Norwich, April 1147
»Schert euch weg«, befahl der Torwächter. »Bettler, Krüppel und hungrige Köter haben wir weiß Gott genug in der Stadt.«
King Edmund baute sich vor ihm auf. Seine Statur war nicht sonderlich beeindruckend, seine Missbilligung hingegen schon. »Du solltest dich besinnen, mein Sohn«, riet er streng. »Ich komme aus dem Kloster St. Pancras, das weit fort von hier in Northumbria liegt. Der ehrwürdige Abt schickt mich mit diesen bedauernswerten Kranken zum ehrwürdigen Prior des hiesigen Klosters, der ein berühmter Heiler sein soll, um seinen Rat einzuholen, was wir für sie tun können.«
Der Torwächter, ein alter Haudegen mit gefurchter Stirn und einer roten Knollennase, ließ den Blick abschätzig über das abgerissene Häuflein schweifen. »Wie wär’s mit Notschlachten?«, schlug er dann vor.
Sein Kamerad, ein junger Kerl in einem viel zu weiten Kettenhemd, prustete los, schlug sich aber schuldbewusst die Hand vor den Mund, als Edmunds Blick auf ihn fiel.
Losian trat einen Schritt vor. Er nahm die Kette kurz, sodass Regy neben ihm einherstolperte. Der stieß einen zischenden Fluch aus und bedachte Losian mit einem Blick blanker Mordgier.
»Ich bin zufällig mit dem guten Bruder zusammen gereist«, erklärte Losian dem alten Wachmann. »Mein Auftrag ist es, diesen Mann hier dem Sheriff zu übergeben, denn er ist ein Mörder und sehr gefährlich.«
Die Verächtlichkeit des Wächters wich einer beinah unterwürfigen Verbindlichkeit, die, so wusste Losian, allein seinen feinen Kleidern und Waffen geschuldet war.
»Ihr könnt selbstverständlich passieren, Mylord«, versicherte der Torhüter.
Losian schüttelte knapp de Kopf. »Wir werden alle passieren, Freundchen, oder ich bringe dieses Ungeheuer in Menschengestalt in eure Stadt und lass es dort los. Dann sind eure Straßen morgen früh ein See aus Blut, ich schwör’s bei Gott.«
Die Wächter tauschten einen Blick. Verstohlen begutachteten sie Regy aus dem Augenwinkel, der sich einen Spaß daraus machte, die Zähne zu fletschen und zu knurren wie ein Wolf. Es war eine alberne Posse, aber es reichte, um die Torwachen zu überzeugen.
»Also schön«, brummte der Alte und winkte sie angewidert durch. »Aber macht hier ja keinen Ärger.«
Erleichtert durchschritten die Wanderer das mächtige hölzerne Stadttor und schauten sich mit großen Augen um.
Losian hatte keinerlei Erinnerung daran, je in Norwich oder einer anderen Stadt gewesen zu sein, aber das musste er wohl, denn er empfand weder den Schrecken, der sich beinah komisch auf den Gesichtern der Zwillinge abzeichnete, noch die moralische Entrüstung, die King Edmunds Miene ausdrückte.
Dicht an dicht standen hölzerne Wohnhäuser und Kirchen entlang der schlammigen Straße, die vom Stadttor zum Fluss führte. Wohin man blickte, sah man Menschen, und alle schienen eilig und geschäftig. Die Laufburschen der vielen Tuchmacher lieferten mit Handkarren ihre Waren aus. Zwei prachtvoll gekleidete Bürger kamen hoch zu Ross daher, die elegant behüteten Köpfe zusammengesteckt und offenbar in ein wichtiges Gespräch vertieft. Eine ärmliche Schar betrat eine ebenso ärmliche kleine Kirche zur Vesper.
Es war nicht einmal der Gestank von so vielen Menschen und ihrem Vieh, den Losian überwältigend fand, sondern vielmehr der Lärm, den sie verursachten. Rumpelnde Karrenräder, das Läuten einer Glocke, das gewiss von der Klosterkirche kam, Hufschlag, Quieken von Schweinen, Meckern von Ziegen und Gackern von Hühnern und lauter als alles andere das Gewirr menschlicher Stimmen, das von den Straßen selbst aufzusteigen und aus jedem Haus zu kommen schien. Hin und wieder hob sich ein Laut über die anderen hinweg, wie das schrille Lachen eines Kindes oder ein Ausruf des Zorns, doch meist vermischte sich alles zu einem undefinierbaren Getöse.
King Edmund bekreuzigte sich langsam. »Gott und der Herr Jesus Christus mögen uns beistehen.«
»Oh, nun komm schon«, schalt Simon und sah sich mit erwartungsvoll leuchtenden Augen um. »So schlimm ist es auch wieder nicht.«
»Und wohin jetzt?«, fragte Wulfric. Er tätschelte Grendel beruhigend den Zottelkopf, denn der große Hund drängte sich mit eingeklemmtem Schwanz an seine Herrn. Er schien die Stadt noch weniger zu mögen als King Edmund.
»Ins Kloster«, antwortete dieser und zeigte in die Richtung, aus welcher der Glockenklang kam.
»Du weißt, wie ich darüber denke«, entgegnete Losian. »Aber wenigstens zur Klosterkirche sollten wir gehen, denn dort können wir betteln.«
»Einen schönen Bettler gibst du ab in de Laigles feinem Bliaut«, spottete Regy.
Losian wusste selbst, dass er Argwohn erregen würde. Und er war auch keineswegs sicher, dass er in der Lage war, sich vor einer Kirche in den Staub zu hocken und den Betern, die aus dem Gotteshaus kamen, flehend die Hand entgegenzustrecken. Aber es war drei Tage her, dass sie in dem niedergebrannten Dorf kampiert hatten, und seither hatte keiner von ihnen etwas gegessen. Der Hunger, nahm er an, würde ihn schon demütig genug machen, um zu betteln.
»Los, bewegt euch, wir erregen Aufsehen«, murmelte Simon.
»Aber wieso nur?«, fragte Regy und sah sich herausfordernd um. »Was glotzt du denn so, du hässliche Vettel?«, schnauzte er eine Frau in ärmlichen Kleidern an, die stehen geblieben war, um sie zu begaffen.
Losian ruckte an der Kette. »Vergebt ihm, Mistress, er kann einfach nicht anders.« Hastig zerrte er Regy die Straße entlang, und die anderen folgten.
Sie kamen an eine Straßenkreuzung. Rechts führte ein Weg zu der großen steinernen Festung, die Losian für sein Leben gern sehen wollte. Geradeaus ging es weiter zum Fluss und dem Zentrum der großen Stadt, wo das Kloster mit der neuen Kirche lag. Sie sei noch nicht ganz fertig, hatte Simon erzählt, aber bereits geweiht und weit über die Stadtgrenzen hinaus für ihre Pracht und Schönheit berühmt. Der wundervolle weiße Kalkstein, aus dem sowohl die Kathedrale wie auch die Burg gebaut waren, sei eigens aus Caen in der Normandie hergeschafft worden. Losian hatte die vage Hoffnung, dass er selbst, der Junge und vielleicht sogar die Zwillinge auf der Baustelle Arbeit finden würden.
»Losian«, rief Wulfric hinter ihm; es klang erschrocken.
Losian wandte sich um. Die Zwillinge waren stehen geblieben und beugten sich über Oswald, der zusammengekrümmt im Straßenstaub lag.
»Was denn, die nächste Ohnmacht?«, fragte Regy ungläubig. »Ihr seid schlimmer als eine Schar Novizinnen …«
Losian zerrte ihn mit sich zurück, warf Wulfric die Kette zu und kniete sich hin. »King Edmund, schnell.«
Oswald hatte die Augen zugekniffen und die linke Hand auf die Brust gepresst. Schweiß stand auf seiner Oberlippe, und er stöhnte.
Edmund hockte sich neben Losian. »Was ist mit ihm?«
»Ich weiß es nicht«, murmelte Losian gedämpft. »Es sieht beinah aus wie bei Simon.«
»Nein«, widersprach dieser. »Er krampft nicht. Er krümmt sich, weil er Schmerzen hat.«
Losian legte Oswald die Hand auf die Schulter. »Was hast du, mein Junge?«
Oswald schlug die Augen auf und sah ihn an. Er konnte nicht sprechen, aber in seinem Blick lag ein Flehen, das Losian die Kehle zuschnürte.
»Lasst ihn uns zum Kloster tragen«, schlug King Edmund vor, scheinbar die Ruhe selbst. »Wenn irgendwer ihm helfen kann, dann die Brüder dort.«
Losian zögerte. Er wusste, sie hatten jetzt keine Zeit, das ewig gleiche Streitgespräch über Klöster zu führen, aber an seinen Bedenken hatte sich nichts geändert.
»Kann ich Euch vielleicht behilflich sein?«, fragte eine fremde Stimme auf Normannisch.
Losian fuhr herum und blinzelte verwundert. Vor ihm stand eine höchst seltsame Erscheinung: ein Mann in einem langen, dunklen Gewand mit einem bärtigen Gesicht, langen Haarsträhnen vor den Ohren und einem eigentümlich spitzen Hut. Die dunklen Augen verharrten nur einen Moment auf Losian, ehe der Blick sich auf Oswald richtete.
»Wir könnten weiß Gott Hilfe gebrauchen«, antwortete Losian. »Dieser Junge hier ist völlig entkräftet und hat …«
Der Mann mit dem eigentümlichen Hut hob eine Hand, um ihn zum Schweigen zu bringen, kniete sich neben Oswald auf die Erde und drückte sein Ohr auf dessen Brust. Das wird immer sonderbarer, dachte Losian und versuchte das Gefühl von Unwirklichkeit abzuwehren, das ihn beschleichen wollte.
Der Fremde hob den Kopf. »Es ist sein Herz«, erklärte er knapp. »Schnell. Hebt ihn auf und folgt mir.«
Losian schob einen Arm unter Oswalds Knie, einen unter seine Schultern und hob ihn hoch. Es ging besser als erwartet. Sie alle waren mager geworden, aber Oswald, so kam es ihm mit einem Mal vor, war ausgemergelter als alle anderen. Er schien kaum mehr als ein Kind zu wiegen. »Na los, kommt schon«, raunte er den anderen zu. »Pass ja auf die Kette auf, Wulfric.«
Dann folgte er dem seltsamen Mann, der die Straße Richtung Burg eingeschlagen hatte.
»Losian, weißt du, was für ein Kerl das ist?«, protestierte King Edmund gedämpft, der neben ihm herlief.
»Was meinst du?«
»Er meint, dass Oswalds Wohltäter ein Jude ist«, mischte Regy sich ein. »Und die Angelsachsen halten keine großen Stücke auf die Juden, weil sie glauben, das Blut Jesu Christi klebe an ihnen.« Er hatte Normannisch gesprochen und sich keinerlei Mühe gegeben, die Stimme zu senken.
Doch der jüdische Mann, der mit eiligen Schritten vor ihnen einherging, gab durch nichts zu erkennen, ob er ihn verstanden hatte. Er führte sie ein Stück Richtung Burg, bog dann nach rechts in eine Gasse und hielt vor einem großzügigen, solide gebauten Haus. Im Türpfosten war eine kleine, viereckige Öffnung, die er mit den Fingern der Rechten berührte, die er dann mit ein paar fremdländischen gemurmelten Worten kurz an die Lippe führte. Erst als er den Riegel zurückzog und die Tür öffnete, sagte er zu Regy: »Es gibt auch genügend Normannen, die das glauben.« Seine Stimme war vollkommen ausdruckslos, genau wie seine Miene.
Regy schenkte ihm ein schauriges Lächeln. »Nun, falls es so ist, nehme ich Euch nichts übel.«
»Halt endlich die Klappe«, knurrte Losian. Ein wenig linkisch wegen der Last in seinen Armen verneigte er sich vor ihrem Gastgeber. »Ich bitte um Vergebung.«
»Legt den Jungen da vorn auf das Lager«, bekam er zur Antwort.
Losian sah in die gewiesene Richtung und entdeckte in einem Alkoven neben einem kleinen Herd ein Bett mit einer wollenen Decke darauf. Er legte Oswald darauf nieder und trat zurück, um dem Mann Platz zu machen. Dann fiel ihm etwas ein, das er offenbar irgendwann einmal über Juden gehört hatte – vermutlich im Heiligen Land. »Seid Ihr ein …« Wie hieß doch das Wort gleich wieder? »Arzt?«
»So ist es. Josua ben Isaac.«
Losian rätselte über diese letzten Worte und erkannte mit einiger Verspätung, dass der Mann sich ihm vorgestellt hatte. Er wusste überhaupt nicht, wie er diese seltsame Situation handhaben sollte, wie diesem unheimlichen Fremden begegnen, aber er erwies ihm zumindest die gleiche Höflichkeit. »Man nennt mich Losian.«
Josua ben Isaac ignorierte ihn vollkommen. Er hatte das Ohr wieder an Oswalds Brust gepresst und lauschte. »Das ist nicht gut«, murmelte er vor sich hin. Er beugte sich über Oswalds Gesicht und fächelte mit der Hand, als wolle er den Atem des Kranken schnuppern, horchte seinem rasselnden, mühsamen Keuchen, fühlte seine Hände und die Stirn. Ohne Oswalds Hand loszulassen, sagte er zu Losian: »Sein Herz ist schwach. Viele Menschen, die mit seinem Gebrechen geboren werden, haben ein schwaches Herz. Ich weiß nicht, wieso. Hat er vielleicht eine große Anstrengung vollbracht? Oder hatte er ein zehrendes Fieber?«
»Wir sind seit Wochen auf Wanderschaft«, erklärte Losian. »Ihn hat es mehr angestrengt als die anderen.«
Josua nickte knapp. »Natürlich. Weil sein Herz viel schneller schlagen muss als Eures. Er braucht Ruhe, Schonung und Nahrung. Ich kann ihm ein Stärkungsmittel geben, aber es ist gut möglich, dass er trotzdem stirbt.«
Losian verließ sich auf seine Intuition, so wie er es beim Schwertkampf mit de Laigle getan hatte. »Tut, was Ihr für richtig haltet, Josua ben Isaac. Aber ich kann Euch Euer Stärkungsmittel nicht bezahlen.«
Ein humorloses Lächeln huschte über das zerfurchte Gesicht. »Fürs Erste will ich nur Euer Wort, dass Ihr nicht Euer Schwert gegen mich zieht, falls der Junge stirbt.«
»Ihr habt mein Wort.«
»Dann gesellt Euch zu Euren interessanten Freunden und lasst mich meine Arbeit machen.«
Losian trat beiseite, um ihn nicht zu stören, und weil ihm ein bisschen vor den Zaubersprüchen gruselte, die der Arzt gewiss vor sich hinmurmeln würde. Doch Josua ben Isaac tat nichts dergleichen. Genau wie die Zwillinge, Simon, King Edmund, Regy und Luke sah Losian fasziniert zu, während der jüdische Arzt Oswald behutsam die Brust massierte. Der Kranke schien ein wenig ruhiger zu atmen, und die beängstigende Blautönung seiner Haut ging zurück.
Josua ben Isaac wandte sich ab und füllte einen Zinnbecher zur Hälfte mit rotem Wein aus einem Krug auf dem Tisch neben der Tür. Dann holte er einen kleinen irdenen Topf von einem Wandbord, wo mindestens zwei Dutzend weiterer Gefäße ordentlich aufgereiht standen. Der Topf war mit einem Stück Leder verschlossen, das fest gespannt und mit Schnur umwickelt war, sodass es dicht saß. Der Jude öffnete den Verschluss, entnahm dem Topf eine winzige Prise eines gräulichen Pulvers und streute es in den Wein.
»Losian, ich weiß nicht …«, zischte King Edmund skeptisch.
Oswald teilte seine Meinung offenbar, denn als Josua seinen Kopf anhob und ihm den Wein einflößen wollte, fing er leise an zu jammern und drehte den Kopf weg. Der Arzt sprach beruhigend auf Normannisch zu ihm, aber Oswald konnte ihn nicht verstehen und wurde immer ängstlicher.
Losian trat hinzu. »Vielleicht wäre es besser, Ihr ließet mich das machen«, schlug er vor.
Josua nickte und drückte ihm den Becher in die Hand.
Losian hockte sich neben dem Lager auf den sauber gefegten Dielenboden und legte die Linke auf Oswalds Hand. »Es ist ein Trank, von dem dir besser wird«, erklärte er leise.
»Der Mann sieht gruselig aus«, murmelte Oswald.
»Aber er will dir helfen«, versicherte Losian. »Hier, schau her.« Er führte den Becher an die Lippen und nahm einen winzigen Schluck. Guter Wein, bemerkte er flüchtig, wenn auch mit einem bitteren Beigeschmack. »Siehst du? Du kannst es trinken, Oswald, du hast mein Wort.« Er stützte den Kopf des Kranken und setzte den Becher an. Dieses Mal öffnete Oswald die Lippen, und Losian kippte ein wenig schneller, als vernünftig war, damit der Trank herunter war, ehe der Junge die Bitterkeit bemerkte.
Oswald verzog das Gesicht, protestierte aber nicht. Seine Augen fielen schon wieder zu. Er war am Ende seiner Kräfte.
Losian drückte ihm kurz die Hand. »Davon wird dir besser, du wirst sehen. Du kommst im Handumdrehen wieder auf die Beine.«
Er stand auf und gab Josua ben Isaac den Becher zurück. »Habt Dank.«
Der Arzt winkte ab. »Morgen früh werden wir wissen, ob es geholfen hat. Ist es noch weit bis ans Ziel Eurer Reise?«
»Unsere Reise hat kein Ziel«, gestand Losian untypisch freimütig. Es war gerade die Fremdartigkeit dieses Mannes, die es ihm leicht machte, ihm zu trauen.
Josua zog die buschigen Brauen in die Höhe. »Das heißt, Eure Reise ist eine Flucht?«
Losian sah ihm in die Augen. »Ja. Aber es ist nicht das Gesetz, vor dem wir fliehen.«
Der jüdische Arzt ließ den Blick über die seltsamen Wanderer schweifen und schien ein paar Schlüsse zu ziehen. »Ich verstehe.«
»Seid so gut und sagt mir, was ich tun kann, um mich für Eure Hilfe erkenntlich zu zeigen, Josua ben Isaac, und wenn es getan ist, werden wir weiterziehen und Euch nicht länger behelligen.«
Josua lächelte, und um seine Augen bildeten sich Kränze tiefer Falten, die ihm etwas unerwartet Verschmitztes verliehen. »Was Ihr für mich tun könnt, ist, genau das nicht zu tun. Seid ein paar Tage meine Gäste. In diesem Haus ist reichlich Platz, denn mein Bruder, mit dem ich es teile, ist mit meinem Sohn auf Reisen. Ruht Euch ein wenig aus und sammelt neue Kräfte.«
»Wozu?«, fragte Regy argwöhnisch und reckte angriffslustig das Kinn vor. »Was wollt Ihr mit einem Haufen Krüppel und Narren in Eurem Haus?«
Losian ruckte an der Kette. »Ich hab dir gesagt, du sollst die Klappe halten.«
Regy fuhr wütend zu ihm herum. »Aber ich lass mir von dir nicht den Mund verbieten, und ich lasse mich auch nicht herumzerren wie ein verfluchter Kettenhund, du erbärmlicher Schwachkopf!«
Josua zeigte sich von dem rüden Austausch gänzlich unbeeindruckt. »Euer Freund hat recht«, eröffnete er Losian.
»Er ist alles andere als mein Freund, glaubt mir«, stieß der hervor.
»Nun, wie dem auch sei. Meine Einladung ist mit einer Bedingung verknüpft.«
»Und zwar?«
»Ich möchte Euch und jeden Eurer Gefährten untersuchen.«
Losian schwieg, unsicher, was »untersuchen« zu bedeuten hatte.
Der Arzt schien seine Gedanken zu erraten. »Ihr habt mein Wort, es ist harmlos und geht ohne Blutvergießen vonstatten«, versicherte er mit einem Hauch von Spott.
Losian lächelte beschämt. »Gestattet mir, das mit meinen Gefährten in ihrer Sprache zu erörtern.«
»Gewiss.«
Simon, Godric und Wulfric waren dafür. Luke war skeptisch, folgte aber wie üblich Losian, der sich ebenfalls dafür aussprach, die seltsame Einladung anzunehmen. »Wenn irgendetwas passiert, was uns nicht geheuer ist, können wir jederzeit verschwinden«, hielt er den Zweiflern entgegen. »Was riskieren wir schon?«
King Edmund war erwartungsgemäß strikt dagegen. »Unser Leben und unser Seelenheil«, antwortete er gedämpft und warf Josua so misstrauische Blicke zu, dass der mit Sicherheit ahnte, was der hagere Angelsachse sagte, selbst wenn er die Worte nicht verstand. »Diese Menschen sind unrein und sündig. Es ist eine Falle, glaub mir. Sie führen grauenhafte Riten durch, bei denen sie Christenblut trinken.«
Losian wurde ein wenig unbehaglich. »Woher weißt du das?«
Die Frage schien King Edmund aus dem Konzept zu bringen. Er überlegte einen Moment, dann winkte er ärgerlich ab. »Das weiß doch jeder«, behauptete er.
Losian betrachtete ihn kopfschüttelnd. »Dummes Gerede, nichts weiter«, gab er abschätzig zurück.
»Das ist es nicht!«
»Wir bleiben«, beschied Losian mit mehr Überzeugung, als er tatsächlich empfand. »Wenn wir jetzt weiterziehen, ist Oswald morgen früh tot. Er braucht Ruhe, und wir alle brauchen etwas zu essen.«
»Da hat er recht, Edmund«, meldete Luke sich angstvoll zu Wort. »Sonst wacht sie auf. Ich will nicht, dass sie aufwacht.«
Regy, dem es vollkommen gleichgültig zu sein schien, ob sie blieben oder weitergingen, verschränkte die Arme und bedachte Edmund mit einem herablassenden Lächeln. »Jetzt stehst du allein da, Heiligkeit.«
King Edmund war zu beunruhigt, um sich gebührend zu entrüsten. Denn es stimmte: Er war der Einzige, der nicht in diesem Haus bleiben wollte, und vermutlich wusste er, dass er seine Gefährten nicht überzeugen würde. »Wir werden das bereuen«, prophezeite er grantig.
»Wie wär’s, wenn du allein weiterziehst?«, schlug Regy liebenswürdig vor. »Ich könnte so richtig gut auf dein frömmelndes Getue verzichten.«
»Ja«, gab Edmund zurück. »Und du würdest mir auch nicht fehlen, glaub mir. Aber es wäre gegen Gottes Plan, wenn ich euch verließe.«
»Tja. Da kann man nichts machen«, erwiderte Regy seufzend.
Edmund wandte sich an Losian. »Du wirst noch einsehen, dass ich recht hatte.«
Losian nickte knapp. »Ich bin überzeugt, wenn es dazu kommt, wirst du über die Maßen zufrieden sein.«
»Ja, wenn wir nicht alle tot sind«, knurrte King Edmund.
Es dämmerte, als Losian auf die Gasse hinaustrat. Der Apriltag war sonnig und windig gewesen, aber mit dem Abend zogen Wolken auf, und die Böen wurden ungemütlich.
Er hatte eine Zeit lang bei Oswald gewacht, bis Simon gekommen war, um ihn abzulösen und zu berichten, dass Regy in einem leeren Tuchlager mit einer äußerst stabilen Tür eingesperrt sei – allein, so wie er selbst und vor allem seine Gefährten es vorzogen. Die anderen hockten in der Kammer im Obergeschoss des Hauses, zu der Josua sie geführt hatte, und stritten. Der Raum war licht und sauber, aber nicht groß. Losian verspürte nicht die geringste Neigung, sich seinen Gefährten schon wieder anzuschließen, also hatte er beschlossen, sich im Judenviertel ein wenig die Beine zu vertreten und vielleicht doch noch einen Blick auf die nahe gelegene Burg zu erhaschen.
In den Gassen war es still, denn der Tag ging zu Ende, und vermutlich setzten auch Juden sich um diese Zeit zum Nachtmahl. Jedenfalls stiegen ihm an beinah jedem Haus verführerische und fremdländische Düfte in die Nase, und sein leerer Magen, der es seit gestern aufgegeben hatte, Krach zu schlagen, meldete sich vernehmlich zurück. Ein paar Schritte vor Losian rannten zwei kleine Jungen um die Wette zur Tür eines Hauses. Als sie gleichzeitig ans Ziel gelangten, lachten sie – übermütig und außer Atem −, bis die Tür sich öffnete und eine Frauenstimme sie in einer fremden Sprache ausschimpfte. Die gescholtenen Knirpse huschten mit gesenkten Köpfen über die Schwelle, aber Losian sah sie ein Grinsen tauschen, ehe die Tür sich schloss.
Er ertappte sich bei einem wehmütigen Lächeln. Ihm war nicht bewusst, dass es Normalität und Geborgenheit waren, von denen diese Szene sprach, denn er hatte beide vergessen. Aber er spürte, dass es irgendetwas Gutes sein musste, und mit einem Mal erschien ihm sein Entschluss, in Josua ben Isaacs Haus zu bleiben, nicht mehr wie eine leichtsinnige Verzweiflungstat.
Er bog nach links in eine breitere Straße, kam an einen Platz mit einem großen Bauwerk, das wie eine Kirche aussah und doch wieder nicht, als aus der Gasse am anderen Ende des Platzes ein junges Mädchen und ein Knabe gelaufen kamen, die sich an den Händen hielten. Dicht auf den Fersen folgte ihnen ein halbes Dutzend halbwüchsiger Rabauken, die das Paar mit Steinen und Dreck bewarfen und johlten, wenn sie ein Ziel trafen.
Vor dem Brunnen auf der Platzmitte hielten die Verfolgten an, und der Junge stellte sich vor das Mädchen und breitete die Arme aus. »Lasst sie zufrieden!«, rief er auf normannisch, und man konnte hören, dass Zorn und Furcht um die Oberhand rangen. »Macht das mit mir aus, ihr Feiglinge!«
Die Rabauken waren Angelsachsen, aber sie hatten ihn offenbar sehr gut verstanden. Sie hatten angehalten, und der Anführer schlenderte noch zwei Schritte näher. »Wen nennst du hier Feigling, Judenbalg, he?« Er warf ihm einen Pferdeapfel mitten ins Gesicht.
Der Junge schreckte zurück und prallte hart gegen das ältere Mädchen in seinem Rücken. Der Anführer wollte sich auf ihn stürzen, als eine Hand sich wie eine Eisenschelle um seinen Arm legte und ihn zurückriss.
»Dich«, sagte Losian. »Und allem Anschein nach hat er recht. Oder wie würdest du einen Kerl nennen, der fünf Kumpane braucht, um ein Mädchen und ein Knäblein zu drangsalieren, das nicht älter als acht sein kann, hm?«
Der Bengel war ein hartgesottener Gassenjunge und nicht so leicht einzuschüchtern. »Älter war der kleine William auch nicht, als die Juden ihn sich geholt und abgeschlachtet und sein Blut gesoffen haben«, gab er zurück. Mit einem Ruck versuchte er, seinen Arm zu befreien, aber vergeblich.
Losian unterdrückte ein Schaudern. Das hatte gefährliche Ähnlichkeit mit den Anschuldigungen, die King Edmund erhoben hatte. Er stieß den Jungen unsanft von sich. »Pack dich. Und wenn du weißt, was gut für dich ist, lässt du dich hier nicht noch einmal blicken.«
Die kleine Rotte verdrückte sich, nicht ohne Losian über die Schulter finstere und herausfordernde Blicke zuzuwerfen.
Der tapfere kleine Beschützer hatte inzwischen zu heulen begonnen, fuhr sich heftig mit beiden Händen übers Gesicht, um den Pferdemist abzuwischen, und erreichte nur, dass alles noch ein wenig besser verteilt wurde.
Das Mädchen hatte die Hand auf seine Schulter gelegt und sprach beruhigend auf ihn ein. Sie stand kerzengerade, und Losian war beeindruckt von der Würde, die sie ausstrahlte. Er verstand sie so wenig wie die besorgte Mutter, die er eben gehört hatte, aber er fand die Worte klangvoll und die Stimme melodisch.
Dann sah sie ihn an, und ein kleines Lächeln lauerte in ihren Mundwinkeln, obwohl der Blick der dunklen Augen ernst war, beinah kummervoll. »Habt Dank, Monseigneur.«
Losian kannte das Wort »atemberaubend«. Aber bis zu diesem Tag war ihm seine Bedeutung nie klar gewesen. Jetzt machte sein Herz einen merkwürdigen kleinen Satz, und für einen furchtbaren Moment war es, als könne er keine Luft mehr holen. Dieses plötzliche Stocken verging so schnell, wie es gekommen war, sodass er hoffte, sie habe es nicht bemerkt. Es war nicht einmal ihre Schönheit, die ihm den Atem verschlug, obwohl sie in der Tat ein sehr schönes Mädchen war. Sie trug ein eigenartiges, weit fallendes Kleid aus dunkelblauem Tuch mit weiten Ärmeln, und ein weißes, langes Tuch bedeckte Kopf und Schultern und wallte über ihren Rücken hinab, sodass nur ein Ansatz dunkler Haare in der Stirn zu sehen war. Trotz der schmucklosen Schlichtheit der Gewänder erschien sie ihm wie eine Königin mit ihrem hoch erhobenen Haupt und ihrer Ruhe, die ihm unerschütterlich vorkam. Aber vor allem war es der Ausdruck in ihren dunklen Augen. Er konnte nicht beschreiben, was er dort gesehen hatte, aber was immer es war, es brachte etwas in seinem tiefsten Innern zum Klingen. Seine Seele vielleicht.
Und mit einem Mal überkam ihn der grausige Verdacht, dass genau diese Seele in all ihrer Hässlichkeit vor diesen Augen bloßlag. Zu hastig senkte er den Kopf, räusperte sich, suchte beinah panisch nach irgendetwas, das er sagen oder tun konnte, und trat schließlich an den Brunnen. Unendlich dankbar für die sinnvolle Beschäftigung zog er einen Eimer Wasser herauf und hielt ihn dem Jungen hin.
Doch der Kleine schüttelte den Kopf und heulte noch ein wenig lauter.
»Mein Bruder ist Euch dankbar für Eure Hilfe, aber wir dürfen den Brunneneimer nur zum Schöpfen verwenden, weil sonst Gefahr besteht, das Wasser zu verschmutzen«, erklärte sie.
»Verstehe«, antwortete Losian. Er wagte nicht, sie richtig anzuschauen, sah nur kurz in ihre Richtung. »Wie heißt Euer Bruder, Madame?«
»Moses.«
»Mach eine Schale aus deinen Händen, Moses. Ich schütte Wasser hinein, und du wäschst dir das Gesicht. Das machen wir so lange, bis du sauber genug bist, um deiner Mutter unter die Augen zu treten.«
»Meine Mutter ist tot«, murmelte Moses, der so wenig wagte, ihn anzuschauen, wie Losian die große Schwester.
»Das tut mir leid«, sagte dieser nüchtern, »aber mein Angebot steht trotzdem.«
Unsicher schaute der Junge zu seiner Schwester. Das brachte er fertig, ohne den Kopf zu heben. Erst auf ihr Nicken streckte er die zusammengelegten Hände aus, und Losian hob den Eimer.
Es dauerte nicht lange, bis der kleine Moses präsentabel war. Auf Geheiß seiner Schwester wusch er sich schließlich gründlich die Hände, und als er Losian anschaute, waren seine Wangen vom heftigen Rubbeln apfelrot. Er schenkte seinem Retter ein erleichtertes Grinsen mit einer charmanten Zahnlücke. »Danke. Wie heißt du denn eigentlich?«
»Losian.«
»Das ist aber ein komischer Name.«
»Moses …«, mahnte die Schwester.
Doch Losian winkte ab. »Er hat recht. Würdet Ihr mir gestatten, Euch und Euren Bruder nach Hause zu begleiten, Madame? Es ist fast dunkel.«
»Das ist nicht nötig«, wehrte sie ab. »Es ist nicht weit, und wir haben Eure Hilfe schon über Gebühr beansprucht.«
»Keineswegs. Mir wäre wohler.«
Sie lächelte, und Losian nahm ungläubig zur Kenntnis, dass ihm von diesem Lächeln ein klein wenig schwindelig wurde. Sie hatte einen wundervollen Mund, und die Farbe der Lippen brachte ihm den Geschmack reifer Kirschen in Erinnerung, den er vollkommen vergessen hatte, wie so vieles. Sie wies in die Richtung, aus der er gekommen war. »Also schön. Dort entlang geht es zum Haus von Josua ben Isaac. Er ist unser Vater.«
»Dann haben wir denselben Weg, Madame«, brachte er mühsam hervor und war wenigstens für diesen einen Moment von der Güte Gottes überzeugt.
Sie betraten das Haus nicht durch die Tür, die Losian schon kannte, sondern gelangten durch ein Tor in einen Innenhof, von welchem eine Pforte direkt in eine große Küche führte.
Dort trafen sie auf den Herrn des Hauses, und seine Miene war sturmumwölkt. »Miriam! Wo bist du nur gewesen? Ich habe das Haus voller Gäste und finde den Herd kalt und meine Tochter verschwunden. Wie kannst du …«
»Ich habe Moses von der Schule abgeholt, Vater«, antwortete sie, und sie sagte es mit solcher Ruhe, dass er die Unterbrechung gar nicht zu bemerken schien.
Josua legte die Rechte vor den Mund, sah mit großen Augen von seiner Tochter zu seinem Söhnchen und murmelte zerknirscht: »Es tut mir leid, Moses.«
»Du hast es vergessen«, erkannte der Junge mit einem Seufzer, der eher duldsam als enttäuscht klang.
Josua raufte sich das üppige graue Haar. »Es war ein Notfall.« Er nickte zu Losian, der gleich an der Tür stand und das Gefühl hatte, dass er bei dieser Familienangelegenheit nichts verloren hatte. Und doch ahnte er, dass die Juden nur aus Höflichkeit ihm gegenüber Normannisch sprachen. »Einer seiner Reisegefährten brach auf der Straße zusammen, und ich kam zufällig vorbei.«
Miriam griff zu einem Schürhaken und wandte sich zum Herd. »Man könnte meinen, er durchstreift die Straßen in der Hoffnung, über einen Kranken zu stolpern«, raunte sie der Glut zu.
»Es waren Menschen in Not, Miriam«, erklärte ihr Vater empört.
Sie nickte und drehte sich ohne Eile wieder zu ihm um. »Daran zweifle ich nicht.« Einen Moment sah es so aus, als wolle sie noch mehr sagen, aber sie überlegte es sich anders.
Losian hörte ungläubig, wie er es für sie tat. »Das waren Euer Sohn und Eure Tochter auch. Ein paar junge Burschen auf der Straße wollten ihnen Ärger machen. Gesindel.«
Betroffen sah Josua zu seiner Tochter, dann weiter zu Moses.
Der nickte grimmig. »Es waren die verfluchten Gojim von letzter Woche.«
Der Vater atmete hörbar tief durch und strich seinem Sohn über den Kopf. »Das ist schlimm, Moses. Und ich verstehe, dass du zornig bist, aber wir werden niemanden verfluchen, nur weil er nicht jüdisch ist, hast du verstanden?«
»Schon, Aba, aber …«
»Nein, es gibt kein Aber, mein Sohn«, unterbrach Josua bestimmt. »Wer hat dir aus der Klemme geholfen, hm?«
Moses ruckte das Kinn in Losians Richtung. »Er.«
»Und was ist er?«
»Ein Goj.«
»Da hast du’s.«
»Habe ich Anlass, mich beleidigt zu fühlen?«, erkundigte sich Losian, um seine Verlegenheit zu überspielen.
»Nein«, versicherte Josua. »Das Wort bezeichnet lediglich jemanden, der kein Jude ist. Schlimm genug, natürlich, aber wir sehen ein, dass Ihr nichts dafür könnt.«
Alle lachten, aber in Wahrheit war Losian ebenso verwirrt wie befremdet. Sogar er wusste, dass die meisten Christen keine großen Stücke auf Juden hielten und sie bestenfalls mit Herablassung betrachteten. Er wäre in seinen wildesten Träumen nicht auf die Idee gekommen, dass es umgekehrt genauso sein könnte.
»Wenn Ihr erlaubt, werde ich sehen, wie es mit meinen Gefährten steht«, entschuldigte er sich.
Josua nickte. »Schickt den jungen Simon in einer Stunde hierher, um Euer Essen zu holen.«
»Gott segne Euch, Josua ben Isaac.« Losian wandte sich ab. Und du wirst sie nicht anschauen, schärfte er sich ein. Du wirst dich nicht wie der letzte Trottel benehmen. Doch als er über die Schwelle getreten war und die Tür zuzog, wurde er im letzten Moment schwach und sah verstohlen über die Schulter zum Herd.
Ihre Blicke trafen sich.
»Sei doch nicht närrisch, King Edmund, du musst essen«, drängte Wulfric und hielt ihm einen halben Brotfladen hin. »Es schmeckt großartig, wirklich.«
Edmund presste für einen Augenblick die Lippen zusammen wie ein trotziges Kind, das seinen Brei nicht will, ehe er erwiderte: »Ich werde kein Brot aus unreiner Hand anrühren.«
»Dann wirst du verhungern«, warnte Godric.
»Ich glaube nicht, dass das Gottes Wille ist. Aber falls doch, so soll er geschehen.« Es waren die Worte des unbeugsamen Märtyrers, aber niemandem entging das Beben in Edmunds Stimme. Er war so ausgehungert wie jeder von ihnen. Und auch sein Fleisch ist schwach, nahm Simon an.
Auf Losians Geheiß hatte er das Essen aus der Küche geholt. Er war unwillig gegangen, denn er hasste es, wie ein Knappe von Losian herumkommandiert zu werden, doch inzwischen war er froh, dass er gehorcht hatte. In der Küche hatte er den Sohn des jüdischen Arztes kennengelernt, einen drolligen kleinen Kerl, der hervorragend normannisch sprach. Und eine Tochter, die ungefähr in Simons Alter war, gab es auch. Zusammen mit einer Magd, einem jüdischen Mädchen aus der Nachbarschaft, hatte sie das Essen bereitet, während Josua und sein Sohn am Tisch saßen und über die Gefangenschaft des Volkes Israel in Ägypten sprachen. Der Rabbi in der Schule habe heute davon erzählt, klärte der kleine Moses den Fremden in der Küche auf. Zehn Plagen habe Gott den Ägyptern und ihrem König geschickt, damit sie Gottes auserwähltes Volk ziehen ließen. Die letzte machte Moses anscheinend besonders zu schaffen: Gott hatte jeden erstgeborenen Sohn der Ägypter sterben lassen.
Simon erinnerte sich, dass ihm das auch Angst gemacht hatte, als er ein Knirps gewesen war und die Geschichte zum ersten Mal hörte.
Trotz ihrer eigentümlichen Erscheinung waren die Juden ihm mit einem Mal gar nicht mehr so fremdartig erschienen. Das vertraute Beisammensein der Familie am Ende des Tages, die tüchtige Tochter am Herd, Vater und Sohn am Tisch bei einem frommen Gespräch – all das erschien Simon völlig normal.
Die Tochter hatte ihm schließlich ein schweres Tablett mit einem Eintopf aus Hering und Zwiebeln, Brot und einem Krug Wein überreicht. Es war einfache, aber schmackhafte Kost und vor allem reichlich.
»Wie kommst du auf die Idee, das Essen könnte unrein sein?«, fragte Simon King Edmund. »Diese Menschen sind geradezu lächerlich reinlich. Und sie haben Speisegesetze, die viel strenger sind als unsere Fastenregeln.«
»Woher weißt du das?«, fragte Wulfric verblüfft.
»Mein Vater hat’s mir erzählt«, antwortete Simon. »Er hatte häufiger mit den Juden in Lincoln zu tun. Hat für den König Geld bei ihnen geborgt, glaube ich. Jedenfalls sagte er, sie dürften so gut wie gar nichts essen: kein Schweinefleisch, keine Schalentiere und niemals Fleisch und Milch zur gleichen Zeit. Und die Tiere, die sie essen, müssen auch noch auf irgendeine besondere Weise geschlachtet werden …«
»Ihr Essen ist unrein, weil das Blut Jesu Christi an ihren Händen klebt«, unterbrach King Edmund barsch. »Und ihr alle solltet euch schämen, so leicht schwach zu werden und ihre Gaben anzunehmen. Ich kann nur beten, dass sie eurem Leib und eurer Seele keinen allzu großen Schaden zufügen.«
»Das ist genug«, bekundete Losian, und Simon sah in seinen Augen, dass er wütend war. »Josua ben Isaac hat uns große Freundlichkeit und Gastfreundschaft erwiesen. Wenn du sein Essen nicht willst, bitte. Aber wenn du nicht anders als hasserfüllt und missgünstig über diesen Mann reden kannst, dann schlage ich vor, du hältst den Mund.«
King Edmund war erwartungsgemäß entrüstet. »Sag mal, wie redest du eigentlich mit mir? Ich bin Gottes Auserwählter! Und ich werde wohl noch meiner Pflicht nachkommen und euch vor der Gefährlichkeit dieser Leute warnen dürfen!«
Losian stieß verächtlich die Luft aus, füllte zwei Schalen mit Eintopf, griff nach zwei sauberen Löffeln und stand auf.
»Wo willst du denn hin?«, fragte Simon.
»Regy füttern«, bekam er zur Antwort. »Und Oswald. Er ist schon viel zu lange allein. Wenn er aufwacht und niemand ist bei ihm …«
Er hat recht, musste Simon einräumen. Unter Gewissensbissen gestand er sich ein, dass er den armen Oswald vor lauter Glückseligkeit über das Essen und das ungewohnte Dach über dem Kopf vorübergehend vergessen hatte. Er stand auf und streckte die Hand aus. »Ich übernehme Oswald.«
Losian hob die Brauen und gab ihm eine der Schalen mitsamt Löffel. »Auf einmal so hilfsbereit?«
»Immer dann, wenn du mich nicht scheuchst«, brummte der Junge.
Losian verzog einen Mundwinkel zu einem müden Lächeln, sagte aber nichts. Zusammen verließen sie die Kammer im Obergeschoss und gingen die Treppe hinab.
Oswald lag immer noch auf der Bettstatt neben dem kleinen Herd und schlief. Ein Talglicht brannte auf einem nahen Tisch, und in seinem Schein kam es Simon so vor, als habe Oswalds Gesichtsfarbe die kränkliche Blässe verloren.
Er bewegte sich so geräuschlos wie möglich, doch es dauerte nicht lange, bis seine Anwesenheit den Schläfer weckte.
»Losian?«, fragte Oswald blinzelnd.
Simon legte ihm behutsam die Hand auf die Schulter. »Er ist hier, in diesem Haus. Wie alle anderen. Wie fühlst du dich?«
Oswald setzte sich auf und rieb sich die Augen. Die Frage schien ihn zu überfordern, denn er antwortete nicht. »Ich hab Hunger«, sagte er stattdessen.
»Hier.« Simon streckte ihm die Schale entgegen. »Es schmeckt großartig.«
Oswald war nicht wählerisch. Simon war erleichtert zu sehen, wie emsig der kranke junge Mann zu löffeln begann. »Wie es aussieht, kriegen wir dich noch mal durch, was?«
Oswald schenkte ihm zwischen zwei Löffeln sein strahlendes Lächeln. »Lecker«, befand er.
Simon nickte und fragte sich, wann genau es eigentlich geschehen war, dass er Oswald ins Herz geschlossen hatte. Er erinnerte sich, in den ersten Wochen auf der Insel hatte er sich von dem merkwürdigen Pfannkuchengesicht und der schleppenden Sprechweise abgestoßen gefühlt. Oswalds schiere Existenz hatte ihn mit Verachtung und Wut erfüllt. Jetzt konnte er sich überhaupt nicht mehr vorstellen, warum das wohl der Fall gewesen war.
»Du hast uns einen ganz schönen Schreck eingejagt heute Nachmittag«, bemerkte er.
Oswald hielt mit dem Löffel auf halbem Weg zum Mund inne und sah ihn mit großen Augen an. »Was hab ich gemacht?«, fragte er schuldbewusst.
»Du bist umgekippt. Es ging dir ganz schön dreckig.«
Oswald grübelte einen Moment und nickte dann. »Ich weiß wieder. Losian hat mich getragen. Und ein schwarzer Mann hat mir was zu trinken gegeben.«
»So war’s. Wir sind immer noch in seinem Haus. Er nimmt uns für ein paar Tage hier auf, stell dir das vor. Und das, obwohl …« Simon brach ab und hob den Kopf. »Hast du was gehört?«
Oswald schüttelte den Kopf. Aber Simon war früher schon aufgefallen, dass Oswald ziemlich schlecht hörte. Da war es wieder. Ein dumpfes Poltern.
Simon wusste plötzlich genau, woher es rührte, und der Schreck fuhr ihm in die Glieder. Wie gestochen sprang er von der Bettkante auf. »Rühr dich nicht vom Fleck, Oswald. Bin gleich zurück.«
Ehe Oswald protestieren konnte, war Simon hinausgestürzt, den Flur entlanggerannt und kam vor der Tür des Tuchlagers an. Er riss sie auf und verharrte einen Moment, als hätte Gott ihn in eine Salzsäule verwandelt.
Losian und Regy rollten in enger Umklammerung über den Boden, beide keuchten. Verschütteter Eintopf und Blut besudelten die so penibel gefegten Holzdielen. Simon konnte nicht ausmachen, wessen Blut es war, aber er brauchte nicht lange zu rätseln.
»Was glaubst du, wie lange es dauert, Losian?«, fragte Regy, und das diebische Vergnügen in seiner Stimme war unüberhörbar. »Du blutest aus. Ziemlich schnell.«
»Aber noch ist es nicht so weit«, erwiderte Losian grimmig, bäumte sich plötzlich auf und schleuderte Regy herum, sodass er oben zu liegen kam. Er versuchte, sich aufzurichten und Regys Oberarme unter seinen Knien einzuzwängen, aber sein Gegner befreite seinen rechten Arm mit einem Ruck, schmetterte Losian die Faust erst ins Gesicht und dann in den oberen Bauch, die Stelle, von der all das Blut zu kommen schien. Losian bleckte die Zähne – ein grausiger Anblick in dem blutüberströmten Gesicht −, aber Simon konnte sehen, dass seine Kräfte schwanden. Dieses Mal war Regy derjenige, der sich herumschleuderte und auf seinem Gegner zu liegen kam, und dann senkte er den Kopf.
Im ersten Moment begriff Simon nicht, was er vorhatte. Als die Erkenntnis ihn durchzuckte, war das Entsetzen so groß, dass seine Starre sich endlich löste. All seine Instinkte wollten ihn verleiten, sich abzuwenden und zu fliehen. Stattdessen schlich er auf die Kämpfenden zu. Das Blut rauschte ihm in den Ohren, und bei dem Gedanken, was ihm blühte, wenn Regy ihn zu früh bemerkte, verkrampften sich seine Eingeweide. Aber er zögerte nicht. Behutsam, ganz behutsam hob er das lose Ende der schweren Kette auf, nahm seinen ganzen Mut zusammen und zog Regy eins über den Schädel.
Für einen Moment erschlaffte der eben noch so angespannte Körper, und Simon nutzte diesen Augenblick der Benommenheit, um Regy die Kette um den Hals zu schlingen, ihm einen Stiefel ins Kreuz zu drücken und zuzuziehen.
Regy wurde nach hinten gerissen, stieß ein ganz und gar unmenschliches Heulen aus und fing an, sich zu wehren.
Simon wusste, er hatte keine Chance gegen ihn. Nicht nur King Edmund glaubte, dass Regys Bärenkräfte unnatürlich seien und ihm von seinem dunklen Meister verliehen worden waren. Doch ehe Simon in Nöte geriet, kam Losian auf die Füße – nicht so schnell und mühelos wie sonst – und eilte ihm zu Hilfe. Sie zogen die Kette so fest, dass Regy keine Luft mehr für sein Wutgeheul bekam und zu röcheln begann.
»Los, geben wir ihm den Rest«, stieß Simon hervor, packte fester zu und zog mit Macht.
Losian schüttelte wortlos den Kopf, legte ihm die Hand auf den Arm, um ihm zu bedeuten, seinen Zug zu lockern, nahm dann das lose Ende der Kette auf und befestigte es mit dem Schloss an dem Balken, der die Decke des Tuchlagers trug.
»Verflucht noch mal, Losian, er wollte dir die Kehle durchbeißen!«, protestierte Simon. Er war vollkommen außer sich. »Er ist eine Bestie. Kein Umgang für anständige Menschen, genau wie King Edmund immer gesagt hat.«
Losian nahm seinen Arm und zog ihn bis zur Tür, wo sie außerhalb der Reichweite der Kette waren. Regy, der reglos am Boden gelegen hatte, seit das Schloss eingerastet war, und vermutlich den Anschein erwecken wollte, er sei bewusstlos, rührte sich mit einem Mal. Langsam stemmte er sich in die Höhe, hustete, wickelte die Kette von seinem Hals und fuhr sich mit der Linken über die Stelle oberhalb des Halseisens, wo die Glieder sich tief ins Fleisch gedrückt hatten. »Du bist schon richtig kräftig für einen Milchbart deiner Sorte, Simon de Clare«, lobte er aufgeräumt.
Aber Simon kannte Regy inzwischen. Er las die Mordgier im Glimmen seiner Augen. »Warum musstest du das tun, du wertloses Stück Dreck!«, fauchte er. »Er hat dir das Leben gerettet. Er ist immer anständig zu dir.«
»Ich musste es tun, weil ihr mir die Gelegenheit gegeben habt, Bübchen«, klärte Regy ihn auf. »Deine unzertrennlichen Freunde sind schuld, die mich so nachlässig angekettet haben.«
Losian lehnte am Türpfosten. »Ich glaube nicht, dass ich heute noch Neigung verspüre, dir neues Essen zu holen, Reginald. Du wirst bis morgen weiter fasten müssen.«
»Das macht nichts, Herzblatt«, versicherte Regy und schenkte ihm ein honigsüßes Lächeln. »Es hat mir solchen Spaß gemacht, dich aufzuschlitzen, dass ich den Preis gern zahle.«
Losian wandte sich ab. »Simon, sei so gut, heb meinen Dolch auf und bring ihn mit. Und verriegele die Tür.«
Das blutverschmierte Messer lag keinen Schritt von Simons linkem Fuß entfernt. Der Junge folgte der Bitte und hastete dann neben Losian her. »Wie ist das passiert?«
»Wie er sagte. Er war nicht angekettet und wartete hinter der Tür, als ich eintrat. Es war stockdunkel. Er hat mir den Dolch gestohlen und den Bauch aufgeschlitzt, ehe ich auch nur begriffen hatte, was geschah. Er ist ja so sagenhaft schnell, Simon.«
Fassungslos hörte Simon einen Hauch von Bewunderung in Losians Stimme. »Er ist schnell, weil er im Gegensatz zu normalen Menschen nicht die geringsten Hemmungen überwinden muss, um das Blut eines anderen zu vergießen«, sagte der Junge angewidert.
»Gut möglich, dass du recht hast.«
»Und was nun?«, erkundigte Simon sich verdrossen. »Es stimmt, was er sagte. Es sieht aus, als würdest du ausbluten. Außerdem tropfst du den Fußboden voll.«
»Ich weiß.« Sie hielten vor der Tür zu der Kammer, wo Oswald vermutlich immer noch geduldig wartete. Losian wischte sich mit dem Ärmel das Blut vom Gesicht. »Sei so gut und hol Josua ben Isaac. Da Gott es so gefügt hat, dass wir uns im Haus eines Arztes befinden, ist es vielleicht nicht mein Schicksal, heute zu verbluten.«
Oswald war wieder eingeschlummert, und Losian ließ sich möglichst lautlos auf einen Schemel am Tisch sinken, damit der Junge nicht aufwachte. Er wusste, Oswald würde in heillose Panik geraten, wenn er ihn so sah, und das wollte er ihnen beiden ersparen.
Missmutig blickte er auf seinen erbeuteten feinen Bliaut hinab, der sich mit seinem Blut vollgesogen hatte. Er konnte wohl getrost damit rechnen, dass das Gewand gänzlich verdorben war und er wieder in Lumpen gehen musste. Vorausgesetzt, dass er überhaupt je wieder irgendwohin gehen würde. Er konnte nicht feststellen, dass der Blutstrom nachließ, und der verblüffend leuchtend rote Fleck auf dem grünen Tuch breitete sich weiter aus.
Josua ben Isaac trat über die Schwelle, Simon dicht auf den Fersen. Der Arzt erfasste die Lage auf einen Blick, schüttelte den Kopf und bemerkte: »Es scheint kein geringes Wunder, dass Eure Gemeinschaft ohne ärztlichen Beistand bis nach Norwich gelangt ist. Vermutlich sollte ich all meine regulären Patienten bis auf Weiteres zu meinen Konkurrenten schicken, damit ich Euch meine ungeteilte Aufmerksamkeit schenken kann.«
Losian spürte seine Wangen heiß werden. Und fragte sich, wann ihm das wohl zum letzten Mal passiert war. »Ihr seht mich tief beschämt, Josua ben Isaac«, sagte er. Es war nicht einmal eine Lüge. »Simon, weck Oswald und bring ihn nach oben. Nein. Warte.« Er fuhr sich mit der Hand über die Stirn. Beide waren mit einem Mal klamm. »Lass es mich noch einmal versuchen: Simon, wärst du so gut, Oswald nach oben zu bringen?«
Simon grinste. »Gewiss, Losian.« Er rüttelte Oswald sacht. »Komm, Kumpel, wach auf.« Und als Oswald sich aufsetzte, nahm er seinen Arm und zog ihn auf die Füße. »Losian hat etwas mit unserem Gastgeber zu besprechen. Komm, wir warten oben auf ihn.« Und er brachte es fertig, Oswald hinauszuführen, ehe der den eigentlich unübersehbaren Blutfleck auf Losians Gewand entdeckt hatte.
»Guter Junge«, murmelte Losian.
Josua schnürte ihm das Gewand auf – mit erfahrenen Händen, aber nicht zimperlich –, zog es ihm über den Kopf und schob das blutdurchtränkte Hemd hoch, um den Schaden zu begutachten.
»Es ist nicht tief«, teilte Losian ihm mit.
»Das wisst Ihr, ja? Wer ist hier der Arzt, Ihr oder ich?«
Losian schwieg demütig. Aber er wusste, dass er recht hatte. Es war wieder so etwas Merkwürdiges geschehen, als Regy ihn in der Dunkelheit anfiel. Losian war vollkommen überrumpelt gewesen, und lange bevor er begriffen hatte, was passierte, hatte Regy ihn schon angegriffen. Aber Losians Körper war wieder einmal schneller gewesen als sein Verstand. Genau in dem Augenblick, als die Klinge in sein Fleisch drang, hatte er sein Gewicht nach hinten verlagert, den Bauch eingezogen – irgendetwas. Er wusste nicht mehr genau, was. Jedenfalls war der Stoß nicht tödlich gewesen, wie Regy zweifellos beabsichtigt hatte, sondern abgerutscht, und daher eher breit als tief.
Josua zog ihm auch das Hemd aus und warf es achtlos zu dem Bliaut auf den Boden. »Stützt die Ellbogen hinter Euch auf den Tisch und lehnt Euch zurück, damit ich mir die Sache anschauen kann.« Aus einer nahen Truhe holte er reines Leinen und tupfte das Blut ab. »Hm«, brummte er schließlich. »Nicht tief, Ihr habt recht. Aber ziemlich hässlich. Ich muss es nähen, wenn Ihr nicht verbluten wollt. Wie ich an zweien Eurer Narben sehe, kennt Ihr das bereits.«
»Da wisst Ihr mehr als ich«, murmelte Losian. Es klang eigenartig, fand er. So als wäre er betrunken.
»Wie bitte?«, fragte der Arzt stirnrunzelnd.
»Morgen werden wir Euer Haus verlassen, Josua. Es ist viel zu gefährlich, eine Kreatur wie ihn unter einem Dach mit Eurer Tochter und Eurem Sohn … Ich dachte, ich könnte ihn handhaben, aber …«
»Ich glaube, Ihr geht so bald nirgendwohin, mein normannischer Freund«, unterbrach Josua.
»Das werden wir ja sehen«, gab Losian rebellisch zurück, ehe um ihn herum Schwärze aufstieg und er ihr dankbar entgegensank.
Er träumte wieder von seinem Ritt durch die Wüste. Die flimmernde Hitze, der Staub, der Durst, alles war wie immer. Doch in diesem Traum trank er nicht das Blut seines sterbenden Pferdes, sondern sein eigenes. Er zückte seinen Dolch, schlitzte sich den Bauch gleich unterhalb der Rippen auf, hielt einen leeren Lederschlauch unter die Wunde und fing sein Blut auf, um den Schlauch schließlich an die Lippen zu setzen. Und wie bei jedem Mal zuvor erschien ihm der König von Jerusalem in seiner goldenen Maske: »Wenn du das je wieder tust, wirst du aus meinen Diensten scheiden müssen.«
»Ich habe es für Euch getan. Damit die Nachricht nach Akkon kommt.«
»Du hast es für dich getan. Weil du eitel und ruhmsüchtig bist.«
»Vergebt mir.«
»Vielleicht. Darüber werde ich entscheiden, wenn du Akkon erreichst, ohne dein Blut zu saufen wie ein heidnischer Barbar.«
»Aber wie soll ich hinkommen, wenn ich meinen Namen nicht weiß?«
»Das ist deine Prüfung.«
»Sagt ihn mir! Ich weiß, dass Ihr ihn kennt, also sagt ihn mir …«
»Schsch. Ich kenne Euren Namen nicht, sonst würde ich ihn Euch sagen, Ihr habt mein Wort.« Die Stimme hatte sich verändert. Sie klang immer noch rau, aber nicht mehr verächtlich, sondern tröstend.
»Mein König …«
»Das bin ich nicht. Ich bin Arzt. Mein Name ist Josua ben Isaac, und Ihr seid in meinem Haus. Hört Ihr mich?«
»Josua.«
»Oh, gepriesen seiest du, Herr. Er hört mich endlich«, murmelte die Stimme. »Ganz recht. Ihr seid in Norwich im Haus des Juden Josua ben Isaac. Erinnert Ihr Euch?«
»Nein.« Er konnte die Augen nicht aufschlagen. Die Lider wollten sich einfach nicht öffnen. Er sah nur Schwärze.
»Ihr seid verwundet und habt Fieber. Das Fieber hält Euch in dem ewig gleichen Traum gefangen, der Euch quält, und darum müsst Ihr Euch davon befreien. Hört Ihr mich, Losian?«
»Das ist nicht mein Name.« Die Schwärze lichtete sich, verwandelte sich in das sachte Perlgrau der Morgendämmerung.
»Doch, denn er ist besser als gar keiner. Ihr führt eine Gemeinschaft an, deren Mitglieder Euch Losian nennen. Erinnert Ihr Euch an Eure Freunde, Losian?«
»Das ist nicht mein Name …« Die Wüste kehrte zurück.
»Wie lautet er dann?«
Er öffnete den Mund, um seinen Namen auszusprechen, aber der Wind fegte ihm heißen Staub auf die Zunge, und seine Stimme versagte. Er schluckte den Staub hinunter, mühte sich ab, um genug Speichel zum Sprechen zu sammeln, doch als das endlich geglückt war, war ihm der Name wieder entglitten. Er wollte heulen vor Wut über diese verpasste Gelegenheit, aber er war zu ausgetrocknet für Tränen. Fast war er der Wüste dankbar. Denn er ahnte, wenn er einmal anfing zu heulen, würde es verdammt lange dauern, eh er wieder aufhören konnte.
Viel besser, er machte sich auf den Weg nach Akkon. Denn dort wartete sein Name, er war sicher …
Als er das erste Mal wieder richtig zu sich kam, kniff er die Augen gleich wieder zu, denn der Schmerz war mörderisch. Er wusste, Regy hatte ihn mit seinem eigenen Dolch verletzt. Aber es fühlte sich an, als habe jemand die Wunde mit glühenden Holzkohlestückchen gefüllt. Er zwang die Lider wieder auf und hob den Kopf, um den Schaden in Augenschein zu nehmen, und stellte bei der Gelegenheit fest, dass Josua ben Isaac auf einem Schemel neben seiner Bettstatt saß, in einer Hand ein Tuch, in der anderen einen Becher.
»Hier. Trinkt das«, befahl der Arzt und setzte ihm das Gefäß an die Lippen.
Der Geruch warnte Losian, und er drehte den Kopf weg. »Das habt Ihr mir schon mal eingeflößt. Und ich hatte grässliche Träume davon. Ich … kenne dieses Zeug.« Er spürte Schweiß auf Brust und Gesicht.
»Wie alle guten Dinge kommt es aus dem Osten«, belehrte Josua ihn. »Dort nennt man es haschīsch.«
»Die Heiden benutzen es vor der Schlacht, um sich furchtlos und schmerzunempfindlich zu machen.« Losian hörte selbst, dass er keuchte. Gegen Schmerzunempfindlichkeit hätte er gerade auch nichts einzuwenden gehabt, musste er zugeben.
»Das halte ich für höchst unwahrscheinlich, denn es macht träge. Aber es ist ein hervorragendes Schmerzmittel, und darum müsst Ihr jetzt trinken. Sonst raubt der Schmerz Euch alle Kraft, die Ihr zur Genesung bräuchtet.«
»Besser das, als dass die Träume mir das letzte bisschen Verstand rauben, das mir … geblieben ist.« Losian kniff die Augen zu und biss die Zähne zusammen. Jesus, was hat dieser verdammte jüdische Metzger mit mir angestellt? Ich hätte besser auf King Edmund gehört … »Geht, Josua. Lasst mich allein, ich bitte Euch.«
»Ich kann auch warten, bis Ihr wieder bewusstlos werdet«, bekam er zur Antwort. »Dann schluckt Ihr nämlich alles, was ich Euch an die Lippen setze. So als verginget Ihr vor Durst. Selbst seit das Fieber gefallen ist.« Die Stimme klang ungehalten. Offenbar schätzte Josua ben Isaac keine bockigen Patienten.
»Die Wüste …«
»Oh, ich weiß, ich weiß. Ich denke, ich kenne Euren Traum inzwischen in jeder Variation. Ich verstehe, dass Ihr ihm entfliehen wollt, aber Ihr müsst trotzdem trinken. Eure Wunde war brandig. Ich musste schneiden. Und Ihr wart vorher schon geschwächt. Es war sehr knapp, und Ihr seid noch nicht außer Gefahr.«
Losian wandte ihm den Kopf wieder zu. »Brandig? Wieso … bin ich dann nicht tot?«
Josua lächelte mit unverhohlenem Stolz und sagte nichts.
Losian brummte missfällig. Dann trank er das süßliche Gebräu bis zur Neige.
Anders als erwartet schlief er nicht wieder ein. Er wartete eine Weile, verspürte aber weder Müdigkeit noch Linderung, und da Josua keine Anstalten machte, endlich zu verschwinden, fragte er ihn: »Wie viel Zeit ist vergangen?«
»Eine Woche.«
»Allmächtiger … Ihr müsst inzwischen wünschen, Ihr hättet an jenem Tag einen anderen Weg nach Hause gewählt.«
»Im Gegenteil. Und Ihr solltet nicht reden.«
»Irgendwer … hat mir beigebracht, das Einzige, was man gegen Schmerz tun könne, sei, nicht an ihn zu denken. Also, wenn Eure Zeit es erlaubt, bringt mich auf andere Gedanken. Was macht Oswald?«
»Er liegt Euch in besonderem Maße am Herzen, nicht wahr? Das haben die anderen mir erzählt. Es geht ihm gut, seid beruhigt. Sein Herz ist schwach und wird es immer bleiben. Er wird nicht alt werden, das ist wohl gewiss. Aber fürs Erste hat er sich erholt.«
»Gott segne Euch. Eurer oder meiner, das ist egal.«
»Es ist derselbe, Ihr ungebildeter normannischer Holzkopf.«
»Lasst das nicht King Edmund hören.«
»Hm! Ein wirklich interessanter Fall. Vielleicht der faszinierendste von Euch allen.«
»Faszinierend findet Ihr uns, ja?«
»Vergebt mir. Es ist nicht so herzlos gemeint, wie es klingt. Es ist nur, ich schreibe seit Jahren an einem Buch über die Krankheiten des Geistes und der Seele. Darum seid Ihr ein Gottesgeschenk für mich.«
»Ein Buch …« wiederholte Losian ungläubig.
»Ganz recht. Und Euer Gefährte, der sich für den englischen Märtyrerkönig hält, ist ein großartiges Studienobjekt. Vor allem, seit er seine Meinung über Juden im Allgemeinen und über mich im Besonderen geändert hat.«
»Wie habt Ihr das bewerkstelligt?«
»Wir haben einen höchst gelehrten Disput über Gott geführt. Am Ende musste er sich geschlagen geben.«
»Einen Disput? In welcher Sprache?«
»Auf Lateinisch, natürlich.«
»Natürlich … Nun, wenn er sich Euch geschlagen geben musste, dann seid Ihr in der Tat ein gelehrter Mann. Ich hätte gedacht, dass niemand so viel über Gott und sein Wort weiß wie King Edmund … Euer verdammtes heidnisches Zeug wirkt nicht.«
»Oh, es wirkt. Das beweist allein die Tatsache, dass Ihr flucht. Ich hörte, das komme höchst selten vor.«
»Weil King Edmund über jeden herfällt, der es tut …«
»Nein, sondern weil Ihr zu beherrscht und vornehm dafür seid. Aber mein ›verdammtes heidnisches Zeug‹ enthemmt. Auch deswegen habe ich es Euch gegeben.«
»Dann fahrt zur Hölle.«
Josua tupfte ihm den Schweiß von der Stirn. »Das fürchtet Ihr am meisten, nicht wahr? Die Kontrolle zu verlieren. Darum müsst Ihr alles und jeden in Eurer Umgebung kontrollieren. Ein Glück für Eure Gefährten, will mir scheinen. Ihr habt ihr Leben sehr viel besser gemacht auf der kargen, trostlosen Insel, wo man Euch gefangen hielt. Und ohne Euch wären vermutlich alle ertrunken.«
»Das Unglück mit meinen Gefährten ist, dass sie alle zu viel schwafeln. Und sie …«
»Schsch. Ihr dürft Euch nicht erregen, dafür seid Ihr zu geschwächt.«
Losian wusste, dass das stimmte. Er schloss die Augen. »Was ist mit Simon? Könnt Ihr ihn heilen?«
»Nein«, antwortete Josua bedauernd. »Ich fürchte, ich kann nichts für ihn tun. Aber die Fallsucht ist keine so schreckliche Krankheit. Sie wird mit den Jahren nicht schlimmer – bei manchen sogar besser –, und niemand stirbt daran. Es hat ihn getröstet, das zu erfahren. Ich denke, er wird lernen, damit zu leben.«
Das Zeug wirkte doch, stellte Losian fest. Der Schmerz verging nicht, aber er schien betäubt. Erst als seine Glieder sich entspannten, merkte Losian, wie verkrampft er gewesen war. »Und Regy?«
»Ich schlage vor, über ihn reden wir morgen. Seid unbesorgt. Er wird sicher verwahrt. Die wackeren Zwillinge können sich nicht verzeihen, dass sie es an Sorgfalt haben mangeln lassen, und nun betrachten sie es als ihre Pflicht, dafür zu sorgen, dass es nicht wieder passiert.«
»Es wird wieder passieren. Früher oder später. Eine solche Kreatur kann man auf Dauer nicht bändigen. Wulfric hatte recht. Ich hätte ihn auf der Insel lassen sollen.«
Eine Hand legte sich sacht auf seine Schulter. »Er hatte nicht recht. Ihr habt das Richtige getan. Und nun schlaft.«
Losians Lider waren bleischwer. Er versuchte erst gar nicht, sie noch einmal zu öffnen. »Wenn nur der verdammte Traum nicht wäre.«
»Dann jagt ihn fort.«
»Ich kann nicht. Er ist die einzige Erinnerung, die ich habe.«
»Das bezweifle ich. Es gibt andere, wir müssen sie nur suchen. Und Euer Traum ist ein Irrbild, keine Erinnerung.«
»Woher wollt Ihr das wissen?«, fragte Losian schläfrig.
»Weil Akkon nicht in der Wüste liegt.«
Josua ben Isaac und sein Bruder Ruben waren vor zwölf Jahren mit einer ganzen Schar weiterer Juden aus Winchester nach Norwich gekommen und hatten sich in dem Stadtviertel, welches der Sheriff ihnen im Auftrag des Königs gleich am Fuße der Burg zugewiesen hatte, ein Haus nach den Gepflogenheiten ihres Volkes gebaut. Es war groß genug, um die Familie, Rubens Tuch- und Gewürzlager und Josuas Vorrats- und Behandlungsräume zu beherbergen, und es war in einem Karree gebaut, das einen Garten umschloss.
Losian blieb an der Tür ins Freie stehen und schaute sich staunend um. So etwas wie diesen Garten hatte er noch nie gesehen – jedenfalls glaubte er das. Eine Rasenfläche in der Mitte, mit Narzissen und Hyazinthen betupft, war von Beeten gesäumt, wo alle möglichen Pflanzen – vermutlich Heil- und Küchenkräuter – in ordentlichen Reihen oder als niedrige Büsche wuchsen. Die Aprilsonne war zum Vorschein gekommen, und der Garten war windgeschützt. Ein herrlicher Duft nach Gras und Frühlingssäften erfüllte die Luft.
Losian hatte die Hand um den Türpfosten gelegt, denn ihm war schwindelig. Er war nur bis hierher gelangt, indem er sich wie ein Trunkenbold an der Wand entlanggetastet hatte. Doch das Sonnenlicht und die Düfte zogen ihn unwiderstehlich an. Vielleicht zwanzig Schritte entfernt stand am Rand eines Beets mit sorgsam beschnittenen Beerensträuchern eine Holzbank. Zwanzig Schritte, überlegte er. Das sollte zu schaffen sein.
Zögernd ließ er den Türpfosten los und machte sich mit kleinen, nicht ganz sicheren Schritten auf den Weg. Er hatte sein Ziel beinah erreicht, als Miriams Stimme hinter seiner linken Schulter sagte: »Ich glaube nicht, dass das eine sehr kluge Idee ist.«
Losian fuhr erschrocken herum, geriet ins Wanken, torkelte zwei Schritte rückwärts und landete unsanfter als beabsichtigt auf der Bank. Großartig, beglückwünschte er sich. Du bietest gewiss einen erheiternden Anblick. Und seine kaum verheilte Wunde meldete deutliche Proteste gegen all diese raschen und ruckartigen Bewegungen an …
Miriam kniete am Beetrand im Gras und machte sich mit einer kleinen Harke an den zarten Pflänzchen zu schaffen, die gerade erst aus der Erde lugten. Ihre Hände waren voller Erde, aber nicht eine Krume hatte ihr schlichtes blaues Kleid verunziert, und das weiße Tuch, das sie um Kopf und Schultern trug, war ebenso makellos.
»Vielleicht habt Ihr recht«, räumte er ein. »Ich schätze, Euer Vater wird mir den Kopf abreißen, wenn er mich hier draußen erwischt.« Erst recht, wenn er mich allein mit dir hier draußen erwischt, fügte er in Gedanken hinzu. Er hatte so eine Ahnung, dass sich das bei Juden ebenso wenig gehörte wie bei anständigen Christenmenschen. »Ich hoffe darauf, dass er noch ein Weilchen bei seinen Kunden festgehalten wird.«
»Patienten«, verbesserte sie unwillkürlich, sah ihn unverwandt an, die Hände jetzt untätig im Gras, und auf einmal lächelte sie. »Ich hoffe das auch, um Euch die Wahrheit zu sagen. Denn er schätzt es nicht sonderlich, wenn ich im Garten arbeite.«
»Warum nicht, in aller Welt? Ich dachte, alle Väter wären erleichtert, wenn ihre Töchter fleißig sind, statt die Tage vor dem Spiegel zu verbringen und bunte Bänder in ihr Haar zu flechten.«
Sie betrachtete ihn mit leicht zur Seite geneigtem Kopf. Er fand es unmöglich, zu ergründen, was sie dachte. Vielleicht war die Vorstellung von Bändern im Haar ihr fremd und suspekt. Vielleicht fand sie ihn unverschämt. Er wusste es nicht, und mit einem Mal war er verlegen.
»Er bezahlt einen Nachbarssohn, um den Garten in Ordnung zu halten«, erklärte Miriam ernst. »Er denkt, es gehört sich nicht für eine Frau aus guter Familie. Er ist wie alle Väter. Ein wenig rückständig.« Der liebevolle Ton stand in seltsamem Widerspruch zu den unverblümten Worten. »Aber der Nachbarssohn weiß Storchschnabel nicht von Schellkraut zu unterscheiden und richtet hier mehr Unheil als Ordnung an, wisst Ihr.«
»Sehen sie sich denn ähnlich? Storchschnabel und Schellkraut?«, fragte Losian.
Sie stand aus dem Gras auf, trat ein paar Schritte nach links, beugte sich herab und rupfte ein Blatt von einer kleinen Pflanze. Dann suchte sie die braune Erde einen Moment mit den Augen ab, entdeckte, was sie wollte, und erntete noch ein wenig junges Grün. Sie trat zu der Bank und streckte Losian die Hände entgegen, in jeder ein Blättchen.
Er betrachtete sie eingehend, wobei er Mühe hatte, den Blick auf das Grünzeug zu konzentrieren, nicht auf ihre schmalen Handflächen, deren rosige Haut durch die dünne Schicht aus Gartenerde schimmerte. »Ja. Ich sehe, es ist schwierig, sie zu unterscheiden.«
»Nur für das ungeschulte Auge«, gab sie zurück. »Und wenn man im Zweifel ist, kann man immer noch seiner Nase folgen. Storchschnabel hat einen unverwechselbaren Duft. Seht ihr?« Sie rieb mit dem Daumen der Linken über das Blatt in ihrem Handteller und hielt es ihm dann hin.
Losian schnupperte und hob mit einem überraschten Lächeln den Kopf. Es war ein starker, würziger Duft, der beinah in der Nase prickelte, aber sehr wohlriechend. »Und welches von beiden ist nun das unerwünschte Unkraut?«, wollte er wissen.
»Das hängt davon ab, wen ihr fragt. Das Schellkraut, würden gelehrte Leute wie mein Vater antworten, aber die englischen Kräuterweiber schwören, es lindert Gallenbeschwerden.«
»Und was kann … wie heißt es? Storchschnabel?«
»Blutungen stillen, Hautkrankheiten heilen, das Blut reinigen und ein paar andere Dinge, über die man nicht spricht.«
Losian nickte, gebührend beeindruckt. »Woher wisst Ihr diese Dinge, wenn man nicht darüber spricht?«, fragte er neugierig.
»Mein Vater gerät gelegentlich ins Schwärmen, wenn er über die noble Kunst der Medizin referiert, und vergisst, wer ihm zuhört.«
Das Wort »referiert« war Losian fremd. Er ahnte, was sie meinte, aber es beschämte ihn, dass dieses Mädchen seine Sprache besser konnte als er selbst. Und ein wenig ärgerte es ihn auch. Er wusste nichts zu sagen.
Miriam setzte sich zu ihm – leider an das andere Ende der Bank – und betrachtete ihn einen Moment eingehend. »Ihr seht elend aus, Monseigneur. Seid Ihr sicher, dass Ihr nicht lieber noch das Bett hüten solltet?«
Er wandte den Blick ab. Der ihre war ihm zu besorgt. Es war nicht Besorgnis, die er in diesen Augen sehen wollte. »Ich bin mir nur sicher, dass ich genug davon hatte, die Decke anzustarren«, bekannte er. »Wobei es eine sehr großzügige, behagliche Kammer ist, in die Euer Vater mich hat bringen lassen. Ihr sollt nicht denken, ich sei undankbar.«
»Es ist das Gemach meines Bruder«, klärte sie ihn auf. »Meines älteren Bruders David, meine ich. Er ist mit meinem Onkel in London.«
»Euer Bruder ist Kaufmann wie Euer Onkel, nicht Arzt?«, fragte er.
Miriam rollte die zarten Blätter in ihren Händen zu kleinen Röhrchen zusammen, schaute darauf hinab und schüttelte den Kopf. »David wird einmal Arzt werden wie Vater. Aber das wird noch dauern – er ist erst siebzehn. Er und mein Onkel sind nicht geschäftlich in London, sondern zu einer Beerdigung. Ein Goldschmied aus Lincoln, der unser Cousin war. Wir haben viele Cousins.«
»Er lebte in Lincoln und wird in London begraben?«, wunderte sich Losian.
»In London ist der einzige jüdische Friedhof in ganz England.«
Losian schwieg schockiert. Was für eine Mühe, für jeden Toten solch eine beschwerliche Reise antreten zu müssen. Ob die Bischöfe nicht erlaubten, dass Juden auf christlichen Friedhöfen beigesetzt wurden? Oder waren es die Juden, die das nicht wollten? Er hätte es gern gewusst, aber er wagte nicht, sie zu fragen. Sie sollte ihn weder für dumm noch für taktlos halten.
»Ich denke, sie kommen nächste Woche zurück. Zum pessach-Fest«, fuhr Miriam fort. »Und danach wird mein Bruder heiraten.«
»Mit siebzehn?«
»Wir heiraten jung«, erklärte sie mit einem Achselzucken. »So schreibt das Gesetz es vor, denn es ist Gottes Wille.«
Er spürte, dass die Aussicht auf die Heirat ihres Bruders sie nicht glücklich machte. »Und er wird mit seiner Braut in dieses Haus ziehen?«, tippte er.
Miriam nickte und erhob sich ohne Eile. »Ihr müsst mich nun entschuldigen, Monseigneur.«
Er hatte den Verdacht, dass er sie mit seinen Fragen vertrieben hatte. »Aber was wird aus Storchkraut und Schellschnabel, wenn Ihr jetzt schon das Feld räumt?«
Sie lachte. Es war nur ein stilles kleines Lachen, aber ihr ganzes Gesicht erstrahlte, und für einen Moment funkelte Übermut in den großen, fast schwarzen Augen. »Storchkraut und Schellschnabel sorgen für sich selbst.« Damit wandte sie sich ab, las ihre Harke aus dem Gras auf und ging zur Küchentür hinüber, hinter der sie verschwand.
Keinen Herzschlag zu früh. Losian hatte gerade erst damit angefangen, sie zurückzusehnen und wie ein verliebter Narr auf die Tür zu starren, durch welche sie das Haus betreten hatte, als Miriams Vater aus der gegenüberliegenden Pforte in den Garten kam – zusammen mit den Zwillingen und Grendel.
»Ah«, machte Godric. »Hier steckst du. Wir fingen schon an zu glauben, diesmal hätte Regy dich aufgefressen.«
Ehe Losian antworten konnte, fuhr Josua ihn barsch an: »Ich kann mich nicht entsinnen, Euch erlaubt zu haben, das Bett zu verlassen.«
»Und ich kann mich nicht entsinnen, dass ich Eurer Erlaubnis bedürfte, Josua ben Isaac. Im Übrigen besteht kein Grund, mich so grimmig anzuschauen. Ich wollte ein wenig Frühlingsluft und Sonne. Aber ich merke, dass ich nun bald lange genug auf war, und werde mich in Kürze folgsam wieder hinlegen. Zufrieden?«
Die gefurchte Stirn glättete sich. »Einigermaßen.«
Die Zwillinge ließen sich an seiner Seite nieder, wie üblich in einer perfekt abgestimmten, geradezu graziösen Bewegung. Grendel setzte sich vor Losian, bettete den Kopf auf sein Knie und klopfte mit der buschigen Rute auf den Rasen.
»Ich muss gestehen, ich bin erleichtert, dich in einem Stück zu sehen, Mann«, bekundete Godric. »Das beruhigt mein Gewissen.«
Losian kraulte Grendel hinter den Ohren. »Wir haben alle gewusst, dass so etwas früher oder später passieren würde. Man könnte auch sagen: Ich kannte mein Risiko.«
»Es macht dir gar nichts aus, he? Dass er dich um ein Haar umgebracht hätte?«, fragte Wulfric. »Ehrlich, das kann ich nicht verstehen.«
Losian dachte einen Moment darüber nach. Es stimmte: Es war eigenartig, dass er so wenig Groll auf Regy verspürte. Vielleicht hatte der ja recht gehabt, als er behauptet hatte, er sei Losians dunkles Spiegelbild. Es war ein abscheulicher Gedanke. Losian wechselte lieber das Thema. »Wie ist es euch ergangen?«
»Was glaubst du wohl?«, entgegnete Godric mit einem breiten Grinsen. »Wir schlafen warm und trocken und werden regelmäßig gefüttert. Schön, wir sind wieder eingesperrt so wie früher, aber es ist doch sehr viel erträglicher.«
»Eingesperrt?«, wiederholte Losian argwöhnisch. »Was heißt das?«
»Ich habe Eure Freunde gebeten, das Haus nicht zu verlassen«, erklärte Josua, der offenbar mehr Englisch verstand, als er sprach. »Es ging nicht anders.«
Losian schaute zu ihm hoch. »Was hat das zu bedeuten?«
Die Zwillinge standen auf. »Wir wollen ein bisschen Holz hacken, Losian. Bis später«, sagte Wulfric. »Komm mit, Grendel.«
Den Hund im Schlepptau schlenderten sie gemächlich davon, blieben in einem Klecks Sonnenlicht stehen, steckten die Köpfe zusammen, redeten und lachten, ehe sie durch einen kleinen Torbogen in der Gartenmauer in den vorderen Hof verschwanden.
Josua nahm ihren Platz auf der Bank ein. »Sie sind zu beneiden. Ich kenne kaum einen Menschen, der so ausgeglichen und zufrieden ist wie diese beiden. Dabei haben sie alles verloren, wie Simon mir erzählte. Und sind niemals auch nur für einen winzigen Moment allein. Wie machen sie das nur?« Es klang beinah fassungslos.
»Ich weiß es nicht«, gestand Losian. »Ich kenne sie jetzt seit beinah drei Jahren, aber ich habe ihr Geheimnis noch nicht ergründet. Die Quelle ihrer Ausgeglichenheit ist ihre Anspruchslosigkeit. Ihre Gabe, alles im Leben so anzunehmen, wie es kommt. Aber wieso sie diese Weisheit besitzen oder wie man sie erlernt, habe ich noch nicht herausfinden können.«
Josua betrachtete ihn einen Moment, legte dann den Kopf zurück und blinzelte in die Frühlingssonne. »Ich könnte sie operieren, wisst Ihr. Sie trennen, meine ich. Dergleichen ist schon gelungen, ich habe davon gehört und darüber gelesen. Ich habe sie mir angesehen; sie waren sehr geduldig. Es ist keine große Fläche, an der sie zusammengewachsen sind.«
»Wie stünden die Chancen?«, fragte Losian.
»Schwer zu sagen. Einer könnte sterben. Natürlich könnten auch beide sterben. Bei einer Operation gibt es keine Gewissheiten, niemals. Aber sie könnten auch beide überleben. Was denkt Ihr? Soll ich es ihnen vorschlagen?«
Losian musste nicht lange überlegen. »Auf jeden Fall. Das können nur Godric und Wulfric entscheiden.«
Josua nickte versonnen. »Und wie steht es mit Euch? Ist der Traum wiedergekommen?«
»Seit Ihr Euer Teufelszeug nicht mehr in mich hineinschüttet, nicht.«
»Hm. Ihr erholt Euch gut. Ihr seid dürr und geschwächt, aber Ihr verkraftet die Verwundung und den Blutverlust besser, als ich es je erlebt habe.«
»Das muss an der guten Pflege liegen.«
»Nein. Es liegt daran, dass Euer Körper daran gewöhnt ist. Er erinnert sich an Dinge, die Ihr vergessen habt. Ihr wart Soldat. Und oft verwundet, das kann ich sehen. Der menschliche Körper ist ein ewiges Geheimnis. Voller Überraschungen. Enorm anpassungsfähig, zum Beispiel. Der Eure ist daran gewöhnt, Verwundungen zu verkraften.«
Losian sann darüber nach. Womöglich war es so, erkannte er. Der Schmerz, die Schwäche, das Fieber – sie hatten ihm zu schaffen gemacht, aber ihm ging auf, dass sie alle keine Fremden waren. Er konnte sie erdulden wie unliebsamen, aber vertrauten Besuch. Mit Ergebenheit und einem gewissen Maß an Routine.
»Warum untersagt Ihr meinen Freunden, das Haus zu verlassen?«, fragte er. Es war etwas, das ihn beunruhigte.
»Ich würde keinem Gast in meinem Haus etwas untersagen, Losian. Das verstößt gegen unsere Auffassung von Gastfreundschaft. Ich habe sie lediglich darum gebeten, zumindest bei Tageslicht das Haus nicht zu verlassen. Es ist eine traurige Notwendigkeit. Zwischen den Juden und Christen von Norwich steht es nicht zum Besten. Sowohl Euer Bischof als auch unser Rabbiner verbieten, dass sie mehr als den notwendigen Kontakt pflegen, und wir dürfen eigentlich keine Christen bei uns beherbergen.«
»Warum nicht?«
Josua erhob sich. »Das ist eine lange Geschichte. Ich erzähle sie Euch unter der Bedingung, dass Ihr sie im Liegen hört. Kommt. Ich will mir die Wunde ansehen.«
Losian stand auf, und als Josua seinen Arm nahm, war sein erster Impuls, sich loszureißen. Aber er beherrschte sich. Weil er nicht unhöflich sein wollte, vor allem aber, weil er merkte, dass er ohne Hilfe nicht bis zu seinem Bett gelangen würde. Sie legten den kurzen Weg schweigend zurück, und als sie ankamen, war Losian schweißgebadet. Erleichtert ließ er sich in das himmlisch weiche Kissen sinken und schloss die Augen, bis das Rauschen in seinen Ohren abebbte.
»Schmerzen?«, fragte Josua sparsam.
»Kaum noch«, erwiderte Losian. »Ihr versteht Euch wahrlich auf Eure Kunst, Josua.«
Der nickte, als sei dieses Kompliment nur angemessen, schob das seltsame, jüdische Gewand hoch, in welchem Losian erwacht war und das vermutlich ebenso Josuas Ältestem gehörte wie diese Kammer, und nahm den Verband ab, der Losian geradezu lächerlich dick erschien.
»Hm.« Der Arzt brummte zufrieden. »Gutes Heilfleisch. Ich werde die Fäden jetzt entfernen, denke ich. Wenn sie zu lange im Fleisch bleiben, schaden sie mehr, als sie nützen, weil sie Entzündungen verursachen können.«
Losian hob den Kopf an, um selbst einen Blick auf das Malheur zu werfen. Als er sah, wie groß die Wunde gewesen war, nachdem Josua den Wundbrand herausgeschnitten hatte, wurde ihm flau, und er ließ den Kopf rasch wieder zurücksinken. »Ihr wolltet mir erklären, warum es Schwierigkeiten zwischen Juden und Christen in Norwich gibt.«
Josua zog sich einen Schemel heran, setzte sich und zückte ein sehr kleines Messer, mit dem er sich an die Arbeit machte. »Der erste König William hat die Juden aus der Normandie vor über siebzig Jahren eingeladen, sich in England niederzulassen, und seither stehen wir in diesem Land unter dem Schutz der Krone. Nicht weil die Könige uns so innig ins Herz geschlossen haben, sondern weil sie und ihre Lords sich gern Geld bei uns leihen.«
»Juden sind so reich, dass sie Geld verleihen können?«
»Manche schon. Und unsere Religion verbietet es nicht, Geld gegen Zins zu verleihen, anders als Eure.«
»Oh. Wucher.« Losian versuchte, jede Missbilligung aus seiner Stimme herauszuhalten, aber es gelang ihm nicht ganz.
»Sagt mir, mein junger Freund, wenn Ihr Wollhändler wäret, und Ihr würdet einen Sack Wolle für ein Pfund von einem Schafzüchter kaufen und für eineinhalb auf dem Wollmarkt von Norwich verkaufen, wäre das anstößig?«
»Natürlich nicht. Wäre ich Wollhändler, müsste ich mit diesem halben Pfund Differenz schließlich meinen Lebensunterhalt bestreiten … Was genau tut Ihr da eigentlich?« Es brannte und fühlte sich an wie Dutzende kleiner Nadelstiche.
»Ich verwende Seidenfäden zum Nähen von Wunden. Sie sind schön dünn. Aber nicht ganz glatt, darum verhaken sie sich gelegentlich, wenn man sie wieder herauszieht.«
»Gelegentlich«, murmelte Losian bissig. »Ihr wollt also sagen, Geldverleihen gegen Zins sei nicht anstößiger, als einen Sack Wolle mit Gewinn zu verkaufen?«
»Richtig. Und es wird ja auch niemand gezwungen, unser Geld zu leihen. Aber die Normannen und inzwischen auch viele angelsächsische Kaufleute machen gern davon Gebrauch. Die Bischöfe runzeln jedoch die Stirn darüber, und wenn die Schuldner merken, dass die Zinsen drücken, entwickeln manche plötzlich moralische Bedenken gegen das Geschäft des Geldverleihens und gegen Juden.«
Losian musste grinsen. »Das kann ich mir vorstellen.«
»Auch das ist ein Grund dafür, warum der König uns schützt und uns hier in Norwich und in anderen Städten Land in unmittelbarer Nähe der Burg gegeben hat. Und das ist ein Segen.« Er arbeitete einen Moment schweigend und mit konzentriert gerunzelter Stirn, ehe er fortfuhr: »Vor drei Jahren geschah ein Unglück. Ein junger Gerberlehrling wurde tot im Wald von Mousehold Heath aufgefunden, vor den Toren der Stadt. Sein Name war William.«
»Die Raufbolde, die Moses neulich abends auf der Straße aufgelauert haben, erwähnten einen William, den die Juden angeblich umgebracht hätten«, fiel Losian ein, und er zuckte leicht zusammen, als Josua einen besonders widerspenstigen Faden aus seinem Fleisch zog.
»Vergebt mir«, murmelte der Arzt zerstreut. »Ja, es war dieser Lehrjunge, den sie meinten. Er war ein netter Bursche. Kam häufig ins Judenviertel, um für seinen Meister Ware auszuliefern, manchmal auch zu uns. Dann, wie gesagt, starb er plötzlich. Ich habe seinen Leichnam gesehen, und ich wäre bereit zu beschwören, dass es eine Pilzvergiftung war, die ihn umgebracht hat. Aber … Nun ja. In der Stadt kam ein Gerücht auf, wir Juden hätten ihn entführt und irgendeinem grauenvollen Ritual unterzogen, sein Blut getrunken oder was weiß ich, und ihn schließlich getötet. Niemand weiß so recht, wo es herkam, dieses Gerücht. Aber es verbreitete sich wie ein Feuer im Schilf. Einige Männer rotteten sich zusammen, und ein Priester führte sie ins Judenviertel, um Rache zu nehmen. Wenn der Sheriff nicht eingeschritten wäre, hätte es ein Blutbad gegeben.« Er brach ab, entfernte den letzten Faden mit einem kleinen Ruck und stand auf, um einen irdenen Topf mit Salbe vom nahen Tisch zu holen. »Seither sind die Dinge schwierig«, fuhr er fort, als er sich wieder setzte. »Der neue Bischof von Norwich berichtet beinah täglich von Wundern, die an Williams Grab geschehen sein sollen. Pilger kommen in die Stadt, um das Grab zu besuchen. Inzwischen aus ganz East Anglia, hört man. Sie bringen viel Geld, das der Bischof gut gebrauchen kann, denn der Bau seiner riesigen neuen Kirche hat Unsummen verschlungen. Er hat den Papst aufgefordert, den Jungen heiligzusprechen. Als Märtyrer, versteht Ihr.«
Losian richtete sich auf und schob Josuas Hand weg, die Salbe auf die beinah verheilte Wunde streichen wollte. »Augenblick. Ihr bezichtigt einen Bischof der Heiligen Kirche, aus Habgier Lügen über euch zu verbreiten und die Menschen gegen euch aufzubringen? Ist es das, was Ihr mir zu erklären versucht?«
Josua sah ihm in die Augen. »Ich bezichtige Euren Bischof nicht. Ich schildere lediglich, was sich zugetragen hat. Womöglich glaubt Turba – das ist der Bischof von Norwich – wirklich, dass der junge William ein Märtyrer ist und wir Juden ihn getötet haben. Aber es ist nun einmal nicht wahr. Wahr hingegen ist, dass er nur dann einen Märtyrer und Heiligen aus William machen kann, wenn er die Menschen von Norwich und die Pilger, die herkommen, und den Papst in Rom glauben macht, dass wir den Jungen getötet haben. Ich behaupte nicht, dass er uns böswillig verleumdet. Aber es dient seinen Interessen, die Schuld bei uns zu suchen, und er wäre nicht der erste Mann, dessen Überzeugung von seinen Interessen geleitet wird. Das ist nur menschlich, mein normannischer Freund.«
Losian wandte den Kopf ab und dachte eine Weile nach. Er war verwirrt und unsicher, was er glauben sollte. Josua ben Isaac hatte ihm und seinen Gefährten eine Freundlichkeit und Großzügigkeit entgegengebracht, die ihresgleichen suchte. Bis vor einer Viertelstunde hätte Losian ihn einen ehrbaren und grundanständigen Mann genannt. Aber eine Stimme in seinem Innern warnte ihn, dass kein ehrbarer und anständiger Mann jemals solche Dinge über einen Bischof sagen würde.
»Haltet Ihr mich für einen Lügner, Losian?«
Losian blickte ihn wieder an. »Nein.«
»Für einen Mörder?«
»Natürlich nicht.«
»Aber Ihr denkt, dass ich ein Ungläubiger bin, also in irgendeiner Weise unrecht haben muss, sozusagen von Geburt an, Euer Bischof aber recht, weil er die Kirche des einzig wahren Gottes vertritt? Das müsst Ihr glauben, nicht wahr, weil der Krieg, in den Ihr für diesen Glauben gezogen seid, andernfalls unsinnig wäre.«
Losian wurde ganz heiß von diesen ketzerischen Worten. Er stützte einen Moment die Stirn in die Hand und schüttelte dann den Kopf. »Ihr habt recht. Und wie könnte ich aufhören, diese Dinge zu glauben, sind sie doch das Einzige, was von mir übrig ist? Von dem Mann, der ich einmal war.«
»Das solltet Ihr Euch nicht einreden. Es ist weit mehr übrig als das. Ihr seid immer noch derselbe Mann, der Ihr immer wart, auch wenn Ihr seinen Namen und seine Geschichte vergessen habt.«
»Weil ich besessen bin«, sagte Losian tonlos. »Und wenn das stimmt, wie kann ich dann wissen, wer mein Tun bestimmt? Der Mann, der ich einmal war, oder der Dämon, der die Erinnerungen dieses Mannes auffrisst?«
»Ihr seid nicht besessen, Losian.«
»Woher wollt Ihr das wissen?«
»Weil die Symptome nicht dafür sprechen.«
»Und doch haben die Mönche es gesagt. Sie waren grausam und ohne Mitgefühl, wie King Edmund immer betont, aber das ändert nichts daran, dass ihr Abt ein gerühmter Heiler ist. Wieso sollte ich Euch mehr Glauben schenken als ihm? Wieso soll ich nicht annehmen, dass Ihr sein Urteil in Zweifel ziehen wollt, um gleichzeitig auch das des Bischofs von Norwich fragwürdig erscheinen zu lassen?«
»Du meine Güte. Auf welch verschlungenen Pfaden Ihr denkt«, verwunderte sich Josua. »Dann sagt mir dies: Der Abt hat auch behauptet, Simon sei besessen. Glaubt Ihr das?«
»Nein«, musste Losian einräumen. »Er hat die Fallsucht, das ist alles.«
»So ist es. Sie ist ein unheilbares Gebrechen wie Blindheit oder ein Buckel, nur dass sie sich nicht permanent bemerkbar macht. Es hat nichts mit Dämonen zu tun, so wenig wie Euer Gedächtnisverlust. Ich bin seit zwanzig Jahren Arzt und habe Menschen gesehen und behandelt, die besessen waren. Die Dämonen manifestieren sich auf höchst unterschiedliche Weise, aber zwei Symptome sind immer erkennbar: Die Besessenen sprechen in Sprachen, die sie gar nicht beherrschen. Und wenn der Dämon sie verlässt oder ausgetrieben wird, was nach einigen Stunden, aber ebenso erst nach Jahren sein kann, dann haben sie keinerlei Erinnerung an den Zeitraum ihrer Besessenheit. Habt Ihr je das Gefühl, dass Euch einzelne Stunden oder Tage fehlen?«
»Nein, aber …«
»Haben Eure Gefährten je berichtet, dass Ihr plötzlich in einer fremden Sprache geredet habt?«
»Nein, aber …«
»Dann seid Ihr auch nicht besessen. Glaubt einem alten Mann, der weiß, wovon er spricht, weil es keine Krankheit, keine Verwundung und kein Gebrechen gibt, die er nicht gesehen hat.«
Schweigend sah Losian zu, während Josua einen dünnen Film Salbe auf die Wunde strich und einen neuen Verband anlegte. Seine schmalen Hände waren geschickt und absolut sicher. Es konnte keinen Zweifel geben, Josua ben Isaac war ein guter Arzt. Allein die Tatsache, dass Losian noch lebte, bewies das. Aber war er auch vertrauenswürdig?
Josua legte ihm die Hand auf die Schulter und drückte ihn behutsam zurück in die Kissen. »Schlaft. Morgen könnt Ihr für ein, zwei Stunden aufstehen, denke ich. Und dann reden wir weiter.«
In den ersten Tagen nachdem er Losian angegriffen hatte, war Regy teilnahmslos und kaum ansprechbar gewesen. Er saß reglos an den Pfeiler im leeren Tuchlager gelehnt und rührte die Speisen nicht an, die sie ihm brachten. Trotzdem gingen die Zwillinge und Simon jetzt immer zu dritt zu ihm, und während Godric und Wulfric das verschmähte Essen, den Wasserkrug und zähneknirschend auch den Eimer austauschten, den sie später zum Abort trugen, hielt Simon Regy die Spitze seines erbeuteten Schwerts an die Kehle und ließ seine Hände niemals auch nur für einen Lidschlag aus den Augen.
Über zehn Tage lang hatte Regy keinen von ihnen eines Blickes, geschweige denn eines Wortes gewürdigt, doch als sie an diesem Morgen ins Tuchlager kamen, war der Teller geleert, und als Simon seine Waffe zückte, bemerkte Regy: »Weißt du, ich könnte dir verzeihen, wenn du mir die Kehle durchschneidest, aber ich würde dir nie vergeben, wenn du es mit so einer miserablen Klinge tätest. Es hat mehr Ähnlichkeit mit einem Fleischermesser als mit einem Schwert, oder?«
»Also genau angemessen für dich, oder?«, konterte Simon.
Regy gluckste. »Touché, mein Augenstern. Ist Losian verblutet?«
»Nein.« Simon bemühte sich um eine verschlossene Miene. Regy sollte auf gar keinen Fall sehen, wie krank Losian gewesen war und wie sie um ihn gebangt hatten.
Abwechselnd hatten sie an seinem Lager gewacht, Tag und Nacht zuerst, als es so schlimm gewesen war. Auch Oswald und Luke hatten darauf bestanden, sich zu beteiligen, doch konnte man ihnen die Sorge um den Kranken nicht allein anvertrauen, was für Simon, King Edmund und die Zwillinge manche Doppelschicht bedeutet hatte. So hatte Simon also viele Stunden Gelegenheit gehabt, zuzuschauen, wie Verwundung und Fieber an Losian zehrten, und sich furchtsam zu fragen, was in aller Welt aus ihm und den anderen werden sollte, wenn sie ihn verlören.
»Und was mag dieses knappe, kühle Nein zu bedeuten haben?«, fragte Regy. »Ist er auf dem Wege der Besserung? Oder röchelt er nur noch ein bisschen zum Abschied?«
»Und warum sollte ich das ausgerechnet dir erzählen?«, stieß Simon wütend hervor.
Regy hob gelassen die Schultern. »Nun, früher oder später finde ich es ohnehin heraus.«
Die Zwillinge stellten Becher und Krug vor ihm ab.
»Danke«, sagte Regy artig, neigte den Kopf zur Seite, sah von einem zum anderen und fragte: »So untypisch niedergeschlagen? Was mag es sein, das euch bedrückt?«
»Ist dir nicht gut, Mann?«, fragte Godric verdrossen. »Fehlt dir irgendwas? Ein Tritt in die Weichteile vielleicht?«
Sein Bruder zog ihn unauffällig zurück. »Lasst uns gehen«, murmelte er, und schweigend verließen die drei jungen Männer das Tuchlager. Simon vergewisserte sich zweimal, dass der Riegel der stabilen Tür bis zum Anschlag vorgeschoben und das Vorhängeschloss eingerastet war.
Sie gingen in den Garten hinaus. Der Vormittag war verhangen und kühl, aber trocken, und auf dem Rasen warfen Oswald und Moses sich einen Ball zu. Jedes Mal, wenn Oswald ein Fang glückte, jauchzte er. Das wiederum amüsierte seinen Spielgefährten. Obwohl sie kaum ein Wort miteinander reden konnten, waren Moses und Oswald recht gute Freunde geworden.
Losian saß auf der Bank und schaute ihnen zu. Simon und die Zwillinge traten zu ihm.
»Wie fühlst du dich?«, fragte Wulfric.
»Lebendig«, antwortete Losian mit einem kleinen Lächeln und rückte zur Seite, um ihnen Platz zu machen. »Ich sehe, ihr habt euch entschieden.«
Die Zwillinge setzten sich neben ihn und nickten. »Wir tun’s nicht«, erklärte Godric.
Simon ließ sich auf dem letzten freien Stück Bank nieder. »Es wäre besser gewesen, Josua hätte euch nicht gefragt. Es ist eine teuflische Wahl, vor die er euch stellt.«
»Das ist meine Schuld«, bekannte Losian. »Er hat mich um Rat gebeten, ob er euch diese … wie heißt das? Operation?« Und als die Zwillinge wiederum stumm nickten, fuhr er fort: »… diese Operation vorschlagen soll. Ich habe geantwortet, dass ihr das nur selbst entscheiden könnt.«
Wulfric seufzte. »Du hast natürlich recht. Aber übermäßig dankbar bin ich dir nicht.«
»Ich werde vermutlich auch das überleben …«
»Ja, spotte nur, Losian. Wahrscheinlich hältst du uns für Feiglinge. Aber du kannst das nicht verstehen. Niemand kann das verstehen. Gott hat uns so in die Welt geschickt. Wir fürchten uns davor, dass er uns anders nicht will. Dass er einen von uns draufgehen lässt, wenn wir’s versuchen. Dass wir …«
Er brach ab, aber Simon konnte sich vorstellen, was Wulfric meinte: Die Zwillinge hatten sich ihr Leben lang in vieler Hinsicht als nur ein Wesen betrachtet. Gewiss, sie hatten zwei Körper, vier Arme und Beine, zwei Herzen und zwei Köpfe. Aber sie hatten vom ersten Atemzug an alles gemeinsam getan. Jede Kinderkrankheit, jeden Freudentag, jeden Kummer, jeden Triumph und jede Niederlage geteilt. Die Vorstellung, diese Einheit zu verlieren, erschreckte sie. Und die Möglichkeit, die andere Hälfte vielleicht ganz zu verlieren, erst recht.
»Ich halte euch nicht für Feiglinge«, widersprach Losian. »Mir scheint eher, ihr selbst tut das, und das ist albern.«
»Er hat recht«, stimmte King Edmund zu, der unbemerkt zu ihnen getreten war und nun hinter den Zwillingen stehen blieb, um jedem eine Hand auf die Schulter zu legen. »Ihr selbst kennt die Gründe für eure Entscheidung am besten und solltet sie nicht in Zweifel ziehen. Und das Argument, dass Gott euch so und nicht anders auf die Welt geschickt hat, ist nicht von der Hand zu weisen.«
»Ja, schon, King Edmund«, sagte Wulfric unsicher. »Aber was ist, wenn Gott uns auch Josua ben Isaac geschickt hat, um uns von unserem Schicksal zu erlösen?«
»Wenn Gott meint, achtzehn Jahre war lange genug?«, warf Godric ein.
»Wenn er zum Beispiel will, dass einer von uns oder wir beide heiraten und Familien gründen?«, fuhr sein Bruder fort.
»Oder er beschlossen hat, dass ich nächstes Jahr irgendwann in einen rostigen Nagel trete und Fieber kriege, mein Bruder aber wegen meiner Unachtsamkeit nicht mit mir krepieren soll?«, schloss Godric.
King Edmund hob die Linke, als wolle er ihre Einwände fortschieben. »Ganz gleich, was ihr tut, ihr seid in seiner Hand. Das sind wir alle. Ihr habt Für und Wider abgewogen und eure Entscheidung getroffen, und nun solltet ihr aufhören, euch damit zu quälen. Denn es ist immer sein Wille, der geschieht, vergesst das nicht.«
»Ich weiß nicht«, murmelte Simon zweifelnd. »Du meinst, Gott hat Godric und Wulfric in dieses Haus geführt und vor diese Wahl gestellt, um dann doch zu bestimmen, dass sie so bleiben sollen, wie sie sind? Ist das nicht …« Er biss sich auf die Lippen. »Fall nicht über mich her, King Edmund, aber ist das nicht grausam von Gott?«
King Edmund lächelte milde. »Manchmal kommt er uns so vor, weil wir seinen Plan nicht durchschauen können. Dafür sind wir zu gering, zu klein, und sein Plan ist zu groß.«
Der Ball kam mit einigem Schwung herübergeflogen. Godric und Wulfric duckten sich, Losian hob instinktiv die Hände und fing ihn auf. Moses und Oswald kamen angelaufen, beide außer Atem.
Oswald streckte die Arme aus. »Gib ihn mir!« Seine Augen leuchteten.
Losian warf ihm den Ball zu. »Aber nur noch ein kleines Weilchen«, mahnte er. »Vergiss nicht, was Josua ben Isaac gesagt hat: Du darfst nicht rennen und dich anstrengen.«
Oswald nickte – gefügig wie immer –, sah erwartungsvoll zu seinem kleinen Freund und lachte selig, als Moses zu seiner Spielposition zurückrannte.
»Oswald hat sich gut erholt«, bemerkte King Edmund gedämpft. »Und du ebenfalls, Losian. Wann brechen wir auf?«
Simons Herz wurde schwer. Natürlich wusste er, dass sie nicht ewig in diesem Haus bleiben konnten, aber die Vorstellung, ihre ziellose Wanderschaft wieder aufzunehmen, zu hungern, zu frieren und nass zu regnen, war niederschmetternd. Er beobachtete Losian, der sich mit seiner Antwort Zeit ließ und seltsamerweise zur Küchentür hinüberschaute, während er nachdachte. »Josua hat den Wunsch geäußert, jeden von uns zu untersuchen und zu befragen. Wir sollten ihm zumindest die Gelegenheit einräumen, das zu seiner Zufriedenheit zu tun.«
»Oh, ich schätze, das hat er«, entgegnete King Edmund. »Eben ist er zu Regy gegangen, und anschließend wollte er zu Luke. Du und ich wissen, dass niemand Luke helfen kann oder Regy je ändern wird. Josua ben Isaac ist ein hervorragender Arzt, versteh mich nicht falsch, er hat Oswald das Leben gerettet und dir ebenfalls. Aber mehr kann er nicht für uns tun. Und ich spüre, dass wir bald gehen müssen. Gott will es so.«
Losian schnaubte höhnisch. »Ich glaube, das habe ich schon mal irgendwo gehört …« Deus le vult – Gott will es so – war der Schlachtruf aller Kreuzfahrer.
»Dort draußen wartet eine Aufgabe auf uns«, beharrte King Edmund. »Und sie rückt näher.«
Simon betrachtete ihn voller Skepsis. »Wie kannst du dir dessen so sicher sein?«
»Wieso bist du dir sicher, dass heute Abend die Sonne untergeht?«, konterte King Edmund. »Ich weiß es einfach. Ich schätze, es gehört zu den Dingen, die mir mit auf den Weg gegeben wurden, als ich zurückgeschickt wurde.«
Simon musste feststellen, dass er diese Behauptung nicht mehr mit der gleichen Verächtlichkeit aufnahm, wie er sie vor zwei Monaten noch empfunden hätte. Seit der Nacht in der Kirche von Gilham war er nicht mehr ganz sicher, was er glauben sollte.
Losian stand auf. »Ich zweifle nicht an deinem Wort, King Edmund. Im Übrigen bin ich auch nicht geneigt, Josua ben Isaacs Gastfreundschaft über das gebührliche Maß in Anspruch zu nehmen. Mir graut bei der Vorstellung, was geschehen könnte, wenn Regy Moses oder das Mädchen in die Finger bekäme.«
»Also? Wann gehen wir?«, fragte Edmund noch einmal. An Hartnäckigkeit war er kaum zu übertreffen.
»Wie du schon sagtest: Gottes Wille ist es, der geschieht. Er wird dafür sorgen, dass wir aufbrechen, wenn der richtige Zeitpunkt gekommen ist. Und jetzt entschuldigt mich.«
Die anderen blickten ihm nach, als er davonging – langsamer als üblich.
»Er ist noch nicht wieder so weit, King Edmund«, sagte Wulfric leise. »Er würde das ja nie zugeben, aber gönn ihm noch ein paar Tage Ruhe.«
»Ja«, stimmte Simon zu. »Wenn er uns auf der Straße umfällt und stirbt, sind wir endgültig erledigt.«
King Edmund nickte versonnen, den Blick in die Ferne gerichtet. »Ich fürchte nur, es sind nicht Genesung und Erholung, die er in diesem Haus sucht«, sagte er. »Und darum glaube ich, je eher wir aufbrechen, desto besser.«
Simon und die Zwillinge wechselten verwirrte Blicke, aber ihr Heiliger ließ sich keine näheren Erklärungen entlocken.
Losian hörte es schon, als er die Treppe hinaufkam: Dieses angstvolle Weinen, das umso herzerweichender war, weil es so verzweifelt unterdrückt wurde. Kein Zweifel, die Schlange war erwacht.
Josua ben Isaac hockte vor Luke auf dessen Strohlager und hielt seine runzlige Hand lose in der Rechten, hatte die Linke auf Lukes Stirn gelegt und redete beruhigend auf ihn ein, aber leider auf Normannisch.
Als er Losian an der Tür entdeckte, bemerkte er gedämpft: »Ich beherrsche seine Sprache nicht gut genug. Ich weiß nicht, was passiert ist. Vor vielleicht einer Viertelstunde hat es angefangen.« Er war ratlos, aber vollkommen ruhig, bemerkte Losian flüchtig. War es das, was ein guter Arzt sein musste?
»Er glaubt, in seinem Bauch haust eine Schlange«, erklärte Losian, während er hinter Luke glitt und sich hinkniete.
Josua nickte. Das hatte er offenbar bereits gehört, und er schien weder belustigt noch befremdet.
»Manchmal wacht sie auf, sagt er«, fuhr Losian fort. »Wenn ihm etwas zu schaffen macht oder einfach ohne Grund. Lasst ihn los. Ich mach das schon.«
Josua folgte seiner Bitte und sah interessiert zu, während Losian dem alten Angelsachsen vorsichtig einen Arm um die Brust legte. »Was ist passiert?«, fragte er flüsternd auf Englisch und legte die andere Hand noch behutsamer auf Lukes Bauch.
»Der komische Mann … er kam und hat Fragen nach ihr gestellt. Wie lange sie schon in meinem Bauch ist, wie sie hineingelangt ist. All das. Dinge, die ihn nichts angehen. Ihre Geheimnisse. Davon … wacht sie immer auf.« Luke war fast unfähig zu sprechen, weil die Furcht ihm die Luft abschnürte.
»Nur die Ruhe, Luke. Lass mich mit ihr reden.«
Natürlich wusste Losian ganz genau, dass es keine Schlange gab. Aber er hatte festgestellt, dass er schneller zum Erfolg kam, wenn er die Augen schloss und sich darauf konzentrierte, sie sich vorzustellen. Vor allem durfte er sich nicht dafür genieren, hinter einem weinenden, verrückten, greisen Angelsachsen zu knien, ihn zu wiegen und der eingebildeten Bestie in seinem Leib gut zuzureden und sie zu füttern, indem er Luke Brotstückchen in den Mund schob. Es war ein lächerliches, groteskes Ritual, aber sobald Losian sich das bewusst machte und sich schämte, verloren seine Worte jede Überzeugungskraft für Luke und dessen Schlange.
Inzwischen hatte er eine gewisse Finesse in dieser skurrilen Kunst entwickelt. Trotzdem dauerte es heute lange.
Schließlich entspannten sich Lukes Schultern jedoch, und er ließ den Kopf erschöpft gegen Losians Brust sinken. »Danke, Losian. Gott segne dich …« Er war bleich und wirkte zutiefst erschöpft.
Losian vermied jede rasche Bewegung, als er Luke auf sein Lager hinabdrückte und aufstand. »Ruh dich ein bisschen aus. Und dann geh hinunter in den Garten zu den Gefährten. Sie bringen dich auf andere Gedanken.«
Luke nickte wortlos, während seine Lider sich langsam schlossen. »Gott segne dich …«, wiederholte er.
Losian bedeutete dem jüdischen Arzt mit einer Geste, ihn hinauszubegleiten, und sie gingen die Treppe hinunter in den Behandlungsraum, der jetzt um die Mittagsstunde lichtdurchflutet war.
Josua schenkte Wein aus einem Krug in zwei irdene Becher und stellte einen davon vor Losian auf den Tisch. »Hier. Trinkt das. Ärztliche Anordnung.« Er setzte sich ihm gegenüber.
Losian hob den Becher mit einem kleinen Lächeln und trank. »Hm. Hervorragend.«
»Aus Aragon.« Josua trank ebenfalls, und man konnte sein Wohlbehagen sehen, als der tiefrote Tropfen seine Kehle hinabrann.
»Wo mag das sein?«, fragte Losian.
»Hm? Aragon? Weit, weit im Süden, wo es fast immer warm ist. Nichts gegen englische Weine, besonders der aus Ely ist gar nicht so übel, aber eine wirklich edle Rebe braucht viel Sonne und heiße Erde, damit der Wein seine heilende Kraft entfalten kann.«
»Wart Ihr einmal dort?«, fragte Losian neugierig weiter. »In Aragon?«
»Allerdings. In Kastilien – das ist das Nachbarland – habe ich mein Gewerbe erlernt.«
»Ihr seid ein weit gereister Mann.«
»Viele Juden sind das. Denn im Grunde sind wir heimatlos, versteht ihr. Das Land, das Ihr heilig nennt und auf das Ihr Anspruch erhebt, war einmal unser Heiliges Land. Ich schätze, das wisst Ihr aus dem, was Ihr von Eurer Bibel kennt.«
Losian nickte argwöhnisch.
Josua betrachtete ihn und lächelte dann flüchtig. »Ihr fürchtet, ich wolle den christlichen Streitern das Recht auf ihr mit so viel Blut erworbenes Königreich im Osten absprechen? Ihr habt recht. Das Land sollte uns gehören. Aber wir haben es verloren − so wie im Übrigen auch ihr es wieder verlieren werdet −, und das jüdische Volk hat sich in alle Winde zerstreut. Aber unser Gott, unsere Sprache und unsere Traditionen sorgen dafür, dass wir einander verbunden bleiben, und ganz gleich, in welchen Winkel der Welt ein Jude kommt, er wird immer einen anderen Juden finden, der ihn willkommen heißt. Viele von uns sind Kaufleute oder reisen, um berühmte Schulen und Lehrer aufzusuchen, denn wir sind ein gelehrtes Volk. Das brachte mich nach Kastilien. Oh, da fällt mir ein …« Er stand auf, ging an eine verschlossene Truhe neben der Tür, öffnete sie umständlich mit einem angerosteten Schlüssel und holte einen schweren, rechteckigen Gegenstand heraus, der in ein weiches Tuch geschlagen war. »Es ist ein Buch«, erklärte er, während er es auf dem Tisch ablegte und auswickelte. »Ein altes Buch mit Gedichten und Geschichten über die Kriege der Angelsachsen gegen die Dänen und so weiter. Eine normannische Dame gab es mir einmal als Honorar. Ich habe King Edmund versprochen, dass er einen Blick hineinwerfen darf.«
Zögernd strich Losian mit den Fingern der Linken über den rissigen Ledereinband, schob das Buch dann behutsam beiseite und verschränkte die Finger auf der gescheuerten Tischplatte. »Meine Freunde und ich sind der Ansicht, dass wir Euch bald verlassen sollten, Josua. Ich nehme an, Eure Untersuchungen sind abgeschlossen?«
Der Jude deutete ein Schulterzucken an. »Ich könnte Euch und Eure Freunde ein Jahr lang studieren, ohne dass meine Wissbegierde auch nur annähernd gestillt wäre. Aber meine strenge Tochter hat mich ermahnt, nicht zu vergessen, dass Ihr menschliche Wesen seid, keine Studienobjekte, die Gott zu meiner Erbauung hergeführt hat.«
Losian musste lächeln, als er sich die Szene vorstellte. »Eine kluge junge Frau, Eure Tochter.«
»Das ist sie.« Josua trank einen Schluck. »Es wird höchste Zeit, dass ich einen Mann für sie finde – meine Nachbarinnen liegen mir allenthalben damit in den Ohren. Eigentlich sollte Miriam längst verheiratet sein, aber ihr Verlobter starb. Zwei Monate später starb ihre Mutter. Seither hat sie mein Haus geführt, aber in wenigen Tagen wird ihre Schwägerin hier einziehen und ihr diese Rolle abnehmen, und ich weiß nicht …« Er unterbrach sich und seufzte verstohlen. »Warum erzähle ich Euch das eigentlich? Ihr habt genug eigene Sorgen. Vergebt mir, mein Freund. Ich bin ein redseliger Mann, fürchte ich, ganz im Gegensatz zu Euch.«
Losian hob kurz die Schultern. »Da ich beinah alles vergessen habe, was ich je wusste, habe ich nicht viel zu sagen.«
Josua lehnte sich auf seinem Stuhl zurück, eine Hand lose um den Becher gelegt, und betrachtete ihn eingehend. »Ich hingegen denke, dass mehr von Eurer Erinnerung da ist, als Ihr glaubt. Sie ist nur verschüttet.«
»Selbst wenn es so wäre, wie soll ich sie … ausgraben?«
»Öffnet das Buch.«
»Was?«
Josua machte eine ungeduldige, auffordernde Geste. »Na los, öffnet es. Ich möchte nur etwas versuchen.«
Zögernd zog Losian den schweren Band heran, betrachtete ihn einen Moment voller Skepsis, beinah mit Widerwillen, und schlug ihn dann irgendwo in der Mitte auf. Bräunliche Tinte auf gelben Pergamentseiten, zwei Spalten auf jeder Seite. Er ließ den Blick zur oberen linken Ecke gleiten, und mit einem Mal entwirrte sich die braune Masse der Buchstaben zu einzelnen Wörtern, und Losian murmelte: »Hörest du, Wanderer der See, was dieses Volk sagt? Speere werden sie dir als Tribut geben …« Er blickte erschrocken auf. »Jesus … Ich kann lesen.«
Josua grinste, als sei ihm ein besonders vertracktes Gauklerkunststück gelungen. »Ihr könnt lesen«, bestätigte er, und eine Art diebisches Vergnügen lag in seiner Stimme.
»Woher wusstet Ihr das?«
»Ich wusste es natürlich nicht. Aber etwas an der Art, wie Ihr redet, vor allem denkt, ließ mich ahnen, dass Euch das geschriebene Wort nicht fremd ist. Nun schaut mich nicht so argwöhnisch an. Es ist ja nicht so, als wäre das unter Männern Eurer Klasse so ungewöhnlich.«
Losian war schockiert. »Aber wieso … Wie ist es möglich, dass ich lesen kann, obwohl ich nicht weiß, dass ich lesen kann? Das ist … vollkommen widersinnig.«
Der Arzt schüttelte den Kopf. »Keineswegs. Ihr habt es bislang nur nicht entdeckt, weil Euch nirgendwo ein geschriebenes Wort begegnet ist. Aber dass Ihr die Fertigkeit des Lesens nicht vergessen habt, beweist meine Theorie.« Er hob plötzlich die Hand und legte sie auf Losians Stirn. »Es ist alles dort drin. Wir müssen nur danach graben. Es kann lange dauern, bis wir die richtige Stelle finden, wo wir graben müssen. Aber seid versichert, es gibt sie. Darum wünschte ich, Ihr bliebet noch. Für Eure Gefährten kann ich nichts tun. Doch es mangelt ihnen an nichts in meinem Haus, oder? Warum sollen sie sich nicht um Euretwillen noch ein wenig in Geduld fassen? Ihr habt wahrhaftig genug für sie getan. Jetzt können sie etwas für Euch tun.«
Losians Hände waren feucht, und sein Herz raste. Aber er zwang seine Erregung zurück, kämpfte darum, sie nicht zu zeigen, und entgegnete: »Was wird Euer Bruder sagen, wenn er heimkommt und eine Bestie in seinem Tuchlager vorfindet?«
»Ach!« Josua winkte ab. »Das lasst nur meine Sorge sein.«
»Aber Regy ist gefährlich, Josua. Für Euch, vor allem für Eure Kinder.« Losian sprach mit aller Eindringlichkeit, die er aufbringen konnte. »Er ist listig und verfügt über enorme Kräfte. Irgendwann wird es ihm wieder gelingen, jemanden zu verletzen. Er richtet all sein Streben darauf, die ganze, nicht unbeträchtliche Kraft seines Willens.«
»Ich weiß.« Josua schüttelte den Kopf. »Er ist jenseits aller Heilkunst, fürchte ich. Ich habe noch nie einen Menschen getroffen, der so entzückt von seiner eigenen Bosheit ist.«
»Ja. Es ist ein Jammer, dass er nicht dem Sheriff von York übergeben und hingerichtet wurde, als man ihn überführt hatte, denn die Welt wäre ein glücklicherer Ort ohne ihn. Aber das ist nun einmal nicht geschehen, und nun trage ich die Verantwortung für ihn. Und ich will nicht …«
»Ihr solltet Euch überlegen, ob Ihr nicht vielleicht mehr als das gebührliche Maß an Verantwortung schultert«, fiel Josua ihm ins Wort. »Wenn Reginald de Warennes Anwesenheit in diesem Haus Euch so beunruhigt, kann ich den Sergeanten des Sheriffs bitten, ihn oben auf der Burg zu verwahren. Wäre Euch dann wohler bei dem Gedanken, noch ein Weilchen unter meinem Dach zu bleiben?«
Losian antwortete nicht gleich. Abwesend schaute er auf die eng beschriebenen Seiten des Buches hinab, und schließlich sagte er: »Ich muss darüber nachdenken.«
Josua stand auf und legte ihm für einen winzigen Moment die Hand auf die Schulter. Losian schätzte das für gewöhnlich nicht, aber bei Josua machte es ihm eigentümlicherweise nichts aus. »Tut das«, riet der Arzt. »Für mich wird es Zeit, ich muss baden.«
»Baden?«
Der Arzt nickte. »Heute bei Sonnenuntergang beginnt der Sabbat, und vor dem Sabbat gehen anständige Juden ins Badehaus. Bleibt nur hier und lest ein wenig. Ich denke, es wird Euch Freude machen und Eure Gedanken anregen, was keinesfalls schaden kann. Wir sprechen uns später.« Er wandte sich zur Tür, die auf die Straße hinausführte.
»Danke, Josua. Danke für alles, was Ihr für mich und meine Freunde getan habt. Was immer die Leute von Norwich über Juden sagen, ich glaube nicht, dass es viele Christen gibt, die solcher Großzügigkeit fähig wären.«
Josua hob im Hinausgehen eine Hand, um seinen Dank für Losians Worte zu bekunden. Ohne sich umzuwenden, bemerkte er: »Ihr solltet meine Selbstlosigkeit nicht überschätzen, mein junger Freund.«
Losian las weiter in dem langen Gedicht über die Schlacht von Maldon, die die Angelsachsen unter ihrem Anführer Byrhtnoth gegen die heidnischen Dänen geschlagen und verloren hatten, und je länger er las, umso größer wurde seine Erregung. Er spürte, dass ihm dieses Gedicht vertraut war. Die Namen Byrhtnoth und Maldon waren ihm nicht fremd. So wenig wie der trotzige, stolze Ton der Worte und die Form der Verse. Er kannte dieses Gedicht.
Als er das Ende der erschütternden Geschichte von Ruhmestaten und Feigheit, Heldenmut und Tod erreicht hatte, klappte er das Buch beinah hastig zu und schob es weg, als fürchte er, es könne ihn beißen. Diese Sache war ihm unheimlich. Wie war es möglich, dass ein Lied über eine längst vergessene englische Schlacht einen normannischen Kreuzfahrer berührte wie die Liebkosung einer vertrauten Hand? Und wieso zum Henker konnte er eigentlich lesen? Kein anständiger Mann von Stand konnte lesen, oder? Nur Mönche und Priester. War er etwa Priester? Nein. Natürlich nicht. Wäre er Priester, müsste er die lateinischen Worte verstehen, die King Edmund bei der Messe sprach. Er war Soldat. Das war wohl das Einzige, was er mit Gewissheit sagen konnte. Jede Erfahrung, die er seit ihrem Aufbruch von der Insel gemacht hatte, bestärkte ihn in dieser Überzeugung. Er war Soldat, so wie Byrhtnoth und Offa und Godric und all die anderen Männer in dem Gedicht. War das der Grund? Kamen sie ihm deswegen vertraut wie Brüder vor?
Er vergrub einen Moment den Kopf in den Händen, weil das ewige sinnlose Kreisen seiner Gedanken – das Josua ben Isaac mit seinem verfluchten Buch nur verschlimmert hatte – ihn in die Düsternis zu stürzen drohte.
Ehe sie ihn lähmen konnte, stand er lieber auf und ging hinauf zu der Kammer, die er immer noch bewohnte. Es war das erste Mal seit ihrer Flucht von der Insel, dass er einen Rückzugsort hatte, wo er allein sein konnte. Wahrhaftig der einzige Luxus, den die Insel geboten hatte, und er hatte ihn schmerzlich vermisst.
Als er nun zu seinem Refugium kam, musste er indessen feststellen, dass sich bereits jemand dort aufhielt: Miriam stand mit dem Rücken zur Tür, legte etwas auf der Truhe ihres Bruders ab und wandte sich um. Sie schien fast unmerklich zusammenzuzucken, als sie Losian auf der Schwelle sah.
»Verzeiht, wenn ich Euch erschreckt habe«, bat er.
Sie ging nicht darauf ein, sondern zeigte mit einem langen, schmalen Zeigefinger zur Truhe hinüber. »Euer Gewand, Monseigneur. Sauber und ausgebessert.«
»Das war sehr gütig von Euch.« Er hatte das unbestimmte Gefühl, dass sie ihm zürnte, und konnte sich nicht vorstellen, warum. »Ihr habt gewiss genug zu tun, ohne Euch um die Garderobe der eigenartigen Gäste Eures Vaters kümmern zu müssen.«
»Oh, das macht mir nichts aus«, gab sie zurück. Ihre Stirn war leicht gerunzelt, und davon kräuselte sich ihre schmale Nase. Es sah hinreißend aus und milderte ihre Erhabenheit, die ihn gleichzeitig erschreckte und magisch anzog. »Wie Ihr ja bereits festgestellt habt, gehöre ich nicht zu den Frauen, die ihre Tage vor dem Spiegel verbringen und sich bunte Bänder ins Haar flechten, sondern ziehe es vor zu arbeiten.«
Er machte einen Schritt auf sie zu. »Womit habe ich Euch gekränkt, Miriam? Sagt es mir. Ich fürchte, dass ich neben vielen anderen Dingen auch die Regeln guten Benehmens vergessen habe.«
Miriam schüttelte langsam den Kopf. Dabei hielt sie die Lider halb gesenkt, und Losian ergötzte sich am Anblick der langen, schwarzen Wimpern. »Ihr habt mich nicht gekränkt, Losian.« Es war das erste Mal, dass sie den Namen aussprach, der nicht der seine und ihm doch so vertraut wie der Anblick seiner Hand geworden war, und es berauschte ihn, sie dieses Wort sagen zu hören, so als mache es sie zu Verschwörern, zu Hütern eines Geheimnisses, von dem niemand sonst etwas ahnte.
»Euer Freund Oswald hat Moses erzählt, dass Ihr nicht wisst, wer Ihr seid«, sagte sie.
Er nickte und wunderte sich, dass er nicht beschämt die Augen niederschlug. Aber er schämte sich nicht. Und er konnte auch den Blick nicht von ihr abwenden. »Es ist wahr.«
»Und dass Ihr verzweifelt darüber seid«, fügte sie hinzu.
»Ich kann mir nicht vorstellen, dass Oswalds Vokabular über dieses Wort verfügt.«
»Vielleicht nicht. Aber er versteht es dennoch, sich verständlich zu machen.«
Er nickte wieder.
»Ich habe darüber nachgedacht«, bekannte sie zögernd. »Und bin zu dem Schluss gekommen, dass ich Euch beneide.«
»Wirklich? Ich finde nichts, nicht das Geringste an mir, wofür man einen Mann beneiden könnte.«
»Ist Euch noch nie in den Sinn gekommen, dass Gott Euch vielleicht ein großes Geschenk gemacht hat? Welch eine Chance Ihr bekommt, weil Ihr wählen könnt, wer Ihr sein wollt? Keine Vergangenheit, kein Name, keine familiären Verpflichtungen binden Euch. Ihr könnt … Euch selbst erfinden. Und der sein, der Ihr sein wollt. Ihr seid … frei.«
Und wurzellos und namenlos, dachte er. Ein Niemand. Und doch faszinierte ihn, was sie gesagt hatte. Dieser Blickwinkel war ihm vollkommen neu. Und er war nicht ohne Reiz, stellte er fest. Doch was er sagte, war: »Ich kann nicht glauben, dass Ihr den Wunsch verspürt, Euch selbst neu zu erfinden. Wer Euch anschaut, sieht eine Frau, die in sich selbst ruht.«
»Wer mich anschaut, sieht eine Frau, die gelernt hat, sich zu beherrschen«, widersprach sie scharf, und dann fügte sie mit einem bitteren kleinen Lächeln hinzu: »Jedenfalls meistens.«
»Tja.« Losian lehnte sich mit der Schulter unauffällig an den Türpfosten, denn er litt gelegentlich immer noch unter Schwindel. Ob das an den Folgen des hohen Blutverlusts lag oder an dieser unerwarteten Begegnung, vermochte er nicht zu entscheiden. »Mir will scheinen, dass einem meist nichts anderes übrig bleibt.« Er hob die Hand zu einer vagen Geste. »Euer Vater erwähnte den Tod Eurer Mutter und Eures Verlobten. Es tut mir leid.«
Sie sah ihm unverwandt in die Augen. »Aber ich nehme an, in seiner Güte hat er vergessen zu erwähnen, dass ich meinen Verlobten auf dem Gewissen habe.«
Losian löste sich vom Türrahmen und trat zwei Schritte auf sie zu. »Wieso glaubt Ihr das?«
»Weil es die Wahrheit ist.« Miriam wandte sich ab und nickte zur Truhe hinüber. »Es war nicht ganz einfach, das viele Blut herauszubekommen. Ich hoffe, das Tuch hat nicht gar zu sehr gelitten.«
Der abrupte Themenwechsel irritierte ihn, doch er erwiderte: »Ohne Blut ist das Gewand allemal besser als mit, so viel ist sicher.«
Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. »Ich muss gehen«, sagte sie. Hörte er leises Bedauern in ihrer Stimme, oder bildete er sich das ein, weil er es hören wollte? »In einer halben Stunde beginnt der Sabbat, und ich habe noch einiges vorzubereiten. Ich hätte Euch gerne eingeladen, unser Sabbatmahl zu teilen. Eure Freunde und Euch. Aber mein Vater war dagegen.«
Losian war nicht überrascht. »Nicht all meine Gefährten sind der geeignete Umgang für eine junge Dame und ihren noch jüngeren Bruder. Das gilt vermutlich auch für mich.«
»Das war nicht der Grund«, entgegnete sie, rückte den eigenartigen siebenarmigen Kerzenleuchter auf dem schmalen Tisch ein Stück nach links und wieder zurück. Es war eine nervöse Geste. »Er sagt, unser Rabbiner billige es nicht, wenn wir Ungl… Menschen anderen Glaubens zu unseren Festen laden. Er sagt, ich dürfe nicht vergessen, dass uns eine Kluft von Euch trennt.«
»Er hat sicher recht«, stimmte Losian heiser zu, nahm ihren Arm, zog sie an sich und küsste sie. Miriam sträubte sich nicht. Einen Moment sahen ihre großen, ernsten Augen noch in seine, dann schloss sie die Lider und ließ zu, dass Losian sie fester an sich zog. Sie duftete nach irgendwelchen Kräutern oder Essenzen, deren Namen er vermutlich nie gehört hatte – fremd, betörend und schwer, und ein Hauch von Süßholz lag auf ihren Lippen.
Hör sofort auf damit, warnte die leise Stimme der Vernunft in seinem Kopf. Was denkst du dir eigentlich? Er wusste genau, dass er auf diese Stimme hören musste, dass er auf sie hören würde, aber noch nicht jetzt gleich. Er wollte Miriam nur noch einen Augenblick länger halten, ihre Zunge schmecken, das feine Leinentuch ihres Kleides spüren und die Wärme ihrer Haut darunter. Nur noch einen Augenblick …
Und dann fiel eine Hand auf seine Schulter, schleuderte ihn herum, und er fand sich Auge in Auge mit Josua ben Isaac. Die Szene im Raum war einen Moment wie erstarrt, fast als sei alle Luft aus der Kammer entwichen, sodass niemand mehr atmen konnte.
Schließlich wandte der jüdische Arzt den Kopf und tauschte einen Blick mit seiner Tochter. Miriam hielt ihm länger stand, als Losian für möglich gehalten hätte, aber dann schlug sie die Augen nieder, wandte sich langsam zur Tür und ging hinaus. Ohne Losian noch einmal anzuschauen.
Der biss die Zähne zusammen und wartete auf den Ausbruch väterlicher Entrüstung.
Doch Josua ben Isaac rührte keinen Finger. Er betrachtete seinen Gast eingehend und schüttelte dann bedauernd den Kopf. »Das habt Ihr klug eingefädelt.«
Losian räusperte sich nervös. »Ich verstehe nicht …«
»Ihr versteht mich sehr gut. Ihr habt den einzigen Weg gefunden, mich zu zwingen, Euch vor die Tür zu setzen. Ich habe Euch gezeigt, dass es vielleicht möglich wäre, Euch auf die Suche nach Eurer Vergangenheit zu machen, aber Ihr fürchtet Euch so erbärmlich davor, dass Ihr lieber davonlauft.«
Losian wusste, dass er scharfe Worte verdient hatte. Dennoch entgegnete er: »Ich mag viele abscheuliche Dinge sein, Josua ben Isaac, aber ich glaube, ein Feigling bin ich nicht.«
Einen Moment funkelte der Zorn in den dunklen Augen, aber dann nahm Josua sich zusammen. »Ihr seid ein kranker Mann. Darum verzichte ich darauf, Euch alles zu sagen, was ich auf dem Herzen habe, so schwer es mir auch fällt.«
»Eure Fäuste wären mir sehr viel lieber als Euer Mitleid.«
»Ihr werdet Euch damit begnügen müssen. Was sonst soll ich einem Mann entgegenbringen, der die Gefühle eines unglücklichen Mädchens missbraucht, um ein paar unbequemen Wahrheiten zu entrinnen?«
Losian wurde heiß und kalt von der Verachtung, die aus diesen Worten sprach. Er schüttelte langsam den Kopf. »Ich schwöre Euch, so war es nicht«, beteuerte er hilflos.
»Sondern wie?«
Er rang mit sich. Was konnte er sagen? Dass er sich in Josuas Tochter verliebt hatte? Das war zweifellos die Wahrheit. Aber ebenso wahr war, dass er sich zu jeder Frau hingezogen gefühlt hatte, der er begegnet war, seit sie auf Wanderschaft waren. Und selbst wenn es ihm dieses Mal ganz anders vorkam, was änderte das? Er atmete tief durch, um sich Mut zu machen, und sagte: »Lägen die Dinge anders … wäre ich ein anderer Mann, dann würde ich Euch vermutlich um die Hand Eurer Tochter bitten, Josua.«
Dieses Eingeständnis machte den Arzt für einen Moment untypisch sprachlos. Doch es war offenbar nicht Losians Aufrichtigkeit, die ihn verblüfft hatte, sondern seine Unverfrorenheit und Dummheit. Denn Josua erwiderte kopfschüttelnd: »Solltet Ihr eines Morgens aufwachen und Euch erinnern, dass Ihr der König von England seid, braucht Ihr Euch dennoch keine Hoffnungen auf meine Tochter zu machen, Monseigneur, denn Ihr seid kein Jude.« Er wandte sich ab. »Wenn ich morgen früh das Haus verlasse, um in die Synagoge zu gehen, würde ich es begrüßen, Euch bei meiner Rückkehr nicht mehr anzutreffen.« Grußlos verließ er die Kammer.
Losian wartete, bis die Tür sich geschlossen hatte, dann ließ er sich auf das komfortable Bett sinken, zog sich die Decke über den Kopf und verfluchte sich.