Helmsby, Juli 1147
Haimon kam an einem der letzten Julitage mit der Abenddämmerung zurück nach Helmsby und fand Alan mit dem Steward zusammen in der Scheune vor, wo sie Kornsäcke zählten.
»Nanu, Cousin!« Alan rang sich ein Lächeln ab. »Ich fing an zu glauben, du seiest nach Hause geritten.«
»Mein Zuhause ist hier«, gab Haimon zurück. Er sagte es indessen ohne erkennbare Herausforderung, so als stelle er lediglich eine Tatsache fest. »Aber ich war in Fenwick, du hast schon ganz recht.« Er streifte Guillaume mit einem Blick und ruckte rüde das Kinn zum Scheunentor. »Wie wär’s, wenn du im Speicherhaus die Erbsen zählen gehst?«
Mit versteinerten Kiefermuskeln wandte Guillaume sich ab. »Es kann bestimmt nicht schaden, nachzusehen, ob du uns welche gestohlen hast. Und ich atme sowieso nicht gern die gleiche Luft wie du.« Wütend stapfte er hinaus.
Alan wartete, bis seine Schritte verklungen waren. Dann sagte er: »Haimon, mir ist daran gelegen, in Frieden mit dir zu leben, aber ich muss dich bitten, meinen Steward nicht wie einen Hörigen zu behandeln. Er ist mein Vetter und mir teuer.«
Haimon zeigte ein spöttisches Lächeln, verschränkte die Arme und lehnte sich an einen hölzernen Pfeiler. »So wie ich?«
Alan fuhr sich mit dem Ärmel über die Stirn. Es war mörderisch heiß in der Scheune. Er trat ans Tor, sah sich suchend im Burghof um und entdeckte einen der jungen Knechte. Er pfiff durch die Zähne.
Der Junge wandte den Kopf.
»Bring mir zwei Krüge Bier, Ine.«
»Ja, Mylord!«
Ine stob Richtung Motte davon. Das Bier wurde wohlweislich in den verschließbaren Vorratsräumen unter der Halle verwahrt.
Alan kehrte in die Scheune zurück, notierte das Zwischenergebnis seiner Zählung auf einem Schiefertäfelchen, damit er später nicht noch einmal von vorn anfangen musste, und dann schenkte er Haimon seine ungeteilte Aufmerksamkeit. »Ob du es glaubst oder nicht, du bist mir teuer. Wir haben beide keine Geschwister, und unsere Mütter waren Schwestern. Wir sollten wie Brüder füreinander sein. Stattdessen war immer nur Hader zwischen uns. Aber so muss es nicht bleiben. Du und ich haben es in der Hand, die Dinge zu ändern.«
Das schien Haimon vollkommen unvorbereitet zu treffen, und für einen Lidschlag verriet seine Miene Verunsicherung. Und Bedauern. Aber er fing sich gleich wieder. »Gib mir Helmsby«, verlangte er. »Dann werde ich dich mit brüderlicher Zuneigung Abend für Abend in meine Gebete einschließen.«
Alan antwortete nicht, sondern begann, die schweren Säcke aufzustapeln, um Platz für die nächsten zu machen, die bald kommen würden. Wie er vorausgesagt hatte, segnete Gott Helmsby dieses Jahr zur Abwechslung einmal mit einer reichen Ernte, und jeden Tag kamen die Bauern, um den Teil abzuliefern, der Alan als Pacht zustand.
»Wozu schuftest du hier in der Hitze?«, fragte Haimon. Es klang ebenso verdrossen wie rastlos. »Findest du es nicht ein bisschen lächerlich, die Arbeit deiner Knechte zu tun?«
»Im Moment gibt es mehr Arbeit als Hände, um sie zu tun. Also, wie wär’s?«
»Nein, danke.«
»Wie du dich vielleicht erinnerst, habe ich immer gern mit angepackt. Das gehört zu den Dingen, die der Alan von einst und der von heute gleichermaßen schätzen.«
»Du tust es doch nur aus Eitelkeit. Um zu beweisen, was für Bärenkräfte du hast, und damit deine Bauern dich genauso anbeten, wie ihre Frauen und Töchter es tun.«
Alan arbeitete schweigend noch einen Moment weiter. Dann drehte er sich um und lehnte sich mit dem Rücken an seine Kornsäcke.
Ine kam mit dem Bier. Auf der Schwelle zur Scheune zögerte er, brachte den beiden Cousins dann jedem einen Becher und hielt den Blick gesenkt.
»Danke«, sagte Alan. »Du kannst verschwinden. Dein Vater braucht deine Hilfe beim Dreschen.«
Ine nickte scheu und verdrückte sich schleunigst wieder.
»Wenn ich dir die Wahrheit sagen soll, Haimon: Ich lege keinen gesteigerten Wert auf die Zuneigung meiner Bauern. Das wissen sie genau, und deswegen kämen sie auch im Traum nicht darauf, mich zu vergöttern. Aber dich fürchten sie, weil du ein Schinder bist. Darum kann ich dir Helmsby nicht geben. Obwohl es von Rechts wegen an dich hätte fallen sollen, das weiß ich sehr wohl.«
»Nun, das kannst du gefahrlos einräumen, wenn du im gleichen Atemzug verkündest, dass ich leider nicht würdig bin, es zu besitzen, nicht wahr?« Es sollte spöttisch klingen, aber Haimons Bitterkeit schwang in seiner Stimme.
Alan nahm einen tiefen Zug. Das Bier kam geradewegs aus dem Burgkeller und war herrlich kühl. »Wie geht es deiner Mutter?«, fragte er. Ihm fiel ein, dass er Haimon diese Frage schon an dem Tag hatte stellen wollen, als er hier in der Scheune über Henry und Susanna gestolpert war. Inzwischen wusste er wieder, dass seine Tante Eloise ein zurückgezogenes, kränkelndes Witwendasein in Fenwick geführt hatte, als er vor drei Jahren zu seiner unglückseligen Jagd nach Geoffrey de Mandeville aufgebrochen war. »Lebt sie noch?«
Haimon schüttelte kurz den Kopf und trank ebenfalls. »Vorletzten Winter hat sie die Rote Ruhr erwischt«, berichtete er, als er abgesetzt hatte.
Alan nickte wortlos.
»Sie fehlt mir«, räumte Haimon ein. »Das hätte ich ehrlich nie gedacht. Sie ist mir mit ihrem unsäglichen Selbstmitleid immer auf die Nerven gegangen. Ich meine, es hat sie ja niemand gezwungen, dich zum Verhungern bei den Torfstechern abzuliefern und damit all das Unglück über uns zu bringen. Sie hat nie eingesehen, dass sie selbst auch schuld war, und mir jahrein, jahraus die Ohren vollgejammert. Und trotzdem. Jetzt, da sie weg ist, fehlt sie mir.«
Diese gänzlich unerwartete Freimütigkeit machte Alan ein wenig Hoffnung. »Hast du eigentlich inzwischen mal geheiratet?«, fragte er weiter.
»Nein.« Haimon zeigte ein kurzes Lächeln ohne allen Frohsinn. »Ich hoffe immer noch auf eine reiche Erbin, die mir genug einbringt, dass ich mir eine Burg bauen kann, aber solche Dinge sind schwierig geworden durch den Krieg.«
»Ja, ich weiß.«
»Immerhin erspart mir das die Peinlichkeit, mit einem Sack voller Geld zum Bischof zu kriechen und eine Scheidung zu erbetteln«, frotzelte Haimon.
Alan nickte und trank noch einen langen Zug.
»Ich habe mit ihr gesprochen«, setzte Haimon ein wenig zögerlich wieder an. »Mit Susanna.«
»Das dachte ich mir.«
»Willst du wissen, wo sie ist?«
»Nein, aber ich bin überzeugt, du wirst es mir trotzdem sagen.«
»Wie ist es nur möglich, dass du ihr gegenüber so vollkommen gleichgültig geworden bist?«, fragte Haimon verständnislos. »Ich meine, du warst förmlich …«
»Besessen von ihr, ich weiß.« Es klang sehr kühl, und Alan schärfte sich ein, sich zusammenzunehmen und seinem Cousin nicht die Tür vor der Nase zuzuschlagen, die sich gerade einen Spaltbreit zu öffnen schien. »Ich habe mich in vielerlei Hinsicht geändert, Haimon. Und zu diesen Veränderungen gehört auch, dass ich auf keine der Eigenschaften mehr Wert lege, die ich an Susanna einmal so geschätzt habe. Es hat mich wütend gemacht, dass sie mich betrogen hat, aber im Grunde war es mir gleich. Weil ich sie nicht mehr wollte.«
Haimon schnaubte. »Das würde ich an deiner Stelle jetzt auch behaupten …«
Alan hob die Schultern. »Denk, was dir Spaß macht.«
Haimon sah ihn mit einem Mal neugierig an. »Hast du eine andere?«
»Noch nicht. Ich bin auch keineswegs sicher, dass ich sie bekomme.«
»Wer ist sie?«
Alan schüttelte den Kopf. »Niemand, den du kennst. Es ist noch zu früh, um darüber zu sprechen.«
»Oh, komm schon, verrat mir ihren Namen«, bat Haimon.
Alan musste lachen. »Nein.«
Haimon seufzte. Dann wechselte er das Thema. »Es muss sich merkwürdig anfühlen, sein Gedächtnis zu verlieren und dann plötzlich wiederzufinden. Hast du dich auf einen Schlag an alles erinnert?«
»Nein. An vieles. Es ist auf mich eingestürzt wie ein Haus, das in sich zusammenfällt. Merkwürdig wird dem Erlebnis nicht ganz gerecht. Es war wohl das … Erschütterndste, was mir je passiert ist. Aber ich habe immer noch Lücken. Ich weiß zum Beispiel nach wie vor nicht, was passiert ist, als ich damals von hier aufgebrochen bin.«
»Nun, wenn du es nicht weißt, weiß es wohl niemand«, bemerkte Haimon leichthin. Es schien ihn nicht sonderlich zu bekümmern. »Du bist allein losgeritten, und dann hat die Erde sich aufgetan und dich verschluckt. So kam es uns jedenfalls vor. Ich habe dich gesucht, weißt du. Wochenlang.«
Alan war gerührt, aber er entgegnete spöttisch: »Warum? Mein Verschwinden kann dir nicht so ungelegen gekommen sein.«
Haimon grinste. »Warum wohl? Großmutter hat mir die Hölle heißgemacht.«
»Natürlich …«
»Aber du warst einfach verschwunden. Im wahrsten Sinne des Wortes spurlos.«
»Nun, wie dem auch sei. Ich werde mich erinnern, oder ich werde mich nicht erinnern. Allmählich komme ich zu dem Schluss, dass es vielleicht nicht so wichtig ist, wie es mir scheint. Ich meine … es ist unglaublich, nach beinah drei Jahren sein Gedächtnis zurückzubekommen, aber es birgt die Gefahr, dass man der Vergangenheit zu viel Bedeutung beimisst. Wo doch die Gegenwart eigentlich viel wichtiger ist. Und die Zukunft.«
»Die Zukunft mit deiner geheimnisvollen Dame.«
»Das hoffe ich zumindest.«
Zum ersten Mal seit ihrer Kindheit tauschten sie ein gänzlich unkompliziertes Lächeln. Dann leerte Haimon seinen Krug, stellte ihn auf den Boden, hob die Hand zu einem nachlässigen Gruß und ging zum Tor. Dort hielt er noch einmal an. »Übrigens«, sagte er über die Schulter. »Susanna hat sich gegen das Kloster entschieden. Sie will in Fenwick bleiben.«
»Susanna ist in Fenwick?«, fragte Alan stirnrunzelnd. Das verstand er nicht.
Sein Cousin erklärte es ihm. »Sobald ihr geschieden seid, wird sie mein Mündel, nicht wahr? Sie hat ja niemanden mehr außer mir. Und ich habe getan, was so viele Vormunde gern tun, und sie in mein Bett geholt. Oh, keine Bange, Alan, ich musste sie nicht zwingen. Sie kam ganz freiwillig. Du weißt wahrscheinlich, dass ich immer scharf auf sie war, oder? Ich nehme an, deswegen hast du sie geheiratet. Es ist fast ein bisschen so wie früher, weißt du, wenn ich deine abgelegten Kleider auftragen musste, aus denen du herausgewachsen warst. Beinah eine liebe alte Gewohnheit.« Und damit ging er hinaus.
Alan stand stockstill an die Kornsäcke gelehnt und sah ihm nach. Sein Gesicht fühlte sich mit einem Mal seltsam kalt an in der Hitze. Was für ein Narr war er nur, dass er geglaubt hatte, Haimon könne ihm jemals vergeben?
Er vermisste die Zwillinge und vor allem Simon, und er beneidete sie ein wenig um ihr Abenteuer auf dem Kontinent, aber dank der vielen Arbeit hatte er kaum Gelegenheit, darüber nachzugrübeln.
Luke war seit dem Zwischenfall am Dorfbrunnen niedergeschlagen und ungewöhnlich still, aber der Vorfall hatte sich nicht wiederholt. Oswald, der sich mit Veränderungen sonst immer schwertat, hatte das neuerliche Verschwinden ihrer drei Gefährten erstaunlich gut verkraftet. Alan hatte ihm mehr Zeit gewidmet, als er eigentlich erübrigen konnte, und ihm geduldig erklärt, es sei ganz normal, dass Menschen manchmal für eine Weile fortgingen, und dass es nicht gleichbedeutend damit war, seine Freunde im Stich zu lassen oder nichts mehr für sie übrigzuhaben. Oswald fand das schwer zu begreifen, beschloss aber schließlich, es zu glauben, weil »Losian« es sagte, und fand zu seinem eigentlich fröhlichen Naturell zurück. Alan war erleichtert. Nur der Gesundheitszustand des Jungen machte ihm Sorge: Oswald schien die anhaltende Hitze nicht gut zu vertragen, war oft kurzatmig und ermüdete leicht.
In Schwermut verfallen war dieses Mal indes ein anderes Mitglied ihrer Gemeinschaft: Die Zwillinge hatten schweren Herzens eingesehen, dass Grendel sie nicht auf ihre Reise begleiten konnte. Nun lag der große Hütehund meist teilnahmslos in der Halle vor dem kalten Kamin, die Schnauze auf den Vorderpfoten, und stierte kummervoll vor sich hin. Wenn er Schritte hörte, hob er manchmal den Kopf, doch sobald er sah, dass es nicht Wulfric und Godric waren, verlor er das Interesse.
»Grendel«, schalt Alan schließlich. »So kann das nicht weitergehen. Komm auf die Füße.« Er stupste ihn sacht mit der Stiefelspitze an. »Komm, mein Junge. Ich muss nach Metcombe und bin dankbar für jeden, der mich begleitet.«
Seine Großmutter lächelte boshaft in ihre Porridgeschale. »Alan of Helmsby fürchtet sich neuerdings vor seinen Bauern?«
Er griff nach einem Brotlaib und schlug ihn in das Tuch ein, das eine Magd ihm zu dem Zweck gebracht hatte. »Das ist übertrieben. Der einzige Mensch in Metcombe, vor dem ich mich vielleicht ein wenig fürchte, ist meine Tochter.« Er stand auf. »Jetzt komm endlich, Grendel.«
Der Hund hörte offenbar, dass es keinen Sinn hatte, sich weiter schlafend zu stellen, kam steifer auf die Füße, als er eigentlich war, um Alan Gewissensbisse zu verursachen, und trottete von der Estrade.
»Bist du heute Abend zurück?«, fragte Lady Matilda.
Alan schüttelte den Kopf. »Ich werde zwei oder drei Tage unterwegs sein.« Er gedachte, von Metcombe aus weiter nach Blackmore zu reiten, aber da Haimon mit am Tisch saß, sagte er das nicht. Er wollte verhindern, dass sein Cousin einen Boten in das Dorf schickte, auf welches sie beide Anspruch erhoben, und seinen Steward dort veranlasste, die Höhe der Pachteinnahmen zu vertuschen oder Ähnliches.
Vor dem Pferdestall wartete der alte Edwy mit Conan und einer stämmigen Stute mit sandfarbenem Fell und heller Mähne und Schweif. »Marigold«, stellte der Stallknecht vor. »Sie macht fürs Auge vielleicht nicht viel her, aber sie ist genau richtig für Eure Zwecke, Mylord.«
»Danke, Edwy.« Alan kontrollierte, ob Conans Satteltaschen Proviant und Decken enthielten, wie er befohlen hatte, verstaute das frische Brot und saß auf. Dann nahm er Marigold am Zügel, nickte dem alten Knecht zu und ritt aus dem Tor seiner Burg.
Wenig später hielt er vor der Mühle, die am Rand des Dorfes stand. Alan hörte das Knarren von Mahlwerk und Rad. Letzteres wurde von einem schmalen, aber raschen Bach angetrieben, der ein paar Meilen weiter im Wald in den Ouse mündete.
Oswald kam aus dem Haus, als er den Hufschlag hörte. »Losian!« Er strahlte und rieb sich die mehligen Hände am Hosenboden ab. »Bringst du uns Korn zum Mahlen?«
»Viel besser, Oswald. Ich bringe eine Überraschung.«
»Was für eine Überraschung?«
»Du und Grendel und ich machen einen Ausflug. Und du darfst den ganzen Weg reiten. Auf Marigold.« Er zeigte auf das brave Pony.
Oswalds Augen leuchteten auf, und er klatschte ausgelassen in die Hände, aber sogleich kamen ihm Bedenken. »Ich weiß nicht … Ich kann keinen Ausflug machen, glaub ich. Wir haben so viel Arbeit, und Egbert erlaubt sicher nicht …«
Der Müller kam ebenfalls aus der Tür, legte ihm die Hand auf den Arm und sagte lächelnd: »Doch, Oswald. Ich weiß es schon ein paar Tage. Geh mit Gott, Junge. Du warst so fleißig, du hast eine Belohnung verdient.« Als er die Hand sinken ließ, hinterließ er weiße Fingerabdrücke auf dem Ärmel.
Oswald war außer Rand und Band vor Freude. Jubelnd drehte er sich im Kreis. »Wir machen einen Ausflug! Wir machen einen Ausflug! Grendel, hast du gehört, wir machen einen Ausflug …«
Alan saß ab, und zusammen mit dem Müller beobachtete er diesen Ausbruch purer Glückseligkeit. Selbst Grendel ließ sich von Oswalds Übermut anstecken, sprang schwanzwedelnd um ihn herum und bellte.
»Wenn wir alle so wären, wär die Welt ein besserer Ort, Mylord«, bemerkte der Müller gedämpft.
Alan nickte. »Und Gott näher.«
»Ganz gewiss.«
»Komm jetzt, Oswald«, rief Alan. »Sonst ist der halbe Tag vorüber, ehe du deinen Freudentanz beendet hast.«
Lachend kam Oswald angelaufen, außer Atem und mit strahlenden Augen.
»Leg die linke Hand vorn an den Sattel. Nein, Oswald, die linke Hand. Die andere hinten an den Sattel. Genau so. Jetzt heb den linken Fuß nach hinten … den linken Fuß …« Alan legte die Hände um seine Wade. »Und jetzt Achtung.« Mit einem Schwung beförderte er Oswald auf Marigolds Rücken, die duldsam stehen blieb und sich nicht im Kreis drehte, als habe sie sich plötzlich in den Kopf gesetzt, einmal ihren eigenen Schweif anzusehen, so wie andere Pferde es gern taten, wenn ein unerfahrener Reiter zum ersten Mal aufsaß.
Alan klopfte ihr dankbar den stämmigen Hals, nahm die Zügel, reichte sie Oswald und zeigte ihm, wie er sie halten musste. Dann wollte er Oswalds Füße in die Steigbügel führen, aber das hatte der junge Mann schon allein bewerkstelligt.
Alan saß ebenfalls auf. »Alles bereit?«, fragte er.
»Und wie!«, antwortete Oswald.
»Also dann. Hab Dank, Egbert.«
»Keine Ursache, Mylord.«
Seite an Seite ritten die beiden Freunde durch Helmsby − Oswald mit stolzgeschwellter Brust.
Unweigerlich musste Alan an die letzte Gelegenheit denken, da er Oswald auf ein Pferd gesetzt hatte: ihre Flucht aus Woodknoll, die Angst vor den Verfolgern im Nacken, vor sich die lange Wanderung ins Ungewisse, geprägt von Kälte und vor allem von Hunger.
Oswald schien sich nicht daran zu erinnern, und das war kein Wunder, denn der heutige Ritt hätte sich kaum grundlegender davon unterscheiden können. Sie hatten keine Eile, sie hatten ein Ziel, sie hatten mehr Proviant, als sie wirklich brauchten, und die Sonne strahlte, ließ das Korn auf den Feldern wie mattes Gold leuchten und erfüllte die Sommerluft mit seinem Duft.
Oswald atmete tief durch. »Riecht gut.«
»Ja«, stimmte Alan zu. »Von allen Sommerdüften ist der nach reifem Korn der beste.« Und er bescherte ihm lebhafte Erinnerungen, wie nur Gerüche es konnten: an warme, träge Sommertage, da er und Haimon im hohen Weizen Verstecken gespielt oder Räuberhöhlen gebaut hatten. Guillaumes Vater, der damals der Steward gewesen war, hatte ihnen die Ohren lang gezogen und Prügel angedroht, wann immer er sie im Feld erwischte, weil sie die kostbaren Ähren niederwalzten, aber sie waren immer zurückgeschlichen.
Am Feldrain entlang des Weges blühten Kornblumen, Kamille, Disteln, Glockenblumen und viele andere, deren Namen Alan nicht kannte. Vielleicht würde er eines Tages mit Miriam hier entlangreiten und sich von ihr die Namen der Kräuter und Blumen und ihre heilende oder schädliche Wirkung beibringen lassen. Er dachte an sie und sehnte sich nach ihr, so wie er es eigentlich jeden wachen Moment tat, aber als er mit Oswald zwischen den Feldern einherritt und schließlich in den Wald eintauchte, stellte er fest, dass er ausnahmsweise einmal zufrieden mit seinem Leben war.
Marigold hielt alles, was Edwy versprochen hatte. Sie scheute vor keinem Vogel, der plötzlich aus dem Dickicht brach, und sie trieb keine Späße mit ihrem ungeübten und meist unaufmerksamen Reiter. Oswald geriet allenthalben in Entzücken über die Blumen und Bäume und Schmetterlinge und hätte alle zwanzig Schritte angehalten, hätte Alan das geduldet. Doch als Alan versuchsweise antrabte und dann sogar ein Stück galoppierte, entdeckte Oswald den Rausch der Geschwindigkeit, und von da an ging es ihm nie schnell genug. Sie sprachen über alles, was ihnen in den Sinn kam, sie lachten, sie stritten über die Gangart, und lange vor Mittag – gar nicht mehr weit vom Ziel entfernt − hielten sie an, legten sich ins Farn und aßen und tranken weit mehr von den Köstlichkeiten, die Emma ihnen eingepackt hatte, als nötig gewesen wäre. Alan kam in den Sinn, dass dies wohl die unbeschwertesten Stunden waren, die er erlebt hatte, seit er in St. Pancras aus dem Fieber erwacht war.
Auch in Metcombe war die Ernte in vollem Gange, und die Bauern, ihre Frauen und Kinder waren auf den Feldern. Manche Sense verharrte mitten im Schwung, als Alan und Oswald vorbeiritten, und die Leute erwiderten ihren Gruß höflich, aber unverkennbar reserviert.
In der Mühle am Ufer des Ouse war ebenso viel Betrieb wie in der von Helmsby, und in der nahen Schmiede sang der Hammer.
Alan hielt davor an und saß ab. »Hiergeblieben, Grendel.«
Der große, zottelige Hund war schon schwanzwedelnd auf dem Weg zur Tür, machte aber kehrt und kam zurück.
Alan trat zu Marigold und nahm Oswalds Arm. »Absitzen.«
»Ich kann das allein«, beschied Oswald.
Alan ließ ihn los und trat einen Schritt zurück. »Fang ja nicht an zu heulen, wenn du auf die Nase fällst.«
Aber Oswald glitt ohne Missgeschicke, geradezu elegant, aus dem Sattel und blieb mit einem triumphalen Lächeln vor Alan stehen. Dann folgte er dessen Beispiel, schlang die Zügel über den niedrigen Ast eines Apfelbaums und klopfte Marigold fachmännisch den Hals.
Die Tür zur Schmiede stand weit offen, trotzdem war es drinnen dämmrig und heiß wie in der Hölle.
Oswald schreckte zurück, als ihm die Hitze und die einzigartige Geruchsmischung aus brennender Holzkohle und heißem Eisen entgegenschlug, aber Alan legte ihm die Hand in den Rücken und schob ihn über die Schwelle. »Keine Angst«, murmelte er. Dann lauter: »Gott zum Gruße, Cuthbert.«
Der Schmied, der über den Amboss gebeugt stand, wandte den Kopf. »Mylord!« Es klang verwundert, aber nicht abweisend, schien es Alan. »Augenblick. Lasst mich das eben fertig machen.«
»Natürlich.«
Cuthbert hielt ein Werkstück in einer langstieligen Zange und bearbeitete es mit einem Hammer mittlerer Größe. Magisch angezogen trat Oswald näher, blieb aber zwei Schritte vom Amboss entfernt stehen, sodass er dem Schmied nicht in die Quere kam, und schaute fasziniert zu.
»Das glüht ja!«
Cuthbert blickte kurz auf, erkannte auf einen Blick, was er vor sich hatte, und grinste verschwörerisch: »So muss es sein, mein Junge. Wenn es glüht, ist es weich, und man kann es formen.«
Alan hörte nicht richtig hin, denn er hatte im Halbdunkel neben der Werkbank ein schwaches Leuchten entdeckt, das sich als ein kleiner Blondschopf entpuppte, als er näher trat. Agatha lag auf einer Decke zusammengerollt und schlief trotz des Hammers selig, den Daumen im Mund. Er hockte sich hin – blieb genauso auf Sicherheitsabstand zu seiner Tochter wie Oswald zum Amboss − und betrachtete sie. Sie kam ihm viel kleiner und schutzbedürftiger vor, als er sich ein zweijähriges Kind vorgestellt hatte. Gesicht, Hände und Kittel wiesen Spuren von Ruß und Asche auf, aber selbst sein ungeübtes Auge erkannte, dass die Kleine gesund und wohlgenährt war.
So versunken war er in den Anblick, dass er die plötzliche Stille nicht bewusst wahrgenommen hatte. Darum wäre er um ein Haar zusammengefahren, als er den Schmied neben sich fragen hörte: »Seid Ihr gekommen, um sie mir wegzunehmen?« Es sollte nüchtern klingen, aber ein beinah unmerkliches Beben in der Stimme verriet ihn.
Alan schaute zu Cuthbert auf und kam auf die Füße. »Wir werden sehen«, erwiderte er unverbindlich. »Eigentlich bin ich hier, um festzustellen, wie es um Metcombe steht.«
Der Schmied nickte und sah ihn unverwandt an. Wird auch Zeit, sagte dieser Blick. Dann hob der bärenhafte Mann das schlafende Kind mitsamt Decke auf und trug es zur Tür. »Kommt mit hinüber, Mylord. Am Ufer steht eine Bank, und am Wasser ist es schön kühl.«
Alan folgte ihm. »Komm, Oswald. Und fass ja nichts an, hörst du.«
Oswald riss sich schweren Herzens von dem wundervollen Spielplatz los, den eine Schmiede in den Augen eines jeden Knaben war, und trat vor Alan hinaus ins Freie. Der Schmied führte sie zu seinem Wohnhaus und auf dessen Rückseite, die dem Fluss zugewandt war. Grendel, der bei den Pferden geblieben war und sich in den Schatten des Apfelbaums gelegt hatte, um ein Ründchen zu dösen, folgte ihnen neugierig.
Cuthbert legte Agatha ins Ufergras und wies seinen Gästen die Bank an der hölzernen Hauswand. »Bin gleich zurück.« Er verschwand im Haus.
Alan und Oswald nahmen Platz. Grendel trat zu der Decke und beschnupperte das kleine Mädchen mit höflicher Zurückhaltung. Alan wusste, der Hund war herzensgut, aber er hielt den Anblick des zottigen Ungetüms bei dem schlafenden Kind trotzdem nicht lange aus. Er stand wieder auf und kniete sich neben der Decke ins Gras.
»Verschwinde, Grendel. Geh zu Oswald.«
Folgsam trollte sich der Hund, und wieder versenkte Alan sich in die Betrachtung dieses zarten Gesichts, suchte erfolglos nach den Zügen der Mutter darin. Vielleicht war es sein eindringlicher Blick, der Agatha aufweckte. Jedenfalls schlug sie die Augen auf, und als Alan sie sah, verstand er zum ersten Mal wirklich, was die Leute meinten, wenn sie behaupteten, man könne nie sagen, ob ihre Farbe grün oder blau sei. Es war etwas, das kein Spiegel wiedergeben konnte.
Das Wunder der Schöpfung, das diesem filigranen Wesen die gleichen Augen gegeben hatte wie ihm, erschien ihm ebenso gewaltig wie unbegreiflich. Zögernd, beinah schüchtern hob er die Hand und wischte mit einem Finger den Ruß von der kleinen Wange.
Bedächtig nahm Agatha den Daumen aus dem Mund und sah unverwandt zu dem fremden Mann auf. Dann lächelte sie, und seine Brust zog sich zusammen. Er schluckte trocken. »Agatha.«
Sie nickte, setzte sich auf und entdeckte den großen Hund. Ihre Augen leuchteten, sie sprang auf und lief zu Grendel hinüber – ihr Vater vergessen.
Agatha blieb vor Grendel stehen, legte eine Hand auf Oswalds Knie und zeigte auf den Hund. »Heißt er?«
»Grendel«, erklärte Oswald bereitwillig.
»Anfassen?«
Oswald sah unsicher zu Alan. »Ich weiß nicht. Sie ist sehr klein, oder?«
Alan kam zu ihnen zurück und ließ sich neben Oswald auf der Bank nieder. »Doch, Agatha, du kannst ihn streicheln, wenn du willst.«
Ehe der Schmied mit dem Bier zurückkam, hatten Grendel und Agatha Freundschaft geschlossen. Sie streichelte sein Zottelfell, er leckte ihre Hand, ließ sich dann auf die Seite fallen und wälzte sich auf den Rücken, was Agatha so komisch fand, dass ihr glockenhelles Lachen gar kein Ende mehr nehmen wollte.
Alan sah dem ungleichen Paar gebannt zu, bis eine schwielige, rußige Hand mit einem Holzbecher in seinem Blickfeld erschien. »Hier, Mylord.«
»Danke.«
Auch Oswald bekam sein Bier und bedankte sich.
Der Schmied setzte sich zwischen sie, trank und brummte: »Ich hoffe, der Köter ist so harmlos, wie er tut.«
»Jedenfalls ungefährlicher, als ein schlafendes Kind allein am Ufer liegen zu lassen«, konterte Alan. Er wusste so gut wie jeder in Metcombe, dass der Ouse ein tückischer Fluss mit einem trügerischen Ufer war, der schon so manches Kind mit sich fortgerissen hatte.
Cuthbert trank, scheinbar seelenruhig. »Sie war ja nicht allein«, bemerkte er dann. »Wenn ich sie unbeaufsichtigt hier draußen lassen muss, bind ich sie an.« Er wies auf einen stabilen Holzpflock, der in die Erde eingeschlagen und an den ein dünner Strick geknotet war − lang genug, um einem Kind Freiraum zum Spielen zu gewähren, aber bis ans Ufer reichte er nicht.
Die Vorstellung, dass seine Tochter an einen Strick gebunden wurde wie ein Stück Vieh, gefiel Alan nicht, aber er ließ es sich nicht anmerken. Er wusste, alle Eltern, die in Flussnähe wohnten, machten es so mit ihren Kleinen, denn sie hatten viel zu viel Arbeit, um ihre oft zahlreiche Brut jeden Augenblick des Tages wachsam im Auge behalten zu können.
Oswald stellte seinen unberührten Becher auf die Bank, kniete sich neben Agatha ins Gras und zeigte ihr, wo Grendel am liebsten gekrault wurde.
»Der Steward sagt mir, ihr habt über den Winter fast zwanzig Männer verloren?«, begann Alan.
Cuthbert nickte, nahm einen ordentlichen Zug und fuhr sich mit dem Handrücken über die Lippen. »Die meisten hat das Fieber geholt, ein paar sind beim Eisfischen ertrunken.«
»Und nun liegt wie viel Land brach?«
Der Schmied überlegte kurz. »An die vierzig Acre, schätze ich.«
»Guter Gott, Mann, das ist fast eine halbe Hufe.«
»Was Ihr nicht sagt, Mylord …«
Alan warf ihm einen warnenden Blick zu.
»Nicht alles liegt wirklich brach«, beeilte Cuthbert sich zu erklären. »Die Leute haben ja noch ihr Wintergetreide gesät, eh es sie erwischt hat. Aber jetzt steht das Korn reif auf den Feldern, und keiner bringt es ein.«
Lord Helmsby schüttelte entschieden den Kopf. »Das dürfen wir nicht zulassen. Wer ist der Pfarrer von Metcombe? Immer noch der alte Vater Swein?«
»Den hat auch das Fieber geholt. Wir haben einen neuen, Vater Ralph.«
»Ein Normanne?«, fragte Alan verwundert.
Cuthbert nickte. »Ich möchte wetten, er war Soldat, eh er sich besonnen hat und Priester geworden ist. Manchmal lässt er sich volllaufen, und dann liegt er in seiner Kate und singt. Wir verstehen kein Wort, aber es klingt nicht nach frommen Liedern. Im Großen und Ganzen ist er nicht übel. Latein kann er nicht viel, glaub ich, aber er versteht die Sorgen der Leute und macht ihnen Mut. Er kümmert sich um seine Schäfchen, so gut er kann.«
»Ich rede mit ihm und mit King … mit Vater Edmund in Helmsby. Sie müssen uns zwei Sonntage erlauben zu arbeiten, und dann wird Helmsby geschlossen hier anrücken und helfen, das Korn einzubringen. Und das Land muss möglichst schnell neu verpachtet werden. Gibt es denn keine Erben für die Schollen?«
»Doch. Aber sie können es sich nicht leisten, das Erbe anzutreten und Euch den Heriot zu zahlen.«
Alan lag eine scharfe Erwiderung auf der Zunge. Es war üblich, dass die Bauern über die Pacht stöhnten, aber über Sonderabgaben wie den Erbanteil, der ihrem Gutsherrn nach dem Gesetz zustand, stöhnten sie noch viel lauter. Nicht einmal zu Unrecht, wusste Alan. Ihr Leben war hart. Wenn ein Erbe das beste Stück Vieh aus der Herde oder den entsprechenden Gegenwert in Pennys als Heriot an Alan zahlte, mochte es im nächsten Hungerwinter genau dieser Betrag sein, der seinen Kindern zum Überleben fehlte. So waren die Dinge eben, und Alan wäre nie in den Sinn gekommen, sie zu hinterfragen, denn es war die Ordnung der Welt, die Gott und sein auserwählter König geschaffen hatten. Er musste sich indessen eingestehen, dass es die Sichtweise veränderte, wenn man selbst ein paar Jahre Not und Hunger gelitten hatte.
»Nun, ich kann es mir nicht leisten, auf den Heriot zu verzichten, Cuthbert«, erklärte er. »Aber ich verlange nicht, dass er in voller Höhe gleich nach der Ernte gezahlt wird. Sag den Leuten, ich will vor allem, dass die Felder hier bestellt werden und etwas einbringen. Denn was wir uns alle ganz gewiss nicht leisten können, ist, gutes Ackerland einfach unbestellt zu lassen.«
»Und was genau bedeutet ›nicht in voller Höhe gleich nach der Ernte‹? Die Leute haben keine Reserven, Mylord. Sie müssen wissen, womit sie zu rechnen haben.«
Alan dachte kurz nach. »Ein Drittel zu Michaelis, eins zu Ostern, das letzte nächstes Jahr nach der Ernte zu Michaelis.«
»Das schaffen sie nicht«, widersprach der Schmied prompt. »Selbst ein Drittel pro Jahr wird hart.«
Alan betrachtete ihn mit verschränkten Armen. »Das kannst du dir aus dem Kopf schlagen …«
Sie feilschten noch eine Weile, und Alan stellte verwundert fest, dass die Anspannung des Schmieds im Lauf ihrer Debatte nachließ, obwohl sie sich gegenseitig nichts schenkten und hart verhandelten.
Als sie sich schließlich einig geworden waren, machte Alan einen Rundgang durchs Dorf. Er lernte Vater Ralph kennen und sprach mit ein paar Frauen und alten Leuten, die nicht mit draußen auf den Feldern waren. Die Menschen begegneten ihm gleichermaßen ehrerbietig und kühl. Er wusste, warum – der traditionelle Groll der Bewohner von Metcombe auf ihn und seine Vorfahren war ihm bekannt und so selbstverständlich, dass er kaum einen Gedanken daran verschwendete. Und doch merkten die Bauern, dass Alan of Helmsby ein anderer geworden war. Sie merkten es daran, wie er zuhörte. Wie er den Kleinsten, die mit daheim geblieben waren, dann und wann über die Köpfe strich oder innehielt, um einem Gevatter den Stock anzureichen, der sich umständlich erhob, um ihn zu begrüßen. »Beinah so, als hätte er’s mit menschlichen Wesen zu tun«, spöttelte die Schwester des Schmieds später.
Als Alan schließlich zu dessen Haus zurückkam, hatte Oswald die kleine Agatha auf Grendels Rücken gesetzt und hielt sie umsichtig fest, während der etwas verwirrte Hund langsam am Ufer entlangtrottete. Agatha krähte vor Vergnügen.
»Nicht so nah ans Wasser, Oswald«, rief Alan warnend. »Sonst nehmt ihr alle drei ein Bad.«
Oswald korrigierte seinen Kurs – folgsam wie üblich –, und Alan betrachtete die Spielgefährten mit einem Lächeln.
»Und was wird nun aus dem Kind?«, hörte er die Stimme des Schmieds plötzlich neben sich.
Er antwortete nicht sofort. Mit Zuneigung und einer gewissen Wehmut erinnerte er sich an Agathas Mutter, die ihn unter einem reichlich durchsichtigen Vorwand an einem Herbstsonntag zu einer Hütte im Wald gelockt hatte, wo das Winterfutter für sein Wild verwahrt wurde, und ihn dort verführt hatte. Der würzige Geruch von nassem Herbstlaub würde in seiner Erinnerung immer mit Eanfled verbunden bleiben. Raffiniert war sie ihm erschienen, fast durchtrieben – alles andere als eine brave Bauernmagd. Aber doch gleichzeitig so arglos. So unkompliziert und anspruchslos. Das komplette Gegenteil von seiner höchst komplizierten und anspruchsvollen Gemahlin …
»Irgendjemand hat behauptet, die Kleine sei schwachsinnig«, bemerkte er ausweichend.
»Könnte ich hoffen, dass Ihr sie mir dann ließet, würde ich sagen, es stimmt. Aber wenn ich mir Euren jungen Freund da drüben anschaue, würde es wohl nicht viel nützen. Obendrein ist es Unsinn. Sie hat einfach nur nicht gesprochen. Ich schätze, der Tod ihrer Mutter war daran schuld. Jetzt hat sie es überwunden und holt alles an Geschwätzigkeit nach, was sie bisher versäumt hat.« Er brach abrupt ab.
Alan wandte den Kopf und erwischte den Schmied dabei, wie er sich eine Träne aus dem Augenwinkel wischte. »Ich weiß nicht, was richtig ist«, bekannte Alan. »Wir können schwerlich ignorieren, dass sie mein Kind ist, oder?«
»Warum nicht? Ich wette, sie ist nicht Euer einziger kleiner Bastard zwischen Yare und Ouse …«
»Doch. Das ist sie. Ich war nicht so umtriebig, wie du offenbar annimmst.« Und nicht oft genug zu Hause, fügte er in Gedanken hinzu. »Im Übrigen verbitte ich mir Respektlosigkeiten dieser Art«, fügte er hinzu, nicht wirklich scharf, aber der Schmied war gewarnt.
Er nickte knapp und wandte den Blick ab, doch er entschuldigte sich nicht.
Alan beobachtete seine Tochter und rang mit sich. Es war ein eigentümlich heftiges Gefühl, das ihn drängte, sie mitzunehmen. Er wollte sie in seiner Nähe haben und aufwachsen sehen. Er wollte, dass sie Normannisch lernte und eine Dame wurde, keine derbe Bauersfrau. Dass sie in dem Wohlstand und der Geborgenheit lebte, die er ihr bieten konnte. Aber gleichzeitig zweifelte er, ob er ihr wirklich einen so großen Gefallen damit täte. Und was würde Miriam dazu sagen, falls seine größte Hoffnung sich erfüllte und er sie eines Tages nach Helmsby brachte, wenn sie dort über ein kleines Mädchen mit seinen Augen stolperte? Die Dinge würden schwer genug für Miriam sein, auch ohne Agatha.
»Ich glaube nicht, dass es gut für sie wäre, sie jetzt zu verpflanzen, wo sie gerade den Tod ihrer Mutter überwunden hat, wie du sagst«, entschied er schließlich. »Also lass ich sie dir vorläufig hier. Aber wenn deine nächste Frau nicht gut zu ihr ist oder irgendwer in Metcombe Agatha dafür büßen lässt, dass der Großvater meiner Großmutter euch euer Land abgegaunert hat, dann werde ich es erfahren, Cuthbert.«
»Das zu sagen wäre nicht nötig gewesen, Mylord«, antwortete der Schmied.
Alan sah ihm unverwandt in die Augen. »Nein, ich weiß. Genauso unnötig war es, mich herauszufordern, nicht wahr?« Er ließ ihn stehen und trat zu dem fröhlichen Trio am Ufer. »Oswald, es wird Zeit, wir müssen weiter.«
»Ooh«, machte der junge Mann enttäuscht. »Schade.«
Alan hob Agatha von Grendels Rücken zu sich hoch, küsste ihr die Stirn und stellte sie dann auf die Füße. »Gott beschütze dich, Agatha. Auf bald.«
Sie schenkte ihm ein Lächeln, von dem ihm fast das Herz stehen blieb, und dann lief sie zu Cuthbert hinüber und fasste ihn mit einer Hand am Hosenbein.
Sie schlugen ihr Nachtlager gleich am Wegesrand auf.
Als Oswald Holz sammeln wollte, rief Alan ihn zurück. »Das Gelände hier ist sumpfig«, warnte er. »Ich will nicht, dass du dich weiter als bis zu der Erle dort drüben vom Lager entfernst, verstanden?«
»Ist gut.«
»Wenn du dich nützlich machen willst, nimm den Gäulen die Sättel ab.«
Oswald ignorierte die Bitte auf diese spezielle Art, die Alan verriet, dass sein junger Freund sich überfordert fühlte. »Na schön, ich zeig’s dir. Komm her, es ist ganz einfach.«
Alan löste langsam die Schnallen an Conans Sattelgurt, zog den Sattel zu sich heran und schlang den Gurt darüber. »Hast du’s gesehen?«
»Ja.«
»Willst du es bei Marigold versuchen?«
Oswald nickte, und es klappte tadellos.
Alan klopfte ihm anerkennend die Schulter. »Großartig. Jetzt leg den Sattel da vorn an den Baum. Achte immer darauf, dass dein Pferd nicht versehentlich darauftreten kann, denn ein Sattel ist aus Holz und zerbricht schnell. Oder der Gaul verfängt sich mit den Hufen im Gurt und gerät in Panik. Das tun sie leicht, weißt du.«
»So wie ich«, bemerkte Oswald mit einem Ausdruck komischer Zerknirschtheit.
Alan lachte. »Ich mach mich auf die Suche nach Holz.«
»Aber ich darf Feuer machen, oder?«, vergewisserte sich Oswald. Gunnild hatte fertiggebracht, was Alan und King Edmund vergeblich versucht hatten: Oswald hatte gelernt, mit Flint und Stahl einen Funken zu schlagen und ein Feuer in Gang zu bringen. Diese neue, elementare Fähigkeit erfüllte ihn mit unbändigem Stolz, und er wurde es nie müde, sich darin zu üben.
»Natürlich«, versicherte Alan. »Ich mach’s mir derweil bequem, trink einen Becher Cider und seh zu, wie du dich abrackerst.«
Oswald lachte selig. »Wohin reiten wir als Nächstes?« Das hatte er ungefähr schon ein halbes Dutzend Mal gefragt.
»Nach Blackmore«, antwortete Alan geduldig.
»Ist es da auch so schön wie in Metcombe?«
»Ich weiß es nicht«, musste er gestehen. »Anders, schätze ich.« Aber in Wahrheit hatte er keine Ahnung, was sie dort erwartete.
Es war schwül, und Donner grollte in der Ferne, als sie am nächsten Vormittag ankamen. Alan fragte sich, ob das der Grund war, warum ihm hier alles so bedrückend und beinah ein wenig gespenstisch vorkam. Und er sah an Oswalds eingezogenem Kopf und Grendels eingeklemmtem Schwanz, dass es seinen Gefährten genauso erging.
»Kaum Leute auf den Feldern«, murmelte Oswald.
»Nein«, stimmte er zu. »Aber hier sind sie mit der Ernte auch schon ein gutes Stück weiter als zu Hause oder in Metcombe.«
Blackmore war nur ein Weiler, ein rundes Dutzend strohgedeckter Katen aus Holz oder lehmverputztem Zweiggeflecht am Rande eines stillen, dunklen Sees. Nicht seiner bescheidenen Größe war es geschuldet, dass Blackmore Begehrlichkeiten sowohl in Helmsby als auch in Fenwick weckte, sondern den reichen Erträgen der fetten, schwarzen Erde, vor allem aber dem Wein, der hier angebaut wurde. Und Josua ben Isaac mochte über englischen Wein spotten, so viel er wollte; was in East Anglia gekeltert wurde, war in ganz England beliebt und brachte in London und York erkleckliche Preise ein.
Hühner liefen im kurzen Gras zwischen den Hütten umher, und ein vielleicht siebenjähriges Mädchen hütete eine Schar Gänse.
Sie sah erschrocken auf, als die Reiter bei ihr anhielten.
»Keine Angst«, sagte Alan. »Wir tun dir nichts.«
Ihr Blick glitt von seinem Gesicht zu dem mächtigen Schwert an seiner Seite, weiter zu Oswald, dann zu Grendel. Der Hund schien ihre Bedenken zu zerstreuen. Ihre Schultern entspannten sich ein wenig, aber ihre Miene blieb ernst, und sie sagte: »Nicht, dass er auf meine Gänse losgeht.«
»Nein. Er weiß, dass sich das nicht gehört.«
Sie nickte und wedelte mit ihrem Stöckchen die Gänse zusammen. Das machte sie sehr geschickt.
»Wo sind denn alle?«, erkundigte sich Alan.
Das Mädchen wies mit der freien Hand zur Mitte des Dörfchens. »Dieses Mal haben sie sich meinen Onkel geholt. Und alle müssen zusehen.«
Ehe Alan sich nach dem Sinn dieser Worte erkundigen konnte, hörte er einen pfeifenden Peitschenhieb. Das Mädchen schreckte zusammen und fing bitterlich an zu weinen. Eine Gans schlug mit den Flügeln. Ein zweiter Schlag fiel. Oswald saß starr und zusammengesunken im Sattel, und auf seiner Stirn hatte sich ein Schweißfilm gebildet.
»Oswald, sei so gut, bleib hier und sorg dafür, dass Grendel sich keine Späße mit den Gänsen erlaubt.«
Oswald sah ihn aus großen Augen furchtsam an, nickte aber und saß ab.
Als Alan anritt, fiel der nächste Hieb.
Er fand die schaurige Szene auf einer Wiese im Zentrum der Häusergruppe, wo die Kirche gestanden hätte, wäre Blackmore groß genug für eine eigene Kirche gewesen. Vielleicht drei Dutzend Männer, Frauen und Kinder standen in einem Sichelmond um einen Holzpfahl, an den ein Mann gebunden war. Zwei Schritte hinter ihm stand ein Finsterling in einem drittklassigen angerosteten Ringelpanzer und schwang eine Peitsche. Das Geräusch, mit dem der geflochtene Riemen auf dem entblößten Rücken landete, war Übelkeit erregend. Das bärtige Gesicht des Opfers war schmerzverzerrt, aber bis auf ein Keuchen gab der Mann keinen Laut von sich. Conan zuckte zusammen und schnaubte beunruhigt, als der nächste Schlag niedersauste.
Es war der letzte.
Obwohl sein Pferd nicht wollte, ritt Alan auf den Pfahl zu und postierte sich wie ein Bollwerk zwischen dem Gefesselten und seinem Peiniger. Letzterer stolperte verdattert einen Schritt zurück.
Gemächlich saß Alan ab. Die versammelten Dorfbewohner raunten verwundert, und er hörte die Worte »Lord Alan« und »heimgekehrt«.
Der Mann im Kettenhemd schien sie nicht verstanden zu haben. Mit grimmiger Miene betrachtete er Alan und herrschte ihn an: »Wer zum Henker seid Ihr?«
»Alan of Helmsby. Und Euer werter Name, Monseigneur?«
»Der geht Euch einen Scheißdreck an. Ihr habt hier nichts mehr zu sagen und auch nichts verloren, Helmsby. Jetzt geht mir aus dem Weg, ich bin noch lange nicht fertig mit diesem Aufrührer.«
Alan ließ Conans Zügel los und versetzte seinem Pferd einen beiläufigen Klaps. Äußerst dankbar trottete Conan aus der Gefahrenzone, warf Alan noch einen Blick zu und beschloss dann, dass die Lage sicher genug für einen Imbiss sei. Er senkte den Kopf und fing an zu grasen.
»Ich fürchte, hier liegt ein Irrtum vor«, eröffnete Alan dem Finsterling liebenswürdig. »Blackmore gehört zu einem königlichen Lehen, das meinem Urgroßvater vor rund achtzig Jahren verliehen wurde. Und auf meinen Ländereien werden keine Bauern geschunden, denn das mindert ihre Arbeitskraft, und das wiederum schadet den Erträgen, wisst Ihr. Also schlage ich vor, mein namenloser Freund, Ihr rollt Eure Peitsche ein und seht zu, dass Ihr Land gewinnt.«
Ein paar der Mutigeren unter den Bauern lachten und klatschten.
Der Finsterling warf ihnen einen Blick zu, der nichts Gutes für ihre Zukunft verhieß. Dann wandte er sich wieder an Alan. »Ihr befindet Euch im Irrtum«, konterte er. »Blackmore gehört von Rechts wegen zu Fenwick und somit zum Besitz von Lord Haimon de Ponthieu. Der mich hergeschickt hat, um hier für ihn nach dem Rechten zu sehen.«
»Und die Bauern zu prügeln?«
Er nickte. »Alles zu tun, was nötig ist, um ihre Aufsässigkeit zu brechen und sie zur Arbeit anzuhalten. Und ich bin nicht allein hier.«
Alan hatte die beiden Gesellen längst entdeckt, die mit verschränkten Armen hinter den Dörflern gestanden hatten – vermutlich um sicherzugehen, dass sie auch ja alle hinschauten – und sich nun langsam nach vorn drängten.
»Hm. Ich glaube, ich werde ein ernstes Wort mit Lord Haimon de Ponthieu reden müssen«, stellte Alan in Aussicht. »Und Ihr werdet jetzt verschwinden.« Der Spott war aus seiner Stimme verschwunden, und seine Miene war mit einem Mal finster. »Pack dich. Lauf zurück zu Haimon, solange du noch kannst. Ich sage es nicht noch einmal.«
Der Mann betrachtete ihn mit einem ungläubigen Grinsen, trat dann kopfschüttelnd einen Schritt zurück und hob seine Peitsche.
Alan zog das Schwert aus der Scheide, legte die linke Hand hinter der Rechten ans Heft und schwang die Klinge. Es war eine einzige, fließende Bewegung – so schnell, dass kaum jemand ihr mit den Augen folgen konnte. Die verblüfften Zuschauer sahen lediglich ein Blitzen der milchigen Sonne auf Stahl, und im nächsten Moment flog der Kopf des Finstermanns mit einigem Schwung nach links und landete dann im Gras, wo er holpernd weiterrollte, bis er mit einem unangenehmen »Plock« an eine Stallwand stieß und liegen blieb.
Ein paar Menschen schrien auf – nicht nur Frauen –, aber sofort kehrte die Stille zurück.
Die beiden anderen Kerle in den schäbigen Kettenhemden waren sichtlich ins Stocken geraten und starrten entsetzt auf ihren kopflosen Anführer hinab, dessen Leib blutüberströmt im Gras lag – der Arm mit der Peitsche immer noch drohend gehoben.
»Und?«, fragte Alan und sah erst dem einen, dann dem anderen in die Augen. »Möchte einer von Euch weiter mit mir streiten?«
Statt zu antworten, tauschten sie einen Blick, machten dann kehrt, drängten sich rüde durch die Phalanx schreckensstarrer Menschen und verschwanden hinter einer der Katen. Nur Augenblicke später hörte man zwei Pferde davonpreschen.
Der Mann am Pfahl hatte sich umgewandt, soweit seine Fesseln es zuließen, und über die Schulter gesehen, was passiert war. »Bei St. Guthlacs Zähnen …« murmelte er.
Mit der blutverschmierten Klinge schnitt Alan ihn los. »Geht’s?«
»Oh, keine Bange, Mylord. Er war ja noch nicht mal warm. Wir sind hier ganz andere Sachen gewohnt.« Er sagte es leichthin, aber ein bitterer Zug lag um seinen Mund, und seine Augen glommen vor Zorn. Mit unbewegter Miene blickte er auf den Leichnam im Gras hinab, dann zu dem Kopf, der mindestens zwanzig Schritte entfernt lag. »Bei St. Guthlacs Zähnen«, sagte er noch einmal. »Wie macht man so was?«
»Oh, das ist ganz einfach«, antwortete Alan in dem gleichen unbekümmerten Tonfall. Auch er blickte auf den grässlich verstümmelten Toten in seinem jämmerlichen Kettenhemd hinab. »Man muss nur bereit sein, es zu tun. Alles an Menschlichkeit und Barmherzigkeit verleugnen, das man in sich tragen mag. Dann ist es ein Klacks, Bedwyn.«
»Ihr erinnert Euch an mich?«, fragte der Mann verblüfft.
Erinnern ist derzeit mein liebster Zeitvertreib, hätte Alan antworten können. Aber er nickte lediglich. Bedwyn hatte zu den Männern gezählt, die Alan im Sommer nach ihrem grandiosen Sieg bei Lincoln nach London geführt hatte, um, wie sie geglaubt hatten, die große Handelsmetropole und das nahe gelegene Westminster zu sichern und alles für die Krönung der Kaiserin vorzubereiten. Ihre Hoffnungen hatten sich indessen wieder einmal als eitel erwiesen. Kaiserin Maud war es dank ihres herben Charmes gelungen, London gegen sich aufzubringen, und die Stadtbevölkerung hatte sich kurzerhand mit König Stephens streitbarer Königin zusammengetan, um die Anhänger der Kaiserin von den Toren ihrer Stadt zu verjagen. Es war ein unrühmlicher und gefährlicher Rückzug gewesen und Bedwyn einer der wenigen, die danach noch gewillt waren, in diesem blödsinnigen, völlig undurchschaubaren Krieg weiterzukämpfen.
»Bringt Euch nicht um den Schlaf, Mylord«, spöttelte er nun. »Was Menschlichkeit und Barmherzigkeit angeht – dieser Halunke hier besaß keine von beiden.«
»Nein, das will ich glauben.« Alan lächelte flüchtig. »Hat Lord Haimon noch mehr Männer hier außer diesen dreien?«
Bedwyn schüttelte den Kopf, hob sein Gewand aus dem Gras auf und streifte es über. »Im Moment nicht. Manchmal sind es mehr, aber sie dachten wohl, sie hätten uns kleingekriegt, sodass die drei ausreichen. Stimmte im Grunde auch. Nachdem Lord Haimon hier aufkreuzte und uns befahl, die Pacht zukünftig an ihn zu zahlen, war Euer Steward hier und hat uns erklärt, Haimon habe kein Recht dazu und wir sollten nicht auf ihn hören. Aber das war leichter gesagt als getan, Mylord. Und Euer Steward hat keine Armee hergeschickt, um dafür zu sorgen, dass die Dinge so laufen, wie er will. Lord Haimon schon.«
»Mein Steward trägt keine Schuld«, erwiderte Alan. »Ich hatte jeden aus Helmsby mitgenommen, der ein Schwert halten konnte, und dann bin ich … abhandengekommen.«
Bedwyn betrachtete ihn eingehend. »Ja. Davon haben wir gehört.«
Alan trat mit der Fußspitze gegen den Pfahl und rief zu den übrigen Bauern hinüber: »Grabt ihn aus, hackt ihn klein und macht ein schönes Feuer davon. Legt den Kadaver hier in eine Kiste. Ich nehm ihn mit und bring ihn Haimon de Ponthieu.«
Sie kamen näher, zögerlich zuerst, dann fassten sie Zutrauen. Während einige Männer sich daran begaben, seine Befehle auszuführen, umringten ihn die übrigen Dörfler und dankten ihm für seinen Schutz und seine Fürsorge.
Alan winkte ab. »Es hätte nie so weit kommen dürfen.«
Niemand widersprach ihm.
»Wie lange waren sie hier?«
»Über zwei Jahre«, antwortete Bedwyn. »Sie kamen vorletzten Sommer vor der Weinlese.«
»Jesus … Die Zeit muss euch lang geworden sein. Haben sie jemanden umgebracht? Die Frauen belästigt?«
»Unsere Frauen behaupten, sie hätten sie zufriedengelassen«, sagte ein Mann mit grauem Bart und krummgearbeitetem Rücken. »Aber Ihr wisst ja, wie die Frauen hier im Moor sind, Mylord. Stolz und unbeugsam. Und verschwiegen.«
Alan nickte und schaute den Frauen nach, die sich längst aus dem Kreis entfernt hatten und zu ihren Häusern zurückgingen, um Kinder und Vieh zu versorgen.
»Meinen Vater haben sie totgeprügelt«, berichtete ein schlaksiger Jüngling im Stimmbruch. Sein Blick war auf den Pfahl gerichtet, der jetzt im Gras lag, aber das Grauen in seinen Augen verriet, dass er etwas ganz anderes sah.
»Versehentlich«, schränkte ein anderer Mann ein. »Aber sie waren unbarmherzig, wenn irgendwer ihnen nicht gehorchte. Wir konnten ihnen nicht standhalten, Mylord.«
»Nein, ich weiß. Hört auf, euch zu entschuldigen. Das beschämt mich.« Alan wandte sich an den schlaksigen Jungen. »Bei der kleinen Gänsemagd dort drüben habe ich meinen Gefährten zurückgelassen. Sei so gut und hol ihn her.«
Der Junge nickte willig und ging davon.
»Ist noch ein Fass von meiner Pacht übrig, oder hat Haimon alles abholen lassen?«, fragte Alan Bedwyn.
»Das meiste. Aber ein paar Fässer sind noch hier.«
»Dann lasst uns eines anstechen und überlegen, wie es weitergehen soll.«
»Mylord …« Ein junger Kerl mit Segelohren trat unbehaglich von einem Fuß auf den anderen. »Wir haben den Toten in eine Kiste gelegt, wie Ihr gesagt habt.«
»Gut. Stellt sie auf einen Karren.«
Der Mann nickte. »Es ist nur …«
»Ja?«
»Keiner wagt, den Kopf zu holen, Mylord.«
»Ah«, machte Alan, unterdrückte ein Seufzen und ging zu der Stallwand hinüber. Er schaute nicht so genau hin, als er sich bückte und den Kopf bei den Haaren packte, aber er sah dennoch, dass Augen und Mund weit aufgerissen waren. Kein schöner Anblick.
Schweigend sahen die Männer von Blackmore zu, während Alan den Kopf über die Wiese trug und ohne viel Zartgefühl in die geöffnete Holzkiste fallen ließ. »Macht sie zu«, bat er.
Der Laut, mit dem der Deckel der sargähnlichen Kiste sich schloss, war ein dumpfes Poltern, das Endgültigkeit vermittelte. Ein Aufatmen ging durch die Reihen der schwergeprüften Menschen von Blackmore, und als das Fass angestochen und der goldene Wein in die Becher gefüllt war, ließen sie Alan trotz seiner Proteste als ihren Befreier hochleben und tranken auf die Höllenfahrt des Unterdrückers.
Blackmore hatte ein rauschendes Fest gefeiert. Der Wein, der zu sauer war, um als hochklassig zu gelten, war in Strömen geflossen. Alan hatte ihm nur mit Maßen zugesprochen. Obwohl er eine Schwäche für Blackmore-Wein hatte – die zu nicht geringem Teil in Heimatverbundenheit begründet lag –, hatte er Zurückhaltung geübt, denn in den Wochen, bevor er ein zweites Mal zu Josua ben Isaac gegangen war, um sich auf die Suche nach seinem Gedächtnis zu machen, hatte er sich Abend für Abend betrunken, und die schmerzhaften Folgen hatten ihn Vorsicht gelehrt.
Oswald war derjenige, der an einem lausigen Kater litt, als sie am nächsten Morgen aufbrachen. Jammernd saß er auf dem Bock des Karrens, den sie von den Bauern geborgt und vor den sie die duldsame Marigold gespannt hatten, und hielt sich den Kopf. »Es tut so weh, Losian.«
»Ich weiß.«
»Und mir ist so schlecht.«
»Dann tu uns beiden den Gefallen und versuch, nicht auf deine Kleider oder Schuhe zu spucken.«
»Jetzt bist du auch noch gemein zu mir«, beklagte Oswald.
»Ich habe dich gewarnt«, erinnerte Alan ihn. »Ich habe dir gesagt, du hast genug, aber du musstest ja unbedingt weitertrinken. Jetzt bekommst du die Folgen zu spüren. Da kann man nichts machen.«
Oswald schwieg beleidigt.
Die Gewitter des Vortages hatten die Schwüle vertrieben, und der Morgen war klar und frisch. Anfangs war der weite Himmel über dem Flachland noch grau gewesen, aber als sie zwei Stunden unterwegs waren, zehrte die Sonne die Hochnebeldecke auf und kam wieder zum Vorschein. Trotzdem wurde es nicht heiß. Es war herrliches Reisewetter.
Aber Oswald konnte ihm nichts abgewinnen. »Die Sonne verbrennt mir den Kopf, Losian. Sie kocht mich!«
»Siehst du da vorne? Da fängt der Wald an. Da ist es schattig. Keine halbe Meile mehr.«
»Aber mir ist so schlecht.«
Alan seufzte.
»Und ich hab Angst vor dem toten Mann in der Kiste. Er hat keinen Kopf.«
Alan, der neben ihm einherritt, sah ihn forschend von der Seite an. »Woher weißt du das?«
»Die Leute haben drüber geredet. Getuschelt. Ich sollte es nicht hören, glaub ich.«
Sie mussten verdammt laut getuschelt haben, wenn Oswald sie verstanden hatte, denn der Junge war schwerhörig. Alan nahm an, dass ein paar der jüngeren Burschen aus Blackmore sich einen Spaß daraus gemacht hatten, dem seltsamen zurückgebliebenen Gefährten ihres Gutsherrn ein bisschen Angst einzujagen.
»Und hast du auch gehört, wer ihn getötet hat?«
»Du. Mit dem Schwert. Zack!, und runter mit dem Kopf. Schneller als ein geölter Blitz, haben sie gesagt.«
Alan hätte viel darum gegeben, wenn Oswald das nie erfahren hätte. »Wenn es so war, denkst du nicht, du solltest eher vor mir Angst haben als vor ihm?«
Oswald schüttelte den Kopf, kniff gequält die Augen zu und hielt sofort wieder still. »Ich hab keine Angst vor dir«, antwortete er mit Nachdruck. »Du tötest nur böse Männer.«
Jesus, wie ich wünschte, das wäre wahr … »Nun, unser kopfloser Freund hier war lebendig jedenfalls furchteinflößender als tot, so viel ist sicher. Jetzt ist nichts Gruseliges mehr an ihm. Er ist einfach nur tot, das ist alles.«
»So wie Jeremy?«
»Richtig. Du erinnerst dich an Jeremy?«
»’türlich.«
Alan, der über das Wunder des menschlichen Gedächtnisses vermutlich mehr nachgedacht hatte als über irgendetwas anderes, durchschaute nie so recht, wie Oswalds Erinnerungsvermögen funktionierte. Es hatte große Lücken. Oswald schien nichts mehr von seinen Eltern oder seinem Zuhause zu wissen, und wenn man ihn nach der Zeit vor der Insel befragte, wurde er einsilbig und vage, nannte einen Namen oder einen Ort, aber es war unmöglich, seine Vergangenheit zu ergründen, denn er hatte sie verloren. Doch manchmal erinnerte er sich an die erstaunlichsten Details von Vorfällen, die Monate oder gar Jahre zurücklagen und die alle anderen längst vergessen hatten.
»Und weißt du auch noch, wie der bucklige Zwerg hieß?«
»Wulfstan.«
»Und der alte Knabe, mit dem Wulfstan die Hütte geteilt hat?«
»Griff. Er ist gestorben. Simon hat seine Decke bekommen.«
Alan nickte. »Aber du hattest keine Angst vor Griff, als er gestorben ist, oder?«
Oswald dachte einen Moment nach. »Nein«, stimmte er dann zu.
»Na siehst du. Also brauchst du dich vor dem Kerl in der Kiste genauso wenig zu fürchten.«
Oswald gab ihm recht, lächelte matt und erbrach sich dann ohne jede Vorwarnung auf seinen Kittel.
Alan wandte den Kopf ab und stützte einen Moment die Stirn in die Hand. »Fabelhaft, Oswald. Einfach großartig …«
Oswald fing an zu heulen, und Alan verspürte nicht den leisesten Drang, ihn zu trösten, denn er würde die Ehre haben, Oswalds Kleider auswaschen zu dürfen. Und so war er vollauf damit beschäftigt, sich zusammenzureißen und nicht zu sagen: Warum musst du so ein verdammter Schwachkopf sein?
Sie erreichten den Saum des Waldes, und nicht lange nachdem sie in seinen wohltuenden Schatten getaucht waren, stießen sie auf einen Bach.
Alan neigte sich zu Marigold hinüber und griff in die Zügel. »Hoh. Es ist ohnehin Zeit für eine Rast. Komm schon, Oswald, absitzen.«
Oswald war den Tränen immer noch gefährlich nah. Er kletterte vom Bock. »Bist du mir böse?«
»Blödsinn.«
»Bist du ja doch.«
Alan sah ihn an, schüttelte den Kopf und nahm ihn bei der Hand. »Nein. Und du musst dich jetzt endlich beruhigen. Komm her. Runter mit dem Kittel.«
Alan warf das ganze Malheur ins Wasser, beschwerte es mit einem Stein, damit es nicht davontrieb, und hoffte, der eilige Bach werde ein Übriges tun. Dann setzte er sich ins Ufergras und klopfte einladend neben sich. »Leg dich einen Moment hin und schließ die Augen. Davon wird dir besser.«
Oswald befolgte den Rat willig und streckte sich auf dem Rücken aus. Alan kramte das Tuch aus der Satteltasche, in welches das längst vertilgte Brot gewickelt gewesen war, tauchte es ins Wasser, wrang es aus und legte es Oswald auf die Stirn.
»Hhm.« Es war ein wohliger Laut. »Tut gut. Danke, Losian.«
»Keine Ursache.«
In beneidenswert kurzer Zeit war Oswald eingeschlafen.
Alan tränkte die Pferde, aß einen Happen, döste selber ein bisschen im duftenden Gras, und schließlich fischte er Oswalds Gewand aus dem Bachbett und hielt es prüfend hoch. Tadellos, stellte er zufrieden fest und begann, es gründlich auszuwringen. Und dann traf ihn etwas wie ein Felsbrocken im Nacken.
Alan fiel vornüber ins Wasser, benommen, aber noch hinreichend Herr seines Verstandes, um den Kopf zur Seite zu drehen, damit er nicht ertrank. Vielleicht hatte es auch nichts mit Verstand zu tun, sondern mit Überlebensinstinkt.
Warum tust du das, Oswald?, dachte er verwirrt, als kräftige Hände ihn an den Schultern packten und aus dem Wasser zogen.
»Ich hab mich kürzlich mal an eine Wäscherin am Fluss angeschlichen und es ihr von hinten besorgt, ohne dass sie je rausgekriegt hat, wer’s war«, sagte eine vollkommen fremde Stimme auf Normannisch. »Daran hast du mich gerade erinnert.«
»Was für eine hinreißende Geschichte«, murmelte Alan, den Mund voller Grashalme.
»Du sahst nicht so verlockend aus wie sie, aber du weißt so wenig, wer ich bin, wie die kleine Schlampe es wusste, he?«
Ein Stiefel landete in Alans Magengrube. Und weil er von dem Schlag auf den Kopf noch so erledigt war, versagte der wundersame Schutzmechanismus seiner Bauchmuskeln. Der Tritt schnürte ihm die Luft ab, Tränen schossen ihm in die Augen, und er rang hustend um Atem. »Nein«, brachte er schließlich zustande. »Aber ich nehme an, du kommst geradewegs aus Blackmore.«
»Wo zum Teufel soll das sein?« Eine Hand krallte sich in Alans Haare und riss seinen Kopf hoch. Er starrte in ein Gesicht, das er noch nie im Leben gesehen hatte, das ihn aber auf unbestimmte Weise an irgendwen erinnerte. Nur vage nahm er zur Kenntnis, dass jemand anderes seine Hände auf den Rücken zerrte und fesselte. Wer immer ihn hier aufgespürt hatte, war nicht allein gekommen.
»Kennen wir uns?«, fragte er mit grotesker Höflichkeit.
»Mein Bruder hatte das Vergnügen deiner Bekanntschaft. Ihr seid euch in Woodknoll begegnet. Vielleicht erinnerst du dich? Du hast ihn bei der Gelegenheit umgebracht.«
Alan erinnerte sich in der Tat. Er nickte. »Du bist … Rollo de Laigle.«
Das Gesicht über ihm verzerrte sich zu einer grinsenden Fratze. »Enchanté, du Hurensohn …«
Die Faust, die auf sein Gesicht zuflog, steckte in einem Kettenhandschuh. Im letztmöglichen Moment drehte Alan den Kopf weg, und sie traf seine Schläfe.
Wieder drohte ihm alles zu entgleiten. Er hörte einen Hund bellen. Grendel, natürlich. Dann ging das Bellen in ein Jaulen über und verstummte abrupt. Oswald fing an zu schreien: »Grendel! Losian! Grendel!«, und Alan wurde gepackt − von immer mehr Händen, so kam es ihm vor –, in die Höhe gezerrt, und die Fäuste prasselten wie Steinschlag auf ihn nieder. Rollo de Laigle war kein Anfänger, das hatte Alan schon bei dem ersten Schlag in den Nacken gewusst. Er kassierte eine munter sprudelnde Platzwunde über der Augenbraue, eine Reihe Hammerschläge vor Brust und Bauch und einen bedenklich lockeren Backenzahn, ehe er die altvertraute Stimme seines Onkels Gloucester in seinem Kopf hörte: Konzentrier dich! Denk nach. Vergiss den Schmerz. Vergiss das Blut. Sie bedeuten gar nichts. Überleben bedeutet alles.
Auf diese Stimme war immer Verlass gewesen, sogar in den Zeiten, da er vergessen hatte, wem sie gehörte. Sie kam, wenn er sie brauchte, und sie nahm ihm die Furcht. Sie machte ihn ruhig und kalt und gefährlich. Er öffnete die Lider und sah aus dem Augenwinkel zwei Paar behaarter Hände, die seine Arme gepackt hielten. Dann blickte er Rollo de Laigle in die verengten, wasserblauen Augen und sprang, als die Faust zuschlug. Sein linker Fuß brach de Laigle das Handgelenk, mit dem rechten trat er ihn vor die Brust.
De Laigles Kumpane hatten nicht damit gerechnet, sein ganzes Gewicht halten zu müssen, und alle drei gingen sie zu Boden.
Rollo de Laigle war ebenfalls hingeschlagen, rang japsend nach Luft und hielt sich die gebrochene Rechte mit der Linken.
Oswald kniete ein paar Schritte entfernt im Gras, von Kopf bis Fuß blutüberströmt. Aber es war nicht sein Blut, erkannte Alan. Oswald hielt Grendel in den Armen, dessen durchtrennte Kehle wie ein schauerlich grinsender Mund klaffte, und der Junge schrie sein Entsetzen und seinen Schmerz zum Himmel empor.
Alan war der Erste, der wieder auf die Füße kam, aber auch de Laigle sprang sofort wieder hoch. Wie Alan befürchtet hatte, gehörte sein Gegner nicht zu der Sorte, die sich mit einer gebrochenen Hand jammernd vom Feld der Ehre zurückzog. De Laigle zückte die Klinge mit der unverletzten Linken und setzte sie ihm an die Kehle. Alan wich zurück, bis er mit dem Rücken an einen Baumstamm stieß.
De Laigle folgte. »Stopft dem Schwachkopf das Maul«, befahl er seinen Kumpanen.
Einer von ihnen ging mit großen Schritten auf Oswald zu und ohrfeigte ihn. »Halt’s Maul«, knurrte er.
Oswald heulte lauter – völlig außer sich und in seiner Panik unfähig, zu verstehen, was der Mann ihm sagte, der ihn unbarmherzig weiterschlug. Alan sah zu und setzte alles daran, ein unbeteiligtes Gesicht zu machen. »Still, Oswald«, befahl er. Es klang schärfer, als der Junge es von ihm gewöhnt war, aber es funktionierte. Das hysterische Geheul verebbte zu einem leisen Weinen – todtraurig und herzerweichend. »Sie haben Grendel totgemacht. Sie … haben Grendel totgemacht, Losian …«
Alan antwortete nicht.
»Wieso nennt er dich so?«, fragte de Laigle irritiert.
»Woher soll ich das wissen?«, gab Alan zurück. »Er ist schwachsinnig, ich schätze, das ist nicht einmal dir entgangen. Die Bauern in Blackmore haben ihn mir mitsamt dem Karren geborgt, weil sie jetzt während der Ernte niemanden sonst entbehren konnten. Also wie soll ich wissen, was in seinem idiotischen Kopf vorgeht?«
Die Miene, mit der Oswald diese scheinbare Enthüllung seiner wahren Gefühle aufnahm, konnte Alan kaum aushalten. Sie war nicht einmal gekränkt. Sie zeigte eine Verlorenheit, die jedes andere Gefühl zu Asche zerfallen ließ. Und das Wissen, dass er vermutlich keine Gelegenheit mehr bekommen würde, Oswald die Dinge zu erklären, legte sich wie ein Bleigewicht auf Alans Herz. Aber er wusste einfach nicht, was er sonst hätte tun sollen. Denn wenn Rollo de Laigle auch nur ahnte, wie er in Wahrheit zu seinem sonderbaren Begleiter stand, dann würden sie Oswald vor seinen Augen in Stücke hacken …
»Wie hast du mich gefunden?«, fragte Alan, um de Laigles Aufmerksamkeit von Oswald abzulenken.
Der Normanne hob die massigen Schultern. »Wie schon! Ich bin dir gefolgt. Es hat ein Weilchen gedauert, dich aufzuspüren, aber jetzt hab ich dich. Und jetzt wird abgerechnet.« Er ließ Alan nicht aus den Augen, und der Druck der Klinge unterhalb des Kehlkopfs ließ niemals nach. »Macht ein Feuer«, befahl er seinen beiden Begleitern.
Feuer klang nicht gut, befand Alan. Er drehte möglichst unauffällig die Hände gegeneinander, aber de Laigles Trolle hatten dazugelernt: Es war keine Lederschnur, mit der sie ihn gefesselt hatten, sondern Bogensehne. Sofort schnitt sie ihm ins Fleisch, und er wusste, sie würde sich nicht dehnen lassen, der Knoten sich nicht lösen. Er war am Ende. Sein weiser Lehrmeister Gloucester hatte recht behalten: Lass dich niemals fesseln, Alan. Es ist besser zu fallen. Denn bist du einmal gefesselt, dann hast du nicht mehr in der Hand, auf welche Weise du stirbst. Du hast überhaupt nichts mehr in der Hand. Nur noch das: zu sterben wie ein Mann.
Ich werde mich bemühen, Onkel.
Blut rann ihm aus der Platzwunde ins Auge, und nicht nur weil es brannte, hätte er die Lider gern geschlossen. Auch um Oswald auszusperren, das kleine Feuer, das einen Schritt zu seiner Rechten munter zu prasseln begann, das erwartungsvolle Grinsen der Trolle. Und um zu beten und an Miriam zu denken und sie sich vorzustellen, so wie er sie zum ersten Mal gesehen hatte auf dem Platz am Brunnen vor der Synagoge, mit ihrem kleinen Bruder an der Hand. Aber es ging nicht. Er musste de Laigle unverwandt ansehen, damit der ja nichts von seiner Furcht bemerkte.
De Laigle erwiderte seinen Blick mit kühler Gelassenheit, und schließlich sagte er: »Jetzt sucht euch einen glühenden Stecken und stecht dem Schwachkopf ein Auge aus.«
Alan stockte der Atem, und es war, als ziehe seine Kopfhaut sich zusammen. Er sah zu Oswald. Der Junge hielt immer noch den toten Hund in den Armen, wiegte ihn sacht und weinte leise vor sich hin. Er hatte nicht gehört, was ihm bevorstand.
De Laigle gestattete sich ein kleines hasserfülltes Lächeln und folgte für einen Moment Alans Blick.
Der Moment war genug.
Alan riss den Kopf zur Seite. Fast im selben Augenblick stieß die Klinge zu, aber sie ging ins Leere. Alan sprang über das kleine Feuer und rannte zwischen die Bäume.
»Losian!«, rief Oswald angstvoll. »Lass mich nicht allein! Bitte, Losian, bitte …«
Er wandte sich nicht um. Er rannte, den Blick auf die dunkle Erde gerichtet, und gleich hinter sich hörte er die Verfolger, das Knarren ihrer Stiefel, den Fall ihrer Schritte, das Schleifen der Klingen, die die beiden Trolle zogen.
»Losian!«
»Bleib stehen, ich krieg dich ja doch«, keuchte de Laigle.
Vermutlich ja, fuhr es Alan durch den Kopf. Mit den gebundenen Händen hatte er keine Chance, schneller zu laufen als sie. Er fühlte ein warnendes Kribbeln im Nacken. Beinah hatten sie ihn. Er verlängerte seinen Schritt, warf den Oberkörper nach vorn, als er eine Hand spürte, die nach ihm greifen wollte, setzte über einen umgestürzten Baum, und dann sah er endlich das verräterische dunkle Grasbüschel, wonach er den Boden abgesucht hatte. Mit einem Satz glitt er nach rechts und ließ sich fallen.
De Laigle reagierte nicht sofort, und noch ehe er Alans Richtungswechsel so recht zur Kenntnis genommen hatte, gab der Boden unter seinen Füßen mit erschütternder Plötzlichkeit nach. Mit einem gedämpften Schreckenslaut landete der Normanne im Sumpf und war augenblicklich bis zur Hüfte eingesunken.
»Gott verflucht …«, schnauzte er angewidert. »Zieht mich raus!«
Einer seiner Trolle war neben Alan stehen geblieben und hielt ihn mit der Waffe in Schach. Als Alan sich mit einem kleinen Ruck aufsetzte, wich er einen halben Schritt zurück.
Der andere stand am Rand des Schlammlochs und blickte ein wenig ratlos auf seinen eingesunkenen Dienstherrn.
»Hörst du nicht, du Tölpel, hol mich raus«, befahl de Laigle noch einmal.
»Sofort, Monseigneur.« Er nahm hastig seinen Gürtel ab, trat einen Schritt näher an den Rand und warf de Laigle das lose Ende zu.
Wahrhaftig ein Tölpel, dachte Alan mit Befriedigung.
De Laigle packte das rettende Seil mit der unverletzten Hand, zog, und prompt brach der Rand des Sumpflochs unter den Füßen des Tölpels weg. Auch der landete mit einem gedämpften Platschen in der widerlichen schwarzbraunen Suppe.
»Du Schwachkopf!«, schrie Rollo de Laigle. Der erste Anflug von Furcht war in seiner Stimme.
Sein Leidensgenosse schlug in Panik um sich. »Hilfe! Fulk! Hilf mir! Hilf mir!« In Windeseile steckte er bis zu den Schultern im Sumpf. De Laigle versuchte, an den Rand des Lochs zu gelangen, und stützte sich dabei auf den bedauernswerten Tölpel, der schreiend unterging.
Und nicht wieder auftauchte.
»Fulk, hol mich raus!« De Laigles Stimme bebte.
Fulk trat einen Schritt zurück und sah auf Alan hinab. »Wie?«, fragte er hilflos.
Alan hob lächelnd die Schultern. »So jedenfalls nicht.«
»Tu du es.« Es war beinah eine Bitte. »Na los. Fisch ihn raus.«
Alan kam auf die Füße. »Du wirst mich losschneiden müssen.«
»Mach schnell!«, kam es aus dem Schlammloch.
Fulk nickte. »Dreh dich um.«
Folgsam wandte Alan ihm den Rücken zu, wartete, bis er seiner Fesseln ledig war, fuhr mit dem Dolch in der Faust wieder herum und rammte Fulk die Klinge ins Herz. »Ich fürchte, du bist auch ein Tölpel«, gab er dem Sterbenden mit auf den Weg.
Fulk sank beinah lautlos ins Gras.
Alan trat so nah an das Schlammloch, wie man riskieren konnte.
»Helft mir!«, schrie de Laigle, die Augen vor Entsetzen geweitet. »Helft mir, ich flehe Euch an …«
»Du flehst mich an?«, gab Alan ungläubig zurück. »Fang lieber an zu beten. Viel Zeit bleibt dir nicht mehr.«
De Laigles Schulter bewegte sich, als versuche er, eine Hand zu heben, aber es ging nicht mehr. Er steckte bis zum Hals im Sumpf.
»Losian …«
Oh, Jesus Christus, warum lässt du das zu?, dachte Alan erschrocken und fuhr herum. Er packte Oswald bei den rundlichen weißen Schultern, zog ihn unsanft an sich, presste das Gesicht des Jungen an seine Schulter und hielt ihm die Ohren zu.
Oswald sträubte sich. »Lass mich! Du bist voller Blut!«
»Schau dich doch mal selbst an.«
»Hol ihn raus, Losian, bitte, bitte …«
»Wir können nichts mehr tun. Es ist zu spät. Sieh nicht hin.«
»Helmsby … Helft mir! Um der Liebe Christi willen, helft …« Das letzte Wort ging in einem schauderhaften Gurgeln unter.
Oswald wehrte sich nicht mehr. Alan hielt ihn fest und hatte selbst ebenfalls das Gesicht abgewandt. Er hörte das Gluckern des Sumpfes, das Aufsteigen der Luftblasen, dieses gruselige, genüssliche Schmatzen. Er musste es nicht sehen. Jeder, der hier aufgewachsen war, wusste, wie es aussah, wenn ein Mensch im Moor ertrank. Und jeder, der hier aufgewachsen war, warnte Fremde vor den verräterischen dunklen Sumpfgrasbüscheln, statt sie hinzulocken. Oder zumindest fast jeder …
Als das Moor still geworden war, ließ er Oswald los und sah in seine Augen. Schock und Verstörtheit hatten sie verdunkelt. Wieder einmal war der Junge blau im Gesicht, und er zitterte.
»Was ich da vorhin gesagt habe, war ein Trick, Oswald.«
»Ich weiß. Zuerst wusst’ ich’s nicht, aber dann doch.« Er zeigte ein kleines, klägliches Lächeln, das sofort wieder verschwand. »Grendel … Er wollte die Männer beißen, und da hat der eine … Godric und Wulfric werden so traurig sein.«
»Ja, ganz bestimmt.« Alan legte ihm den Arm um die Schultern und führte ihn zurück zum Bachufer. »Komm. Wir müssen ihn begraben. Und dann sollten wir beide ein Bad nehmen, schätze ich. Wenn wir so in Helmsby auftauchen, kriegen wir Ärger mit meiner Großmutter.«
Der Zusammenstoß mit de Laigle hatte sie aufgehalten. Alan hatte Grendel am Ufer des Baches verscharrt, und weil Oswald davor graute, die Vögel könnten sich an Fulks Augen gütlich tun, hatte Alan dessen Leiche zu seinen Gefährten in den Sumpf geworfen. Nicht das schlechteste Grab, fand er. Vor allem für diejenigen, die schon tot waren, wenn sie hineingebettet wurden. Das Moor verwahrte seine Toten sicher. Wenn man versuchte, einen zu bergen, was die Leute hier gelegentlich taten, wenn etwa ein geliebtes Kind ertrunken war, dann gab es sie meist nicht her. Selbst wenn man sofort begann, mit Bootshaken nach ihnen zu fischen. Es verschluckte sie einfach. Dann wieder kam es vor, dass die Torfstecher schwärzlich verschrumpelte, aber völlig unversehrte sterbliche Überreste von Menschen fanden, die vermutlich seit Jahrhunderten vergessen waren. Das Moor war ein ewiges Geheimnis.
Die beiden Freunde hatten sich selbst und ihre Kleidung gesäubert, so gut es möglich war, und waren dann aufgebrochen, denn sie hatten das Bedürfnis, den Ort des Schreckens so schnell wie möglich hinter sich zu lassen. Aber Alan hatte nicht gewagt, an diesem Tag noch weit zu reisen, denn Oswald war krank vor Erschöpfung.
So kam es, dass sie erst am darauffolgenden Vormittag nach Helmsby zurückkehrten. Vor der Kirche hielt Alan an, wartete, bis Oswald vom Wagen geklettert war, und ging dann mit ihm ins dämmrige Innere.
»King Edmund?«
Dieser kam die Treppe von der Krypta herauf, wo die Reliquie des kleinen lokalen Heiligen verwahrt wurde, dem dieses Gotteshaus gewidmet war. Jenseits von Yare und Ouse kannte ihn niemand, doch hier wurde er glühend verehrt, obwohl die normannischen Bischöfe allesamt die fromme Stirn über lokale Heiligenkulte runzelten und Lord Helmsby gelegentlich aufgefordert hatten, dafür Sorge zu tragen, dass in seiner Kirche der »richtige« heilige Wulfstan verehrt werde.
»Ah!« Edmund streckte ihnen lächelnd die Hände entgegen. »Da seid ihr wieder. Willkommen zu Hause.« Und an Oswald gewandt, fügte er besorgt hinzu: »Alles in Ordnung, mein Sohn?«
Der Junge nickte.
»Unser Ausflug verlief nicht so unbeschwert und reibungslos, wie ich gehofft hatte«, erklärte Alan grimmig. »Ich lasse Oswald bei dir, wenn es recht ist. Was er vor allem braucht, ist ein bisschen Frieden.«
»Sicher.«
»Was macht Luke?«
»Ich komme gerade von ihm. Er hockt seit zwei Tagen unten in der Krypta und weigert sich, sie zu verlassen. Sie habe ihm das befohlen, sagt er.«
»Es wird schlimmer mit ihm«, bemerkte Alan beklommen.
Edmund nickte. »Aber wenigstens tobt er nicht.«
Fragt sich nur, wie lange das so bleibt, fuhr es Alan durch den Kopf. Trotzdem war er einigermaßen beruhigt, als er die Kirche verließ. Denn in dem Maße, wie es mit Luke bergab ging, schien King Edmunds Verfassung sich zu bessern. Nicht, dass ihm etwa Zweifel daran gekommen wären, dass er ein angelsächsischer Märtyrerkönig war, den die Heiden vor fast dreihundert Jahren abgeschlachtet hatten. Aber er war milder geworden und erregte sich nicht mehr so leicht. Er fiel über niemanden mehr her, der in seiner Hörweite fluchte, sondern beschränkte sich auf einen scharfen Verweis. King Edmund wuchs nicht nur mit seinen neuen Aufgaben, schien es Alan, er gesundete daran.
»Willkommen daheim, Mylord.«
»Danke, Edwy.«
»Alles in Ordnung mit den Gäulen?«
Alan nickte. »Marigold war eine gute Wahl.«
»Wusst ich’s doch.« Edwy fing an, die kleine Stute auszuspannen. »Was ist in der Kiste?«, fragte er neugierig.
»Die Kiste ist ein Sarg«, eröffnete Alan ihm und wandte sich ab. »Weißt du zufällig, wo mein Vetter Haimon ist?«
»In der Halle. Er lässt keine Gelegenheit aus, in Eurem Sessel zu sitzen, sobald Ihr den Rücken kehrt.«
»Dann lass die Kiste hinaufbringen. Und zwar jetzt gleich.«
»Wird gemacht, Mylord.«
Alan erklomm die Motte, betrat den Donjon und blieb am Eingang zur Halle unbemerkt stehen.
Ælfric und Athelstan waren ebenso nach Hause gekommen wie Bruder Elias und Roger. Alan brannte darauf, die Neuigkeiten der Letzteren zu erfahren, aber er fasste sich in Geduld und ließ den Blick durch den großen Raum schweifen. Seine drei jungen Ritter hockten mit dem Steward und den dienstfreien Wachen zusammen und tratschten vermutlich. Seine Großmutter hatte sich den Stickrahmen heruntertragen lassen, saß am Fenster und arbeitete. Haimon stand mit den drei Brüdern aus Ely auf der Estrade zusammen, und sie waren in ein offenbar ernstes Gespräch vertieft. Ein halbes Dutzend Kinder tollte mit einer etwa gleich großen Schar Hunde in den Binsen herum.
Alan betrat seine Halle. »Raus mit euch«, befahl er den kleinen Rabauken. »Was tut ihr denn hier drin bei dem herrlichen Wetter? Nehmt die Tölen mit, na los.«
Sie trollten sich, und Alan schlenderte auf die hohe Tafel zu.
Lady Matilda entdeckte ihn als Erste, und sie strahlte. »Da bist du ja wieder.«
Er trat zu ihr, nahm ihre alte, schmale Hand in seine beiden und führte sie kurz an die Lippen. »Da bin ich wieder«, stimmte er lächelnd zu.
»Wie war Metcombe?«
»So frostig wie immer. Aber ich glaube, wir haben eine Lösung gefunden, mit der alle zufrieden sein können, auch wenn niemand das zugeben wird.«
Sie nickte. »Was ist mit dem Kind? Ah, ich sehe schon, du bist rettungslos verloren.«
Das konnte er nicht bestreiten. »Ich würde gerne deinen Rat hören, was aus ihr werden soll.«
»Du willst meinen Rat? Fühlst du dich nicht wohl?«
Er biss sich auf die Unterlippe. Dann hörte er Schritte am Eingang der Halle, und seine Miene wurde schlagartig ernst. »Lass uns später darüber reden.«
»Einverstanden.«
Alan trat in die Mitte der Halle und blieb vor der Estrade stehen.
»Haimon.«
Sein Cousin wandte sich um, und höchst interessante Dinge spielten sich auf seinem Gesicht ab: Seine Augen weiteten sich, dann glitt sein Blick suchend zum Eingang, und schließlich wurde er bleich. »Cousin … du bist nach Hause gekommen.«
»Überrascht?«
»Wieso in aller Welt sollte ich überrascht sein?« Er hatte sich schnell wieder gefangen, man musste ihn beinah dafür bewundern.
Vier Knechte kamen mit der Kiste auf den Schultern herein, und auf Alans Zeichen stellten sie ihre Last zu seinen Füßen ab. Sie ächzten ein wenig.
»Ich war in Blackmore«, berichtete Alan seinem Cousin. »Und ich habe dir von dort etwas mitgebracht.« Er wies auf die Kiste.
Zögernd kam Haimon von der Estrade, stellte sich vor ihn und sah ihn fragend an.
»Mach sie auf«, schlug Alan vor. »Ich erinnere mich, du warst immer ein großer Freund von Überraschungen.«
Haimon zuckte die Schultern, legte die Hand an den schweren Deckel und klappte ihn auf.
»Unliebsamen Überraschungen vor allem«, fügte Alan hinzu.
Haimon starrte unbewegt in die Kiste, und er schreckte nicht zurück. Die Männer am Tisch raunten verwundert, und einer der drei Mönche stieß einen schrillen Schrei aus. Lady Matildas Miene zeigte nichts als höfliches Interesse.
Die zwei Tage in der Kiste hatten der Leiche nicht gerade gutgetan. Das Blut war zu einem ekligen Braun getrocknet, der Kopf ans Fußende gerollt, von wo aus die starren Augen aus einem gelblich wächsernen Gesicht zur hohen Decke starrten, und wegen des sommerlichen Wetters roch sie auch nicht mehr besonders gut. Alan war dankbar, dass die Pergamentbespannung von den Fenstern entfernt worden war, sodass sich in seiner Halle immer ein Lüftchen regte.
»Tut mir leid, Cousin. Ich weiß, er war dir treu ergeben und gewiss teuer. Aber es war die einzige Sprache, die er verstand, als ich zu erklären versucht habe, dass Blackmore mir gehört und nicht dir.«
»Ha!« Es war ein Ausruf tiefster Befriedigung, der sich der Kehle des Stewards entrang. »Gut gemacht, Mylord!«
»Du … Bastard«, brachte Haimon hinter zusammengebissenen Zähnen hervor.
»Ich weiß, ich weiß.« Alan hob begütigend die Hände. »Und du bist überzeugt, aus dem Grunde stünde dir alles zu, was mir gehört. Wie ich dir neulich schon sagte, habe ich in gewisser Weise Verständnis für deinen Zorn, aber du hast den letzten Rest meiner Nachsicht verspielt.«
»Gut!«, gab Haimon zurück. Ein eigentümlicher, beinah fiebriger Glanz lag in seinen Augen. »Das erleichtert mich. Deine Gönnerhaftigkeit fand ich seit jeher schwerer zu ertragen als deine Überheblichkeit.«
»Könntet ihr die Kiste schließen, ehe ihr weiterstreitet?«, fragte ihre Großmutter.
»Nein«, antwortete Alan grimmig, ohne Haimon aus den Augen zu lassen. »Einen Augenblick noch. Ich will, dass du ihn dir genau ansiehst, Haimon.«
»Wozu? Erwartest du, dass mich mein Gewissen plagt, obwohl du ihn erschlagen hast? Das wäre dir zuzutrauen.«
»Du weißt doch überhaupt nicht, was ein Gewissen ist«, entgegnete Alan verächtlich. »Dieser jämmerliche Tropf hier ist tot, weil du das Recht gebrochen hast. Und er war nicht der einzige Mann, den ich töten musste. Ich breche zu einer zweitägigen Reise über meine Güter auf, und plötzlich wird ein Krieg daraus. Warum?, habe ich mich gefragt. Und die Antwort lautet: weil du es wolltest.«
»Ich habe nicht die leiseste Ahnung, wovon du sprichst.«
»Du warst in Woodknoll.«
»Wo?«
»Du hast Rollo de Laigle meinen Namen gesagt und wo er mich findet.«
»Wer?«
Alan atmete tief durch und ballte die Fäuste. »Nimm dich in Acht, Haimon …«
»Das tu ich immer, wenn du in der Nähe bist, aber du sprichst in Rätseln.«
»Woodknoll ist Simon de Clares Gut. Zwei Brüder namens de Laigle hatten es sich genommen, während er fort war.«
»Und woher in aller Welt sollte ich das wissen?«
»Es war kein Geheimnis. Simon hat Henry davon erzählt. Henry dir, nehme ich an. Arglos. Ohne zu ahnen, was du tun würdest. Als ich Susanna fortgeschickt habe, warst du tagelang verschwunden. Inzwischen ist mir klar, wo du gesteckt hast. Du warst in Woodknoll und hast Rollo de Laigle überredet, dafür zu sorgen, dass ich von meiner kleinen Reise nicht heimkomme.«
»Ich bin überzeugt, das wäre nicht schwierig gewesen«, höhnte Haimon. »Du hast ein solches Talent, dir Feinde zu machen. Aber wie in aller Welt kommst du darauf, du wärst mir eine Reise nach Lincolnshire wert?«
»Sieh an, du weißt, wo es liegt, ja?«, warf Guillaume empört ein. »Das ist doch …«
Alan brachte ihn mit einem Blick zum Schweigen. Er war dankbar für die unerschütterliche Loyalität seines Stewards, aber er wollte ihn im Augenblick nur als Zeugen, denn er hatte einen Plan.
»De Laigle hat behauptet, er sei mir gefolgt«, berichtete er Haimon. »Aber das ist unmöglich. Von Lincolnshire nach Norwich, nach Helmsby, wieder nach Norwich, auf Umwegen nach Bristol und zurück nach Hause? Warum hätte er so lange warten sollen, eh er mich stellt? Und er kannte meinen Namen. Aber als ich in Woodknoll war und seinem Bruder begegnet bin, kannte ich meinen Namen nicht einmal selbst. Nein. Irgendwer hat ihn auf meine Fährte gesetzt.«
»Und wie kommst du darauf, dass ich es war?«, konterte Haimon. Sein Gesicht hatte sich gerötet, und auf seiner Stirn perlte Schweiß.
»Weil du mein Erbe bist. Du und Susanna. Ich nehme an, es war ihre Idee. Aber nach Woodknoll geritten bist du. Und weil dein Hass auf mich so unstillbar ist, dass die Vorstellung meines Todes allein nicht genug war, hast du de Laigle noch einen kleinen Rat mit auf den Weg gegeben: ›Sollte sich ein Krüppel oder ein Narr in seiner Begleitung befinden, töte ihn zuerst‹, hast du gesagt. ›Tu es langsam und lass ihn zusehen. Er hat eine eigentümliche Schwäche für sie. Aber du kannst es bedenkenlos tun. Sie sind nicht so wie wir. Sie haben keine Seele, sie sind nicht nach Gottes Ebenbild erschaffen. Du tust der Welt einen Gefallen, wenn du einen von ihnen vom Angesicht der Erde tilgst.‹ Und das, Haimon …« Er zwang seine Fäuste, sich zu öffnen, und war nicht verwundert, die blutigen Sicheln zu sehen, die seine Nägel in die Handflächen gebohrt hatten. Er war vollkommen außer sich, verstand kaum, wie es ihm gelang, sich zu beherrschen. »Das war unverzeihlich«, schloss er tonlos.
Haimon musterte ihn voller Verachtung. »Du bist so verrückt wie deine Freunde«, stieß er hervor.
»Du leugnest es?«
»Jedes Wort.«
Alan nickte und wies auf den Toten. »Dann schwöre bei seiner Seele, dass es nicht wahr ist.«
Haimon lachte auf. »Ich werd den Teufel tun …«
Die Wachen und Ritter am Tisch murmelten aufgebracht untereinander. »Du musst es tun«, verlangte Guillaume ärgerlich.
Haimon winkte ab. »Du hast mir gar nichts zu befehlen, du Bauer.«
Die aufgebrachten Stimmen wurden lauter.
Die drei Mönche tauschten beunruhigte Blicke, ehe Bruder Elias einen verhaltenen Schritt vortrat. »Leistet den Eid, mein Sohn, sonst wird der Verdacht gegen Euch immer im Raume stehen und Euer Verhältnis zu Eurem Nachbarn und Cousin vergiften.«
Haimon schüttelte den Kopf wie ein trotziger Junge. »Das hier ist kein Gericht. Niemand hier hat das Recht, mir einen Unschuldseid abzunehmen.«
Seine Großmutter erhob sich von ihrem Platz am Stickrahmen. »Schwöre, Haimon«, befahl sie. Das Gemurmel verstummte.
Er schnaubte. »Ich hätte jede Wette abgeschlossen, dass du ihm glaubst und nicht mir. So war es ja seit jeher, nicht wahr?«
Sie stand zu ihrer vollen, beachtlichen Größe aufgerichtet, und seine Bitterkeit perlte von ihr ab. »Ich werde dir glauben, wenn du den Schwur leistest. Was ist so schwierig daran, wenn der Vorwurf haltlos ist?«
»Ich …« Haimons Wut war mit einem Mal verraucht, und bis auf zwei hektische rote Flecken auf den Wangen war sein Gesicht bleich geworden. Gehetzt sah er sich in der Halle um, aber er las nur Argwohn und Schrecken in den Mienen der Versammelten.
Er senkte den Kopf, stand einen Moment still, dann beugte er sich ein wenig vor, hob den Deckel der Kiste an und ließ ihn krachend zufallen. »Ich leiste dir keinen Schwur, Alan. Ich habe es nicht nötig, mich so vor dir zu erniedrigen.«
Alan nickte und wartete, bis Haimon ihn wieder ansah. Dann sagte er: »Verschwinde. Sei klug und lass dich nie wieder in Helmsby blicken. Wir haben das gleiche Blut, und darum will ich dich nicht töten, aber wenn du mir oder den Meinen je wieder Schaden zufügst, werde ich es tun, Haimon.« Er stieß mit der Stiefelspitze an die Kiste. »Vergiss deinen Freund nicht. Und sei gewarnt: Jeder, den du nach Blackmore schickst, wird genauso zu dir zurückkehren.«
Haimon sah ihm noch einen Moment in die Augen, dann wandte er sich ab und durchschritt ohne Eile die Halle. An der Tür wandte er sich noch einmal um. Für einen Moment schien es, als wolle er noch etwas sagen, aber der unverhohlene Abscheu in den Gesichtern verschlug ihm die Sprache. Er schüttelte den Kopf – fassungslos, so schien es – und ging hinaus.