tun. Also habe ich Luke überredet. Aber unterwegs, mitten in der Einöde in den Fens, erlitt er wieder einen Anfall wie kurz vor eurer Abreise. Er war …« Alan zögerte und blickte zu Oswald, der die Unterlippe zwischen die Zähne genommen hatte, die Hände um den Schemel gekrallt und aussah, als warte er darauf, dass eine Keule auf ihn niedersauste.
Alan folgte einer plötzlichen Eingebung. »Erzähl du’s ihnen, Oswald. Hab keine Angst.«
Oswald warf ihm einen gequälten Blick zu, aber Alan nickte ihm nur aufmunternd zu. Er hoffte, der Junge werde das Erlebnis endlich hinter sich lassen können, wenn er es in Worte fasste und somit bannte.
»Seine Schlange ist aufgewacht und hat ihn schrecklich gebissen«, erzählte Oswald leise, den Blick gesenkt. »Er hat geschrien, weil es so weh getan hat, und es hat ihn … ganz verrückt gemacht. Ganz verrückt …« Er brach ab, und alle warteten geduldig. Schließlich fuhr er fort: »Sie hat ihm gesagt, er soll seine Hände um meinen Hals legen und fest zudrücken. Und sie hat ihn schnell gemacht. Oder, Losian? Schnell wie ein geölter Blitz.«
Alan schüttelte langsam den Kopf. »Ich habe dergleichen nie zuvor gesehen, Freunde«, gestand er.
»Luke musste seiner Schlange gehorchen und hat mich gewürgt und geschrien und geschrien. Und dann ist Losian gekommen.«
Alan legte ihm kurz die Hand auf die Schulter. »Gut gemacht«, murmelte er, und beendete die traurige Geschichte. »Seine Schnelligkeit und seine Kräfte schienen wirklich nicht von dieser Welt zu sein. Ich bin nicht sicher, ob ich es ohne Miriams Hilfe geschafft hätte.« Seine wunderbare Frau hatte die gleiche unerschütterliche Ruhe bewiesen, die Alan an ihrem Vater immer bewundert hatte, obwohl Lukes Raserei wie eine Vision der Hölle gewesen war. »Ich musste … ich musste ihn niederschlagen. Es ging nicht anders. Als er bewusstlos war, haben wir ihm Mohnsaft eingeflößt, um ihn ruhig zu halten. Und so haben wir ihn nach Norwich gebracht, wo Miriams Vater ein Hospital für Menschen wie ihn eröffnet hat. Josua sagt, es gibt kaum Hoffnung, dass es noch einmal besser wird mit unserem Gefährten. Aber er sagt auch, dass sein Leiden vermutlich nicht mehr lange dauern wird.«
Sie schwiegen bekümmert, und schließlich fuhr Simon Oswald seufzend über den zu großen Kopf. »Du weißt, dass er nichts dafürkonnte, oder? Dass es nicht Luke war, der dir an die Kehle gegangen ist?«
Wie treffsicher er Oswalds größten Kummer erkannt hat, dachte Alan erstaunt.
»Ich weiß«, antwortete Oswald niedergeschlagen.
Simon rieb sich kurz die Stirn. »Herrje, was für eine grässliche Geschichte.« Er sah zu Alan. »Ihr zwei habt nicht gerade Glück, wenn ihr auf Reisen geht, was? Da fällt mir ein: Danke, dass du das Gesindel aus Woodknoll verjagt hast.«
»Keine Ursache. Ich weiß, du wolltest es selbst tun, aber nachdem Rollo de Laigle tot war, wäre es zu gefährlich gewesen, es herrenlos zu lassen. Roger fitzNigel, Guillaumes Bruder, hält es für dich, bis du nach Hause kommst.«
»Dann lass uns hoffen, dass er dort keinen grauen Bart bekommt. Ich muss noch vor Weihnachten zurück nach Anjou.«
Alan grinste ihn an. »Unentbehrlich, wie?«
»Eifersüchtig?«, konterte Simon herausfordernd.
Alan schnaubte. Doch er argwöhnte, die ehrliche Antwort lautete Ja. »Ich hab einen Brief für Henry von seiner Mutter. Es wird das Praktischste sein, wenn du ihn mitnimmst.«
Bei Einbruch der Dämmerung versammelte der Haushalt sich zum Nachtmahl in der Halle, obwohl noch Nachmittag war. Im Herbst und Winter waren die Tage kurz, denn wenn es dunkel wurde, gingen die Menschen schlafen. Das sei auch recht so, sagte King Edmund gern, denn im Winter gab es nicht viel Arbeit zu tun, und wenn die Menschen Langeweile hätten, neigten sie zur Sünde.
Wie so oft hatten der Lord und die Lady der Halle als Erste aufgegessen, denn Alan verschlang immer noch alles, was die Köchin ihm vorsetzte, wie ein Hungerleider, und Miriam hatte außer ihrem Fladenbrot und einer Schale Pastinaken nichts von den heutigen Speisen essen können.
»Wir müssen dringend etwas unternehmen in der Sache«, sagte Alan besorgt zu ihr. »Du kannst nicht immer nur Brot und Honig und mageres Hühnchenfleisch zu dir nehmen, jetzt, da du für zwei essen musst.«
»Mein Vater sagt, Geflügel sei gut für Schwangere«, entgegnete sie. »Und nun erzähl mir, was in Bristol passiert ist und du mir bislang verschwiegen hast.«
»Das werde ich. Aber nicht hier und nicht jetzt. Es ist …«
»Gott zum Gruße, Cousin«, unterbrach ihn eine laute Stimme von der Tür.
Seine Großmutter verdrehte die Augen zur rußgeschwärzten Decke. »Jesus, konntest du uns das nicht ersparen?«, brummte sie.
Haimon de Ponthieu kam gemächlich in die große Halle geschlendert, trat vor die hohe Tafel, die Hände auf dem Rücken verschränkt, und wippte auf den Fußballen. An seiner Seite war Susanna. Sie hatte nur Augen für Miriam, und das kleine Lächeln auf ihren Lippen verursachte Alan einen unangenehmen Druck auf dem Magen.
Ohne Eile erhob er sich von seinem Platz. »Ich hatte dir eindringlich geraten, dich hier nicht mehr blicken zu lassen, Haimon. Also sei klug und mach kehrt, und nimm deine Cousine mit. Sie ist hier so wenig erwünscht wie du.«
Haimon rieb sich gelangweilt die Fingernägel am Mantel und schaute dann auf. »Bist du fertig?«
»Haimon, du Narr, wozu soll das führen?«, grollte ihre Großmutter.
Ihr Enkel ignorierte sie, den Blick unverwandt auf Alan gerichtet. »So unversöhnlich, Teuerster? Draußen bricht eine bitterkalte Nacht an, und trotzdem willst du uns vor die Tür setzen?«
»Ihr hättet Eure Reise besser planen sollen«, gab Alan zurück. »Von mir aus könnt ihr in der Kirche im Dorf unterschlüpfen, aber hier bleibt ihr todsicher nicht.«
Haimon schüttelte den Kopf und blickte sich eingehend in der Halle um, als wolle er sie sich einprägen, ehe er sie zum letzten Mal verlassen musste. »Willst du nicht einmal hören, was uns herführt?«, fragte er dann.
»Offen gestanden, nein.«
Susanna konnte nicht länger an sich halten. Sie machte einen Schritt auf die Tafel zu. »Du bist derjenige, der Helmsby verlassen wird!«, schleuderte sie ihrem einstigen Gemahl entgegen. »Und du kannst Haimon auf Knien anbetteln, dich die Nacht noch hier im Stall verbringen zu lassen, denn du kannst nicht in der Kirche unterschlüpfen, richtig?«
Alan legte seiner Frau leicht die Hand auf die Schulter. Er wusste, dass hier gerade eine Katastrophe über ihn und die Seinen hereinbrach, und er setzte alles daran, eine ausdruckslose Miene zu wahren, während er sich erkundigte: »Was hat das zu bedeuten?«
Langsam, als wolle er den Moment genüsslich in die Länge ziehen, förderte Haimon ein versiegeltes Dokument aus seinem Gewand. »Ich habe hier eine königliche Urkunde, die dich für deine unrechtmäßige Eheschließung mit einer Jüdin ächtet, dir Helmsby und deinen gesamten übrigen Besitz entzieht und stattdessen mir zu Lehen gibt.«
Er streckte Alan das Schriftstück entgegen, der keinerlei Anstalten machte, es zu nehmen. »Eine königliche Urkunde?«, fragte er stattdessen. »Von wem?«
Haimon zog amüsiert die Brauen in die Höhe. »Vom König von England, Cousin, wie der Name schon sagt.«
»England hat keinen rechtmäßigen König«, belehrte seine Großmutter ihn.
Er hob unbeeindruckt die breiten Schultern. »Ich hoffe, du vergibst, dass ich anderer Meinung bin.«
Lady Matilda fragte angewidert: »Du hast dich Stephen angeschlossen, diesem Wurm? Wie tief willst du noch sinken, Haimon?«
»Im Gegensatz zu dir und meinem teuren Vetter bin ich in der Lage, den Tatsachen ins Auge zu sehen: Gloucester ist tot, und damit ist die Kaiserin erledigt. Sie haben Stephen nicht vom Thron schütteln können, und nun hat er gewonnen. Und darum«, schloss er an Alan gewandt, »habe ich es für klug befunden, ihm meine Dienste anzubieten. Für eine kleine Gegenleistung.«
Alan schüttelte fassungslos den Kopf. »Ich hätte dir allerhand zugetraut, aber niemals den Verrat an der Sache, für die auch du jahrelang mit aller Entschlossenheit gekämpft hast.«
»Oh, aber nie so legendär wie du, nicht wahr?«, höhnte Haimon. »Und auch nicht so fanatisch. Die Kaiserin ist deine Tante, nicht meine. Ehrlich gestanden ist mir völlig gleich, wer König von England ist, und es ist immer lohnender, auf der Seite des Siegers zu stehen.«
»In dem Fall kann ich dir nur wünschen, dass du nicht zu früh umgefallen bist, denn dieser Krieg ist noch lange nicht vorbei.«
»Für mich schon«, konterte Haimon. »Und jetzt sei so gut und tritt beiseite. Ich würde mich gern auf meinen Platz setzen. Sagen wir, du hast eine halbe Stunde, von meiner Burg zu verschwinden. Danach setz ich dich vor die Tür.«
»Du und wie viele deiner Freunde, Haimon?«
»Etwa zweihundert«, antwortete ein weiterer Besucher, der von sechs Hünen in Helmen und Kettenpanzern begleitet durchs Portal der Halle trat. Als er den Lichtkreis der Kerzen auf der hohen Tafel erreichte, hatte Alan keine Mühe, ihn wiederzuerkennen. Die makellose Kutte aus feinster Wolle war ebenso unverwechselbar wie die Arroganz.
»Anselm de Burgh, sieh an.« Er stellte fest, dass seine Kiefermuskeln wie versteinert waren. »Kommt Ihr wieder einmal an der Spitze eines mordgierigen Mobs?«
Der Mönch vollführte eine kleine Geste Richtung Fenster. »Seht selbst.«
Alan tauschte einen Blick mit Simon, der bereitwillig aufstand und an eine der schmalen Fensteröffnungen trat. »Soldaten«, berichtete er über die Schulter. »Der Hof wimmelt davon. Sie haben deine Wachen und die Knappen, die du ausbildest, überwältigt und gefesselt, verhalten sich ansonsten aber ruhig.«
»Sie stehen im Dienst des Bischofs von Norwich, der sie mir freundlicherweise geborgt hat, um mein Recht durchzusetzen«, erklärte Haimon. »Also, Cousin? Wie steht es? Gehst du freiwillig, oder soll ich sie auf deine Bauern hetzen?«
»Ich dachte, es sind jetzt deine Bauern, Haimon«, gab Alan zurück.
Er hatte die Hand am Heft, aber ehe er ziehen und über den Tisch setzen konnte, lag Miriams Linke auf seinem Arm. »Alan.«
Es klang eher scharf als ängstlich. Und natürlich hatte sie recht. Gegen die sechs Hünen und Haimon konnte er nichts ausrichten, und wenn er seinen Cousin angriff, würde er alles nur noch schlimmer machen. Und doch wusste er kaum, wie er sich hindern sollte. Der Gedanke, dass Miriam das Heim, das ihr ein sicherer Hafen geworden war, schon wieder verlieren sollte, drohte ihn völlig kopflos zu machen.
»Hör lieber auf sie«, riet Haimon. »Sonst könnte ich dich für die letzte Nacht hier auch in das Verlies werfen lassen, das du so vorausschauend gebaut hast.«
Lady Matilda kam auf die Füße. »Haimon! Untersteh dich!«
Ehe ihr Enkel etwas erwidern konnte, sagte Susanna: »Ihr habt hier Euren letzten Befehl erteilt, Madame. Haimon ist gewillt, Euch in Helmsby zu dulden, aber unter Vorbehalt.«
»Lieber erfriere ich in den Fens, als auch nur eine Nacht unter seinem Dach zu verbringen«, teilte die alte Dame ihr mit.
Susanna breitete kurz die Hände aus, um anzuzeigen, dass ihr das mindestens genauso lieb wäre. Dann wandte sie sich an Alan. »Worauf wartest du?«
Alan nahm seine Frau bei der Hand, umrundete die Tafel und blieb vor Susanna stehen. »Genieße deinen Triumph, solange er währt. Denn ich habe mein Versprechen nicht vergessen.«
Sie presste die Lippen zusammen und zischte dann: »Haimon, es wäre klüger, du würdest ihn töten.«
»Zweifellos«, antwortete der seufzend. »Aber das kann ich nicht, denn er ist mein Cousin. Außerdem finde ich die Vorstellung viel reizvoller, dass er bei Eisregen durch die Wildnis irrt, heimatlos und bettelarm.« Schmunzelnd sah er Alan in die Augen. »Die Vorstellung wird mich manch eisige Winternacht lang wärmen.«
»Ich habe nicht die Absicht, bei Eisregen durch die Fens zu irren«, verkündete Alan grimmig, als er sich wenig später mit seiner Frau und seiner Großmutter in Gunnilds Kate einfand, wo seine Gefährten ihn schon erwarteten. Haimon hatte sich strikt geweigert, ihnen für die Nacht noch Obdach auf der Burg zu gewähren, und beim ersten Tageslicht mussten sie Helmsby verlassen haben.
»Dazu besteht auch keine Notwendigkeit«, sagte Simon in die kurze Stille hinein. »Kommt mit mir nach Woodknoll. Gib mir die Chance, mich endlich einmal für alles erkenntlich zu zeigen, was du für mich getan hast.«
Alan nickte knapp. »Hab Dank, Simon.«
Der junge de Clare hörte an dem kühlen Tonfall, wie schwer es Alan fiel, seine Gastfreundschaft anzunehmen, wie tief es ihn demütigte. Aber ein Mann, der exkommuniziert und enteignet war, konnte sich Stolz nur in sehr geringem Maß leisten. Alan musste jetzt vor allem an seine Frau und die alte Dame denken.
Gunnild wies auf die Bank neben dem Herd. »Hier, Lady Matilda. Setzt Euch und trinkt einen Schluck Ale, solange es noch heiß ist.«
Alans Großmutter nickte dankbar und kam der Einladung nach, obwohl sie wie alle Helmsbys heißes Bier verabscheute. Dann sah sie zu ihrem Enkel hoch und bemerkte: »Du nimmst es gelassen, sehe ich.«
Alan stieß hörbar die Luft aus. »Ich glaube, das ist übertrieben.« Er dachte einen Moment nach und fügte dann hinzu: »Es liegt an all dem, was während der vergangenen Monate passiert ist, nehme ich an. Ich habe mich selbst wiedergefunden und wider alle Wahrscheinlichkeit die Frau bekommen, die ich wollte.« Mit einem kleinen, angespannten Lächeln ergriff er Miriams Hand und zog seine Gemahlin näher, bis er den Arm um ihre Schultern legen konnte. »Wie es scheint, haben die Jahre auf der Insel mich gelehrt, dass ich auf alles andere verzichten und dennoch überleben kann.«
»Dann beglückwünsche ich dich zu deiner Weisheit«, warf King Edmund ein.
»Oh ja. Wahrhaftig nur ein weiser Mann konnte in die Lage geraten, in der ich mich befinde.«
Nur die Zwillinge fanden Alans höhnische Bemerkung komisch. Oswald saß im Bodenstroh, hatte den Kopf an Gunnilds Knie gelehnt und weinte leise vor sich hin, seit ihm aufgegangen war, dass sie aus Helmsby fortgingen und er seine neue Freundin verlieren würde. Auch Edmunds Blick war voller Unruhe, bemerkte Simon, denn auch für ihren sonderbaren Hirten war Helmsby eine sichere Zufluchtstätte geworden. Die wundervolle Kirche und die seelsorgerische Betreuung der Dörfler, die ihn so ins Herz geschlossen hatten, waren King Edmunds Lebensinhalt geworden und sein Anker. Vermutlich fürchtete er sich vor der ungewissen Zukunft. Wer weiß, fuhr es Simon durch den Kopf, womöglich glaubt er, es werde mit ihm bergab gehen wie mit Luke, wenn er seinen Platz in Helmsby und damit allen Halt verliert.
»Wie kommen wir nach Lincolnshire durch dieses Wetter?«, fragte Godric. »Wir brauchen wenigstens einen Wagen für die Ladys und für Oswald. Erinnert euch, er kann keine weiten Strecken laufen.«
»Wir müssen es zu Fuß bis Metcombe schaffen«, antwortete Alan. »Dort wird der Schmied uns einen Wagen besorgen. Glücklicherweise hat meine Gemahlin mich davon überzeugt, ihm meine Tochter zu lassen, darum ist er mir gewogen.«
»Soweit irgendwer aus Metcombe einem Helmsby je gewogen sein könnte«, schränkte seine Großmutter krötig ein. Sie hatte die alten Hände um den Alebecher gelegt und starrte hinein.
»Ein Helmsby ist er ja jetzt nicht mehr«, rief Wulfric ihr unvorsichtigerweise in Erinnerung.
»Alan ist ein Helmsby bis ins Mark und wird es bleiben, bis er seinen letzten Atemzug tut«, fuhr sie ihn an. »Davon verstehst du nichts, du …«
»Bitte, Großmutter«, unterbrach Alan scharf. »Das alles führt zu nichts.«
Sie hat Angst vor dem Fußmarsch nach Metcombe, erkannte Simon. Und zu Recht. Das kann sie nicht schaffen. »Wir sollten uns schlafen legen«, schlug er seinen Gefährten vor.
King Edmund und die Zwillinge nickten. Sie hatten beschlossen, ihre letzte Nacht in Helmsby in der Kirche zu verbringen. Simon wünschte höflich eine gute Nacht und führte sie hinaus. Über die Schulter erhaschte er einen letzten Blick auf Alan, der seine Frau an sich gezogen hatte, das Kinn auf ihren Scheitel gelegt, und leise sprach.
»Was soll nur aus ihnen werden?«, fragte Godric ungewohnt verzagt.
»Was soll aus uns allen werden?«, entgegnete King Edmund düster und bestätigte damit Simons Verdacht.
»Vielleicht können wir noch verhindern, dass Haimon uns alle davonjagt«, sagte er gedämpft.
Edmund und die Zwillinge blieben stehen und sahen ihn an. »Aber wie?«, fragte Wulfric.
»Ich halte ja große Stücke auf meine Kampftechnik, aber wir drei gegen zweihundert?«, fügte sein Bruder skeptisch hinzu.
Simon brachte ihn mit einer ungeduldigen Geste zum Schweigen. »Ich glaube, dass Haimon de Ponthieu ein sehr finsteres Geheimnis hütet. Wenn wir ihn nun dazu bewegen könnten, es zu enthüllen, würde das die Lage vollkommen ändern.«
»Wieso?«, wollte King Edmund wissen.
»Glaub mir, es ist so«, versicherte Simon.
Die anderen drei schauten ihn an. Simon sah die Fragen und auch die Furcht in ihren Blicken, aber ebenso ihre Bereitwilligkeit, ihm zu folgen. Das war ihr größter, genau genommen ihr einziger Trumpf: dieses Vertrauen zueinander. Das Leben auf der Insel und die Ereignisse nach der Flucht von dort hatten sie gelehrt, dass sie sich blind aufeinander verlassen konnten.
»Was hast du vor?«, fragte Godric schließlich.
Simon erklärte es ihnen.
Niemand nannte ihn verrückt oder einen Narren, denn sie mieden diese Wörter. Dennoch war Wulfrics Skepsis nicht zu überhören, als er sich erkundigte: »Und wer von uns soll das Wunder vollbringen, ihm sein Geheimnis zu entlocken?«
Simon tauschte einen Blick mit King Edmund. Der nickte feierlich. »Ja«, sagte er langsam. »Es ist die einzige Möglichkeit.«
Es war nicht einmal schwierig, in die Burg zu gelangen. Nur das untere Tor war von zwei der bischöflichen Soldaten bewacht, und King Edmund trat in Simons Begleitung zu ihnen und erklärte, er habe eine wichtige Nachricht von Alan de Lisieux, ehemals of Helmsby, für Vater Anselm de Burgh. Eigentlich war es ein wenig spät für Botschaften, aber oben in der Halle wurde noch gefeiert. Der angelsächsische Gottesmann strahlte eine Güte und fromme Demut aus, denen die Wachen nichts entgegenzusetzen hatten, und der junge normannische Edelmann an seiner Seite verlieh ihm Autorität. Die Männer ließen die Gefährten passieren und protestierten auch nicht, als die Zwillinge schattengleich hinter ihnen durchs Tor glitten.
Ein paar Zelte waren im Burghof errichtet worden, um die Soldaten, die nicht im Donjon und den übrigen Gebäuden untergekommen waren, vor dem Regen und dem eiskalten Wind zu schützen.
»Passt auf, wo ihr hintretet«, raunte Simon. »Stolpert nicht über die Zeltschnüre, wir wollen kein Aufsehen erregen.«
Ohne Missgeschicke gelangten sie zur Halle, hielten sich aber im Schatten des Vorraums und spähten hinein. Anselm de Burgh saß mit einem seiner Ritter an der hohen Tafel. Ein Becher stand vor ihm, aber der Subprior wirkte nicht betrunken. An den Seitentischen hockten die Soldaten dicht an dicht, tranken und würfelten, doch es war kein Gelage.
»Keine Spur von Haimon und Susanna«, wisperte Godric.
»Gut«, gab Simon ebenso leise zurück. »Dann lasst uns gehen. King Edmund, du weißt, was du zu tun hast.«
Der heilige Mann nickte und huschte vor ihnen die Treppe hinauf. Nach wenigen Schritten hatten die Schatten der engen Wendeltreppe ihn verschluckt. Simon und die Zwillinge folgten und schlichen im Geschoss über der Halle zu der Kammer, die bis vor wenigen Stunden Alan und seine Gemahlin beherbergt hatte.
Godric presste ein Ohr an einen Spalt zwischen zwei Holzbohlen der Tür. Seine Augen leuchteten auf, und mit einem Grinsen nickte er Simon zu. »Sie sind beschäftigt«, wisperte er.
»Könnte nicht besser sein«, befand sein Bruder.
»Lasst uns trotzdem auf der Hut sein«, warnte Simon.
Sie verständigten sich mit einem Blick, dann zog Simon die Tür auf, und lautlos glitten sie über die Schwelle.
Im Schlafgemach war es dunkel nach dem von Fackeln erhellten Korridor, aber ihre Augen brauchten nicht lange, bis sie Umrisse erkennen konnten. Die Bettvorhänge waren geschlossen, erzitterten aber rhythmisch. Im gleichen Takt hörten die Eindringlinge das heisere Stöhnen einer Frau.
»Das gefällt dir, was«, knurrte Haimon.
Sie stöhnte lauter.
»Ich wette, so hat er’s dir nie besorgt. Sag es, Susanna. Sag, dass er es dir nie so besorgt hat …« Es klang kurzatmig.
Unterdrückte Heiterkeit drohte die Zwillinge außer Gefecht zu setzen, doch als Simon mit einem Ruck den Vorhang zurückriss, waren sie zur Stelle.
Godric packte ihr so vortrefflich abgelenktes Opfer bei den Armen und riss den Oberkörper zurück. Wulfric krallte die Faust in seinen Schopf und setzte ihm einen Dolch an die Kehle. Und Simon sagte: »Vergebt die rüde Unterbrechung, Mylord, aber wir hätten da noch eine Frage.«
Wie gestochen fuhr Susanna hoch, und gerade noch rechtzeitig presste Simon ihr die Hand auf den Mund. »Ein Laut und er ist tot, Madame«, zischte er. Er hätte nie gedacht, dass er in der Lage wäre, eine Frau zu bedrohen, eine so wunderschöne Frau obendrein. Der Anblick, den sie bot, hätte obszön sein sollen: die Röcke gerafft, das Kleid aufgeschnürt, Brüste, Geschlecht und die langen Beine entblößt. Aber es war nicht obszön, im Gegenteil. Es war erregender als alles, was Simon je gesehen hatte – und er hatte an Henrys Hof eine Menge gesehen. Aber er blieb kühl und konzentriert und erwiderte ihren flehenden Blick so mitleidlos, dass sie die Augen niederschlagen musste.
Unterdessen hatten die Zwillinge Haimon einen vorbereiteten Knebel in den Mund geschoben und festgezurrt, und nun wehrte Haimon sich heftig und strampelte, während sie ihn an Händen und Füßen fesselten. Schließlich war er sicher verschnürt, und Godric zeigte Großmut, zog ihm die Hosen hoch und band sie zu.
»Jetzt sie«, sagte Simon.
Susanna zuckte zurück, sah ihn wieder an und schüttelte wild den Kopf.
Simon gab ihren Mund frei. »Es muss sein. Wenn ihr Eure Kleider vorher richten wollt, so sputet Euch, Madame.«
Susanna gab zumindest vor, bedingungslos zu kapitulieren. Sie nickte, und Tränen rannen aus ihren großen blauen Augen über die so perfekt geformten Wangen, während sie mit fahrigen Bewegungen ihr Kleid zuschnürte. Als sie einigermaßen züchtig bedeckt war, umklammerte Simon ihren Arm mit einem gewissen Maß an Rohheit, das ihr zeigen sollte, wie ernst ihm seine Drohungen waren, zerrte sie auf die Füße, knebelte sie mit ihrem Couvre-chef und fesselte sie an den Bettpfosten.
Die Zwillinge warfen sich Haimon über die Schultern und gingen zur Tür. Haimon gab ein empörtes, aber gedämpftes Grunzen von sich.
Simon spähte auf den Korridor hinaus. »Die Luft ist rein. Kommt.«
Godric und Wulfric trugen ihre Last scheinbar mühelos die enge Treppe zur Turmkammer hinauf. King Edmund erwartete sie dort vor der Tür, und er wirkte kränklich bleich im Licht der Fackel, die er trug.
»Er sagt, er tut es«, brachte er hervor, es klang heiser.
Simon nickte zufrieden. »Geh nur, wenn du willst, King Edmund. Wir schaffen den Rest allein.«
Aber ihr Hirte schüttelte entschieden den Kopf. »Ich habe noch nie erlebt, dass ein so heiliger Zweck mit so teuflischen Mitteln verfolgt wurde. Ich denke, es ist besser für uns alle, ich bleibe in der Nähe und bete.«
»Wie du willst.« Simon öffnete die Tür. Die Zwillinge folgten ihm in die Kammer und ließen Haimon unsanft ins Stroh fallen.
Reginald den Warenne stand mit verschränkten Armen an den Stützpfeiler gelehnt, an welchem seine Kette befestigt war, hatte lässig die Knöchel gekreuzt und blickte auf seinen unfreiwilligen Besucher hinab. »Meine Freunde und ich hätten gern gehört, was Ihr über einen gewissen Kreuzfahrermantel wisst, Monseigneur«, eröffnete er ihm mit kultivierter Stimme und seinem liebenwürdigsten Lächeln. Seine Augen glommen.
Haimon lag gefesselt zu seinen Füßen auf dem Rücken, und als er Regy ins Gesicht sah, erkannte er offenbar, was er vor sich hatte, denn seine Augen quollen hervor, und er bepinkelte sich.
»Versuch, dich zu beherrschen, Regy«, bat Simon. »Es wär zwar nicht besonders schade um ihn, aber tot nützt er uns nichts.«
»Ich weiß, Augenstern. Jetzt verschwinde lieber. Ich kann mir nicht vorstellen, dass das, was ich mir ausgedacht habe, das Richtige für dein zartes Gemüt ist.«
Simon verspürte einen heißen Stich in der Magengegend. Wie kann ich das tun?, fragte er sich auf dem Weg nach draußen. Welch ein Ungeheuer muss ich sein, dass ich so etwas tun kann?
Er hatte die Tür noch nicht ganz geschlossen, als er gedämpft durch den Knebel Haimons ersten Schrei hörte.
Simon, King Edmund, Godric und Wulfric beteten jeweils fünf Paternoster und fünf Ave Maria, ehe Simon mit den Zwillingen hineinging, um Haimon zu fragen, ob er bereit sei zu reden. Haimon war zäher, als sie ihm je zugetraut hätten. Sie mussten zweimal unverrichteter Dinge wieder gehen. Beim dritten Mal waren die Schreie im Innern der Kammer so erbarmungswürdig, dass sie King Edmund packen und festhalten mussten, damit er nicht einschritt, und als sie das nächste Mal durch die Tür traten, war Regys Gesicht eine blutverschmierte Teufelsfratze. Weit weniger blutüberströmt war Haimon, der sich dennoch zusammengekrümmt und jaulend im Stroh von einer Seite auf die andere wälzte und emsig nickte.
»Du weißt, dass mein Vater uns mit offenen Armen aufnehmen würde, oder?«, flüsterte Miriam.
Alan hörte die Sehnsucht in ihrer Stimme. Natürlich vermisste sie ihre Familie, wusste er, vor allem ihren Vater und den kleinen Moses, die vertrauten religiösen Rituale, die den jüdischen Alltag bestimmten, die Synagoge und den Sabbat. Er zog sie näher, bis sie beinah Nase an Nase lagen. Sie hatten sich vor dem Herd auf Gunnilds Küchenboden gebettet. Eine Decke im Stroh musste als Matratze herhalten, eine zweite hatten sie über sich gebreitet.
Alan legte beide Arme um seine Frau. »Früher oder später würde die jüdische Gemeinde deinem Vater zusetzen, wenn er uns aufnimmt. Das sollten wir uns allen lieber ersparen.«
»Also Woodknoll. Und dann?«
»Dort bleiben wir, bis Großmutter, Oswald und King Edmund sich ein wenig eingewöhnt haben. Das wird für keinen von ihnen leicht. Dann gehen du und ich in die Normandie. Ich habe noch Ländereien in Lisieux. Jedenfalls nehme ich das an. Henrys Vater herrscht über das Land, also wird er sie mir wohl nicht vorenthalten. Wenn wir uns eingerichtet haben, holen wir die anderen nach und … werden Normannen.«
Er sagte es ohne großen Enthusiasmus. Er wusste, er hätte dankbarer sein sollen, dass es noch einen Ort auf der Welt gab, den er sein Eigen nennen konnte, aber er war niemals aus England fort gewesen. Die Normandie war nur das Land, aus dem seine Vorfahren stammten. Sie bedeutete ihm nichts.
»Wir gehen also in die Verbannung?«, vergewisserte Miriam sich.
Er seufzte leise. »So fühlt es sich jedenfalls an.«
Die Glut im Herd war abgedeckt, die Läden geschlossen; es war sehr dunkel. Dennoch sahen sie das Weiße in den Augen des anderen leuchten. Alan ergriff eine der dicken, schwarzen Haarsträhnen seiner Frau und strich sich damit über die Wange. Der vertraute Duft ihres Haars hüllte ihn ein, und er atmete tief durch. Er zögerte, weil nur eine dünne Bretterwand sie von der Kammer trennte, in der Gunnild, Oswald und seine Großmutter schliefen.
Miriam fuhr mit den Lippen über seinen Hals. »Wir werden ganz leise sein«, flüsterte sie.
Er nickte, obwohl sie es vermutlich nicht sehen konnte, schob sein Knie zwischen ihre Beine und mit der Rechten ihre Röcke hoch. Gerade wollte er auf sie gleiten, als es polternd an der Tür klopfte. Erschrocken stoben Alan und Miriam auseinander und zogen die Decke hoch. Schon öffnete der Besucher stürmisch die Tür. Alan erkannte, dass trübes, graues Morgenlicht hereinfiel. Es wurde Tag.
»Simon! Was ist passiert?«
Der Junge machte eine beschwichtigende Geste. »Nichts. Na ja, das ist nicht ganz richtig, aber keine neuen Katastrophen. Komm mit, Alan. Und Ihr auch, Madame.« Er weigerte sich, ihr gegenüber auf Förmlichkeiten zu verzichten, denn ihm lag daran, ihr die Ehre zu erweisen, die ihr als Lady Helmsby zustand. Gerade in ihrer prekären Lage finde er das wichtig, hatte er Alan erklärt.
Der setzte sich auf. »Wohin?«
»Auf die Burg.« Als Alan etwas einwenden wollte, hob er die Hand – untypisch entschieden. »Stell mir keine Fragen. Komm einfach. Ich glaube, du wirst es nicht bereuen.«
Auch auf dem Pfad durch das Wäldchen zwischen Dorf und Burg ließ Simon sich nichts entlocken, und so legten sie die halbe Meile schweigend und eiligen Schrittes zurück.
Die bischöflichen Soldaten hatten beide Tore besetzt, aber seltsamerweise erhoben sie keine Einwände, als Simon die Verbannten in den Hof führte. Helmsby Castle erwachte gerade. Im Kuhstall wurde gemolken, und eine Magd holte die Eier aus dem Hühnerhaus. Ihr Korb war fast leer, denn es war spät im Jahr.
In der Halle bot sich ihnen ein höchst sonderbares Bild: Anselm de Burgh, der ehrwürdige Subprior von Norwich, saß allein an der hohen Tafel, die mit einem Mal wie eine Richterbank wirkte, und blickte mit ausdrucksloser Miene auf Haimon de Ponthieu, der vor ihm stand wie ein armes Sünderlein: das Haar zerzaust, die Kleider in Unordnung, besudelt mit Dreck und – so schien es Alan – Blut.
»Was geht hier vor?«, fragte Alan verwirrt, nahm Miriam bei der Hand und führte sie langsam nach vorn.
Simon ging neben ihm her. »Dein Cousin hat dir etwas zu sagen. Uns allen, um genau zu sein.«
Sie stiegen auf die Estrade, setzten sich aber nicht zu de Burgh an den Tisch.
Alan betrachtete seinen Cousin, und mit einem Mal fühlte es sich an, als trüge er einen heißen Stein im Magen. Haimons Gesicht wirkte krank, unnatürlich bleich im Kontrast zu dem dunklen Bartschatten. Er zitterte und konnte sich kaum auf den Beinen halten. Alan war lange genug im Krieg gewesen, um genau zu wissen, was er hier sah. Sprachlos wandte er sich an Simon.
Der junge Mann war die Ruhe selbst. »Ja, ich weiß, Alan«, sagte er. »Aber es ging nicht anders. Und er hatte es selbst in der Hand, welchen Preis er zahlt. Regy hat erstaunlich lange gebraucht, die Wahrheit aus ihm herauszuholen. Und das ist kein Wunder.« Angewidert zeigte er mit dem Finger auf Haimon. »Was er getan hat, würde niemand gern gestehen. Na los, Monseigneur«, forderte er ihn rüde auf. »Seht Eurem Cousin in die Augen und wiederholt, was Ihr uns letzte Nacht erzählt habt.«
Haimon musste eine Vierteldrehung machen, um Alan ins Gesicht schauen zu können, und geriet dabei ins Wanken. Aber er fing sich wieder. »Ich kam nach Helmsby und hörte von Großmutter, dass du mutterseelenallein aufgebrochen warst, um Geoffrey de Mandeville zu jagen. Sie war ja so stolz auf dich.« Ein bitteres kleines Lächeln flackerte über seine Züge. »Aber ebenso in Sorge, denn du warst schon ein Weilchen fort, und niemand hatte von dir gehört. Also hat sie mir in den Ohren gelegen, dich zu suchen. Und ich … bin losgeritten und hab es getan. Vier, fünf Tage habe ich mit meinen Leuten die Fens durchkämmt. Und schließlich habe ich dich gefunden.«
Er brach ab.
Oh mein Gott, Haimon, dachte Alan erschüttert. Bitte nicht. Aber sein Entsetzen war ihm nicht anzuhören, als er fragte: »Wo?«
Ein kleiner Blutfleck hatte sich auf Haimons Brust gebildet, ein weiterer auf der Schulter, und sie wuchsen. »In einem Geisterdorf. Alles verbrannt, überall grässlich verstümmelte Leichen. Du knietest in einem Bach – von Kopf bis Fuß durchnässt –, und du hattest ein totes kleines Mädchen in den Armen. Bist du sicher, dass du den Rest hören willst?«, fragte er mit einem Anflug von Hohn.
Alan war sich alles andere als sicher, aber er nickte.
»Du … du hast sie gewaschen. Und auf sie eingeredet. Du warst … vollkommen wahnsinnig. Und als ich zu dir kam, wusstest du nicht, wer ich bin. Ich hab dich angesprochen. ›Alan, was ist denn nur passiert, Cousin‹, hab ich zu dir gesagt. Du hast nicht geantwortet. Du warst … in einer ganz anderen Welt.« Er verstummte.
»Und was geschah weiter?«, fragte Anselm de Burgh. Es klang äußerst streng. Seine Sympathie für Haimon schien sich seit dem gestrigen Abend ein wenig abgekühlt zu haben.
Haimon fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. Alan nahm einen Weinbecher vom Tisch und reichte ihn ihm am lang ausgestreckten Arm. Haimon nickte zerstreut, nahm den Becher in beide Hände und trank. Ein wenig rann ihm übers Kinn, denn das Zittern hatte sich verschlimmert. Haimon stand unter Schock, wusste Alan.
»Du warst verwirrt und offenbar zutiefst erschüttert, aber nicht rasend, im Gegenteil. Du hast nicht einmal protestiert, als ich dir das tote Kind weggenommen habe. Nur geflennt wie ein Bengel, sonst nichts. Du warst mir so unheimlich, dass ich dich schließlich angebrüllt hab: ›Nimm dich zusammen, Alan of Helmsby.‹ Und du hast mich angeschaut und gefragt: ›Wer soll das sein?‹. Da war mir klar, dass du vergessen hattest, wer du bist. Und das … war der glücklichste Moment in meinem Leben, Alan.« Er hob beinah resigniert die Schultern. »Du warst praktisch ausgelöscht. Endlich war ich dich los. Und ich wusste sofort, was ich tun musste. Einer von Gloucesters Männern hatte mir von St. Pancras erzählt. Es schien mir der perfekte Ort für dich, verrückt, wie du warst. Ich habe dich an einen Baum gebunden. Es war nicht einmal schwierig, du warst völlig willenlos. Dann bin ich nach Fenwick geritten, es war nicht weit von dort, und habe Großvaters Kreuzfahrermantel geholt.«
»Woher hattest du ihn?«, fragte Alan, auch wenn es keine Rolle spielte.
»Er war ein Erbstück. Und er stand mir zu, Alan, denn meine Mutter war die ältere Schwester deiner Mutter. Er stand mir zu genau wie Helmsby. Aber anders als Helmsby habe ich den Mantel auch bekommen. Als ich am nächsten Tag zurückkam, hatte dein Zustand sich verschlechtert. Du hattest Fieber. Ich war nicht einmal sicher, ob du noch lebend in Yorkshire ankommen würdest. Aber ich habe dir den Mantel umgehängt und dich auf ein Pferd gesetzt, und so … kamen wir nach St. Pancras. Ich habe mich den Mönchen unter falschem Namen vorgestellt und gesagt, ich hätte keine Ahnung, wer du bist.« Wieder zuckte er müde die Schultern. »Und das war alles.«
Es war lange still in der Halle. Alan fiel einfach nichts ein, was er hätte sagen können. Drei Jahre. Drei Jahre seines Lebens hatte Haimon ihm gestohlen, hatte ihn ohne Namen und Identität in der Fremde ausgesetzt, ihn dem Exorzismus preisgegeben, der Insel, der Kälte, dem Hunger und der Finsternis. Ihr vor allem. Was konnte man da noch sagen?
Schließlich ergriff Anselm de Burgh das Wort und zeigte zum ersten Mal, seit Alan ihn kannte, einen Funken Anstand. »Es ist unschwer zu erkennen, dass dieses Geständnis Euch unter Zwang abgepresst wurde, mein Sohn. Wenn ich Euch mein Wort gäbe, dass Ihr nichts weiter zu befürchten habt, würdet Ihr es widerrufen?«
Aber Haimon schüttelte den Kopf, und es war Alan, den er ansah, als er sagte: »Ich habe es getan, weil ich einen Anspruch auf Helmsby habe. Es war meine einzige Chance, ihn geltend zu machen. Aber was ich getan habe, hat schwer auf mir gelastet. Ich bin froh, dass es heraus ist. Dass es vorbei ist.«
Vater Anselm war nicht nur Mönch, Priester und Prior, er war vor allem auch Politiker. Und ein kluger Politiker wusste, wann ein Verbündeter nicht mehr zu halten war. Er lehnte sich in seinem Sessel zurück, fast so, als wolle er sich körperlich von Haimon distanzieren, und erklärte kühl: »Das ändert die Situation grundlegend. Ihr werdet gewiss verstehen, dass ich Euch im Lichte dieser Erkenntnisse die Unterstützung des Bischofs und seiner Truppen entziehen muss.« Er stand auf. Mit einem Mal schien er in Eile. »Wir rücken in einer Stunde ab«, teilte er einem seiner Hünen mit. »Sorgt dafür, dass die Truppe bereit ist.« Dann trat er zielstrebig zu Alan. »Die Exkommunikation bleibt bestehen, bis Ihr in Reue und ohne ein ungläubiges Weib in den Schoß der Kirche zurückkehrt. Auch Stephens Enteignungsurkunde kann ich nicht entkräften. Es obliegt indessen Euch allein, ob Ihr sie anerkennen wollt.«
»Denkt nur, Vater, ich will nicht«, teilte Alan ihm frostig mit. »Und nun wäre ich dankbar, wenn Ihr meine Halle verlassen wolltet.«
De Burgh nickte würdevoll und schritt zur Tür, ohne Haimon noch eines Blickes zu würdigen.
Alan wandte sich an Simon, sah ihm einen Moment in die Augen und umarmte ihn dann. »Simon …«
»Nein«, wehrte der junge Mann verlegen ab. »Es ist nicht nötig, dass du es sagst. Ich habe nur getan, was du für mich getan hast.«
Alan ließ ihn los. »Woher wusstest du es?«
Simon nickte zu Haimon hinüber. »Etwas, das er gestern Abend gesagt hat. Er könne dich nicht töten, weil du sein Cousin seiest, und er wolle sich lieber an der Vorstellung erfreuen, wie du in den Fens erfrierst oder so ähnlich. Da wusste ich auf einmal, was er getan hatte.«
Haimons Beine trugen ihn nicht länger, und er fiel hart auf die Knie. Der Weinbecher, den er immer noch in der Linken hielt, rutschte ihm aus den Fingern und rollte ins Stroh. Dann sank Haimon zur Seite und blieb liegen.
Miriam wollte zu ihm treten, aber Alan ergriff ihre Hand, sah sie an und schüttelte kurz den Kopf. Simon beugte sich über die reglose Gestalt am Boden und fühlte das Herz. »Er ist ohnmächtig.«
Alan blickte noch einen Moment auf seinen Vetter hinab. »Dann kann ich nur hoffen, dass er bald wieder zu sich kommt. Meine Frau und ich gehen ins Dorf, um meine Großmutter und Oswald zu holen. Sei so gut, sag Haimon und seiner Cousine, ich sei in einer Stunde zurück. Wenn sie dann noch hier sind, töte ich sie. Alle beide.«
Erwartungsgemäß waren bei ihrer Rückkehr nicht nur die Besatzungstruppen, sondern auch Haimon und Susanna aus Helmsby verschwunden.
Alan, Simon und die Zwillinge sprachen mit den Wachen und den neuen Knappen, die Alan auf Guillaumes Drängen hin in seinen Haushalt geholt hatte und im Waffenhandwerk ausbildete, und sie stellten einen neuen Dienstplan auf. Die Zugbrücke sollte fortan geschlossen bleiben. Alan wollte nie wieder so böse überrascht werden.
Er redete auch mit seiner Großmutter, dem Steward und dem Gesinde. Sie alle waren mit dem Schrecken davongekommen. Die Soldaten des Bischofs hatten sich manierlicher benommen als alle, die Alan je befehligt hatte, musste er einräumen.
Als er es schließlich nicht länger aufschieben konnte, stieg er in die Turmkammer hinauf.
Es dämmerte schon, und er hatte eine Fackel mitgenommen. Bräunlich rot leuchteten die Blutflecken im Stroh, als ihr Licht darauf fiel.
Regy hockte an seinem üblichen Platz an der Wand, die Knie angezogen, das Kinn auf die verschränkten Arme gestützt.
Alan steckte die Fackel in einen Ring an der Wand. »Reginald.«
»Mylord.«
»Wie ich höre, bin ich dir zu Dank verpflichtet. Ich kann nicht sagen, dass die Vorstellung mich sonderlich erfreut.« Er lehnte sich neben der Tür an die Wand und kreuzte die Arme vor der Brust.
Regy winkte ab. »Ich verzichte auf deine Dankbarkeit. Du weißt wahrscheinlich, dass ich seit Robert keinen solchen Spaß mehr hatte. Dein Cousin war ein richtig zäher Bursche. Er hat erst geredet, als ich gesagt hab, ich würde ihm die Eier abbeißen …«
»Erspar mir die Details, sei so gut.«
Regy lachte in sich hinein. Der altbekannte Mutwille funkelte in seinen Augen, und seine Körperhaltung wirkte entspannt.
»Bist du wirklich gekommen, um mir deine Dankbarkeit zu beweisen?«, fragte er schließlich.
Alan wollte schlucken und musste feststellen, dass er nicht konnte. »Ja.«
»Dann lass dich nicht aufhalten.«
»Regy … Es muss nicht so enden. Ich könnte dich nach Norwich zu Josua ben Isaac bringen. Du wärst eingesperrt wie hier, sicher, aber sie würden dich in den Garten lassen und …«
»Wie ein Schoßhündchen?«, unterbrach Regy schneidend.
»Du … du kannst auch hierbleiben. Solange du willst. Du musst dich nicht heute entscheiden, verstehst du, ich meine …«
»Oh, bitte, Alan. Das ist erbärmlich. Du bist hergekommen, um dich für die Gefälligkeit erkenntlich zu zeigen, die ich dir erwiesen habe. Aber jetzt willst du dich drücken, mir den einzigen Dienst zu erweisen, an dem mir gelegen wäre. Weil du mich mit von der Insel genommen hast. Du bist so stolz auf diesen Beweis deiner angeblichen Barmherzigkeit, dass du dich scheust, die Tat rückgängig und damit sinnlos zu machen.«
Alan schüttelte den Kopf. »Das ist es nicht allein. Aber all die ertrunkenen Gefährten auf der Insel. Dann Luke. Jetzt du. Wir werden immer weniger. Es ist, als hätten diese verfluchten Mönche gewonnen, die uns vom Angesicht der Erde verschwinden lassen wollten, verstehst du das nicht?«
»Nein«, entgegnete Regy verdrossen. »Es gibt kein ›Wir‹. Ich habe nie dazugehört, und seit deiner Genesung gehörst auch du nicht mehr dazu.«
»Du weißt genau, dass das nicht stimmt.«
Regy hob abwehrend die Linke. »Es spielt keine Rolle. Ich muss euch jetzt verlassen. Mein Onkel Geoff ist tot, ich habe nichts mehr zu tun. Wenn du zu feige bist, mach ich es eben selbst, ich finde schon einen Weg …«
»Willst du nicht wenigstens beichten?«, fragte Alan beinah flehend.
Regys Mundwinkel zuckten, und er gluckste. »Ach herrje, das würde Jahre dauern, mein Bester.« Schlagartig wurde er wieder ernst. »Wenn du nur für eine einzige Stunde ich sein könntest, sehen, was ich sehe, fühlen, was ich fühle, denken, was ich denke, dann würdest du verstehen, dass die Hölle keinen Schrecken für mich birgt.«
Alan nickte, zog das Schwert und legte die Linke hinter der Rechten ans Heft. »Knie dich hin.«
Bereitwillig richtete Regy sich auf die Knie auf und griff kurz an sein Halseisen. »Ziel anständig.«
»Natürlich.«
Regy schloss die Augen. »Komm nicht auf die Idee, mich in geweihter Erde zu verscharren. Ich fände keine Ruhe. Außerdem bin ich exkommuniziert, genau wie du, auch das haben wir gemeinsam, nur im Gegensatz zu dir piss ich mir deswegen nicht ins …«
Alan schlug zu und trennte eine Haaresbreite oberhalb des Halseisens den Kopf vom Rumpf. Es war eine echte Präzisionsarbeit. Der Kopf schlug mit beträchtlicher Wucht gegen die Mauer, und das Halseisen fiel klirrend ins Stroh.
Alan kehrte dem Anblick abrupt den Rücken, wischte sich mit dem Ärmel über die Augen und knurrte: »Jetzt hältst du endlich mal die Klappe, Regy.«