Helmsby, Juli 1147
Seine drei Cousins, Roger, Athelstan und Ælfric, begleiteten Alan nach Hause, und sie waren gute Gesellschaft, stellte er ohne große Überraschung fest. Das waren sie immer gewesen. Sie taten willig, was er ihnen auftrug, benahmen sich passabel, wenn sie abends an einem Gasthaus haltmachten, und ließen ihn weitgehend in Ruhe, vollauf zufrieden damit, nebeneinanderzureiten, wenn die Breite der Straße es zuließ, und leise unter sich zu reden und zu lachen. So war es immer schon gewesen, entsann sich Alan. Roger, Athelstan und Ælfric bildeten seit ihrer Kindheit in Helmsby ein unzertrennliches Kleeblatt. Sie hatten Alan niemals aus ihrer Gemeinschaft ausgeschlossen, aber sie hatten auch nie versucht, die Bollwerke einzureißen, die er um sich errichtete. Sie brauchten ihn nicht, so wenig wie umgekehrt.
Dennoch schwang ein leiser Vorwurf in Athelstans Stimme, als er sagte: »Es wär besser gewesen, du hättest uns mitgenommen, als du damals aus Bristol verschwunden bist. Dann wäre das alles vielleicht gar nicht passiert.« Sie saßen am letzten Abend ihrer viertägigen Reise am Ufer eines stillen Sees, wo sie ihr Lager aufgeschlagen hatten. Das kleine Feuer war heruntergebrannt, sodass sie nicht geblendet waren und einander gut erkennen konnten.
»Tja, wer weiß. Aber du warst verwundet, oder?«, fragte Alan. Es klang unsicher. Ständig ertappte er sich dabei, dass er seinem wiedergefundenen Gedächtnis nicht so recht traute. »Ein Armbrustbolzen hatte dich am Arm erwischt?«
»Oh, das war nichts«, widersprach Roger wegwerfend. Er hatte keine Stirnglatze wie sein Bruder, der Steward, sondern im Gegenteil einen dichten Lockenschopf, der in einen ebenso üppigen, gelockten Bart überging, sodass sein Gesicht wie von einer Löwenmähne umrahmt war. »Er hätte schon reiten können. Aber du hast nicht erlaubt, dass wir mitkommen. Weil der alte Wolf dir verboten hatte zu gehen.«
Alle Männer in Bristol nannten den Earl of Gloucester so. Alan erhob keine Einwände, weil seine Ritter den despektierlichen Spitznamen mit so offenkundiger Ehrfurcht aussprachen.
»Als es hieß, Geoffrey de Mandeville habe dich geschnappt, haben wir uns Vorwürfe gemacht«, gestand Ælfric. »Wir sind sofort nach Hause geritten und haben uns auf die Suche nach dir und nach ihm gemacht. Doch als wir ihn in Suffolk endlich fanden, war’s schon zu spät. Er war tot. Elend an Wundbrand verreckt, hieß es.«
Alan nickte. »Besser so. Gott allein weiß, was er getan hätte, wärt ihr ihm in die Hände gefallen. Und er hätte euch ja nicht sagen können, wo ich bin.«
»Wieso bist du so sicher?«, konterte Roger. »Wieso soll nicht er es gewesen sein, der dich in dieses Kloster am Ende der Welt verschleppt hat?«
»Nicht sein Stil, oder?«, entgegnete Alan.
Seine drei Cousins nickten nachdenklich.
»Sein Stil war es eher, seine Opfer in einen Sarg voll spitzer Steine zu legen«, knurrte Ælfric. »Das haben uns die Bauern von Ely erzählt. Er legte einen von ihnen in diesen Sarg, ließ weitere scharfkantige Steine auf ihn häufen und dann den Deckel schließen. Die Steine zermalmten dem armen Teufel allmählich die Knochen. Die anderen aus dem Dorf mussten zusehen, und als sie es nicht mehr aushielten, die Schreie zu hören, haben sie schließlich verraten, wo sie ihre Pennys versteckt hatten. Mandeville hat den Mann trotzdem nicht aus dem Sarg geholt.«
Alan bekreuzigte sich.
»Jetzt liegt er selbst in einer Kiste und verfault«, bemerkte Roger mit Befriedigung. »Unbegraben. Wegen der Überfälle auf die Klöster in Ely und Peterborough haben sie ihn exkommuniziert, und seine Söhne weigern sich, ihn in ungeweihter Erde zu verscharren. Bleibt zu hoffen, dass sie einen gut belüfteten Raum haben, um ihren alten Herrn aufzubewahren …«
»Aber wenn er es nicht war, der dich nach Yorkshire verschleppt hat, wer dann?«, fragte Athelstan nach einem kurzen Schweigen.
»Ich weiß es nicht«, bekannte Alan.
»Wer war bei dir?«
Alan schüttelte den Kopf. »Diese letzten Tage sind immer noch sehr lückenhaft in meiner Erinnerung. Aber soweit ich weiß, bin ich ohne Begleitung von Helmsby aufgebrochen. «
»Was um Himmels willen hast du dir dabei gedacht?«, schalt Ælfric. »Wolltest du es ganz allein mit Geoffrey de Mandevilles Privatarmee aufnehmen?«
»Ich bin nicht sicher, ob ich überhaupt irgendetwas gedacht habe.«
Athelstan ohrfeigte sich selbst, weil eine der zahlreichen Mücken auf seiner Wange gelandet war. »Lasst uns ein bisschen junges Holz auflegen, sonst sind wir morgen früh ausgesaugt.«
»Lieber zerstochen als erstickt«, widersprach Ælfric.
Alan ließ sich auf die Ellbogen zurücksinken und sah in den Sternenhimmel hinauf. Es war eine klare Nacht, und der Mond war noch nicht aufgegangen. Wie ein juwelenbesetztes Kirchengewölbe erstreckte der Himmel sich über dem flachen Land. East Anglia mochte reichlich mit Sümpfen und Mücken gesegnet sein, aber er war sicher, nirgendwo in England sah man einen so weiten Sternenhimmel wie hier. Und er stellte fest, dass er es kaum erwarten konnte, nach Helmsby zu kommen. Er verspürte etwas, das er vollkommen vergessen hatte: Heimweh. Er schwelgte in dem Gefühl. Nur wenn man wusste, wer man war und wohin man gehörte, konnte man Heimweh empfinden. Welch ein Luxus, dachte er. Welch ein Geschenk. Er fand es ein bisschen albern, wie sehr dieses Gefühl ihn beglückte, aber das änderte nichts an dessen Heftigkeit. Seine Sehnsucht nach Helmsby, nach seiner wunderschönen Burg, seinen Wäldern und Weiden und Feldern und seiner atemberaubenden Kirche war so überwältigend, dass sie sein Unbehagen ob des Wiedersehens mit all den Menschen, die ihn dort erwarteten, weit überwog.
Im goldenen Abendlicht des folgenden Tages ritten sie in den Burghof ein. Alan saß vor dem Stall ab, klopfte Conan dankbar den muskulösen Hals und reichte die Zügel einem der Stallknechte. »Hier, Edwy. Eine Bremse hat ihn direkt am Auge erwischt. Sieht schlimm aus. Aber du weißt ja sicher, was zu tun ist.«
Edwy nickte und sah ihn unverwandt an. »Ihr wisst meinen Namen wieder.«
»Was? Oh …« Alan lächelte verlegen und fuhr sich mit der Hand über Kinn und Hals. »Ja. Ich weiß ihn wieder.«
Der alte Stallknecht, der mehr über Pferde wusste als alle übrigen Männer in Helmsby zusammen, nickte zufrieden und führte seinen Schützling aufs Stalltor zu. »Willkommen zu Haus, Mylord«, brummelte er über die Schulter.
»Danke.«
Alan ging mit langen, beinah federnden Schritten auf die Motte zu und schaute sich derweil um. Fast war es, als sehe er Helmsby Castle zum ersten Mal, und mit diesem neuen, frischen Blick erkannte er, wie viele Details seiner Burg der seines Onkels Gloucester nachempfunden waren. Er konnte sich nicht erinnern, sie bei der Planung bewusst zum Vorbild genommen zu haben, aber die Anordnung der Wirtschaftsgebäude, die Anlage der Torhäuser und vor allem der Donjon glichen denen in Bristol.
Er erwiderte den Gruß der Wachen mit so untypischer Leutseligkeit, dass die beiden Männer verdutzte Blicke tauschten, stürmte die Treppe hinauf und betrat seine Halle. Die meisten der Burgbewohner hatten sich schon eingefunden, denn es war Zeit fürs Nachtmahl. Die Mägde füllten Schalen aus dampfenden Kesseln, Brotlaibe wanderten herum. Auf dem Weg an die hohe Tafel nickte Alan den Menschen zu, die ihn teils erfreut und teils mit etwas misstrauischer Zurückhaltung begrüßten, und schließlich verneigte er sich formvollendet vor seiner Großmutter. »Madame.«
»Sieh an.« Es klang frostig, aber immerhin sprach sie wieder mit ihm. Es schien gar, als bereite es ihr Mühe, ihn so strafend anzuschauen, wie sie für angemessen hielt. »Und darf man fragen, wo du gewesen bist?«
»In Norwich. In Bristol. Hier und da.« Aus dem Augenwinkel sah er Susanna, die reglos auf ihrem Platz neben Lady Matilda saß, aber er schaute sie nicht an. Eins nach dem anderen, schärfte er sich ein.
»Ich hoffe, du hast gefunden, was immer du dort gesucht hast«, sagte seine Großmutter.
Er sah ihr in die Augen. »Denk nur, das hab ich tatsächlich.«
Simon, der ein Stück weiter links mit den drei Brüdern aus Ely an der hohen Tafel saß, legte eine Hand vor den Mund und murmelte: »Du hast dich erinnert. Du hast dein Gedächtnis wiedergefunden.«
Alan trat zu ihm und nickte.
Simon ließ die Hand sinken. »Der Herr sei gepriesen.« Er schüttelte mit einem verwunderten und seltsam scheuen Lächeln den Kopf.
»Amen«, murmelte Bruder Cyneheard. Oder vielleicht war es auch Bruder Elias. »Wir haben nie nachgelassen, für Eure Genesung zu beten, Mylord.«
»Das weiß ich zu schätzen, Bruder«, versicherte Alan. Er bemühte sich, jeden Anflug von Hohn aus seiner Stimme zu halten, dachte jedoch: Wenn ihr hofft, dass ich deswegen fortan ein großzügiger Gönner eures Hauses sein werde, dann steht euch eine Enttäuschung bevor. Es wird viel Zeit vergehen, ehe ich mein Wohlwollen wieder einem Kloster schenken kann …
Er vergaß den Mönch, blickte wieder auf seinen jungen Gefährten hinab und erkannte, was es war, das Simon mit einem Mal so zu schaffen machte. »Ich bin kaum zurück, und schon willst du mich so grässlich beleidigen, indem du an mir zweifelst, Simon de Clare?«, fragte er leise.
Der junge Mann senkte beschämt den Blick, sah aber sofort wieder hoch. »Du bist genesen. Und denk ja nicht, ich wäre nicht von Herzen glücklich darüber. Aber …«
Du bist keiner von uns mehr. Alan hörte es beinah, so deutlich stand es Simon ins Gesicht geschrieben.
»Das ändert nichts an den Dingen, die wir gemeinsam erlebt und getan haben«, wandte Alan ein.
»Nein. Natürlich nicht.« Simon rang sich ein Lächeln ab. »Jedenfalls tut es gut, dich zu sehen. Wenn ich das den anderen erzähle … Oswald wird außer Rand und Band sein über deine Heimkehr.«
Alan verstand auch, was Simon ihm nicht sagte. »Danke, dass du hier für mich die Stellung gehalten hast. Das werde ich dir nie vergessen. Und ich mach es wieder gut, du wirst sehen.«
Simon schüttelte den Kopf. »Du schuldest mir nichts.«
»Ich bin anderer Ansicht. Wir reden später darüber.« Ihre Unterhaltung war im Flüsterton vonstattengegangen, aber dennoch war man in der Halle niemals unbeobachtet und selten unbelauscht. »Geh nur und erzähl es den anderen, wenn du willst. Sagen wir, wir treffen uns eine Stunde nach Sonnenuntergang in der Kirche?«
»Abgemacht.«
Alan kehrte an die Mitte der Tafel zurück, wo eilig ein Sessel für ihn aufgestellt worden war, und während Matilda und Guillaume die drei heimgekehrten Ritter begrüßten, nickte Alan seinem Cousin zu. »Haimon.«
»Alan. Wieder Herr deiner Sinne, ja?« Er war verdächtig blass geworden, und irgendetwas funkelte in seinen verengten Augen.
Die Erkenntnis, dass es seinem Cousin sehr viel lieber gewesen wäre, er wäre auf immerdar an Geist und Seele verkrüppelt geblieben, bestürzte Alan, aber er wollte verdammt sein, wenn er sich das anmerken ließ. Er zwinkerte Haimon zu. »Enttäuscht?« Ohne eine Antwort abzuwarten, wandte er sich an seine Frau, und jeder Übermut war aus seiner Miene verschwunden. »Geh nach oben. Warte dort auf mich.«
Susanna sah ihm einen Moment in die Augen; forschend, herausfordernd, flehend – er wusste den Blick nicht zu deuten. Dann erhob sie sich ohne unwürdige Hast und trat auf die Tür zu, die zur Treppe führte.
»Du tust ihr nur einen Gefallen, wenn du sie fortschickst«, raunte seine Großmutter ihm zu. »Hier vor den Augen der Welt leidet sie mehr.«
Von ihrer unverhohlenen Rachsucht konnte einem mulmig werden. Alan deutete ein Achselzucken an. »Ich bin hungrig, aber ich gedenke nicht, je wieder an einem Tisch mit ihr zu essen. Also muss sie gehen oder ich. Im Übrigen wäre ich dankbar, Großmutter, wenn du dich fortan aus meinen persönlichen Angelegenheiten heraushalten würdest.«
Nichts rührte sich in ihrem Gesicht, aber das Blau ihrer Augen schien für einen Moment heller zu strahlen. »Ich bin beglückt, dass du zu deinem liebenswürdigen Selbst zurückgefunden hast. Ganz der alte Alan.«
Der bin ich nicht, und der werde ich wohl auch nie wieder sein, dachte er. Aber er ging über ihre Spitze hinweg. Er erinnerte sich – genau wie sie offenbar auch –, dass es früher ein häufiges Streitthema zwischen ihnen gewesen war, wie viel Einfluss ihr auf sein Leben zustand. Sie war nicht seine Mutter. Sie war, seit er erwachsen geworden war, auch nicht mehr der Vorstand dieses Haushalts. Aber sie hatte ihn großgezogen, sie hatte jahrzehntelang über Helmsby geherrscht und war darüber hinaus als König Henrys Vertraute eine sehr mächtige und einflussreiche Dame gewesen. Es lag nicht in ihrer Natur, solch eine Position kampflos aufzugeben, und so kam es, dass ihr Enkel ihr jeden Zoll seiner kostbaren Unabhängigkeit hatte abtrotzen müssen. Matilda hatte es immer genossen, mit ihm zu streiten. Alan fragte sich, ob die vergangenen drei Jahre ihn klüger und langmütiger gemacht hatten, sodass er ihr heute nicht mehr so leicht in die Falle gehen würde wie früher. Er nahm an, er würde bald Gelegenheit haben, es herauszufinden.
»Ich bedaure den Vorfall mit der Laute deines Vaters«, offerierte er als Friedensangebot.
»Immerhin«, brummte sie krötig. Dann lenkte sie unerwartet ein. »Bruder Elias sagt, in Ely gibt es einen Mönch, der sie vermutlich reparieren kann.«
»Ich bringe sie hin, wenn ich das nächste Mal nach Norwich reite.«
»Du warst bei Ruben ben Isaac?«
»Eigentlich bei seinem Bruder. Woher in aller Welt weißt du das?«
»Ruben hat mir geschrieben. Er ist ein alter Freund.«
Alan fiel aus allen Wolken. »Wie kann das sein?«
Staunend lauschte er, während seine Großmutter ihm eröffnete, wie alt die Verbindung zwischen seiner eigenen und Miriams Familie schon war. Er war nicht sicher, ob das seine Aussichten, sein ersehntes Ziel zu erreichen, in irgendeiner Weise besserte, aber es machte ihm Hoffnung.
»Und dieser Josua hat dich geheilt?«, fragte Matilda neugierig.
»In gewisser Weise. Zumindest hat er mich auf den richtigen Weg gebracht. Und nun muss ich ein Hospital in Norwich stiften, wo er Menschen wie meine Gefährten und mich behandeln will. Aber ich habe keine Ahnung, wie ich das anstellen soll, ohne Schwierigkeiten mit dem Bischof von Norwich zu bekommen. Er liebt die Juden nicht besonders, habe ich gehört.«
Matilda trank einen Schluck Wein und nickte versonnen. »Mach dir keine Sorgen, Alan. Du wirst einen Weg finden. Du findest doch immer einen Weg, um zu bekommen, was du willst, nicht wahr. Das hast du zweifellos von deinem Vater.«
Er fragte sich unbehaglich, was sie damit sagen wollte. Ob Josuas redseliger Bruder in seinem Brief etwa Andeutungen über Alan und Miriam gemacht hatte. »Ich wünschte, ich hätte deine Zuversicht«, murmelte er.
Sie tätschelte ihm den Arm, und ihre Worte standen in schockierendem Gegensatz zu der großmütterlichen Geste: »Eine Exkommunikation ist nicht das Ende der Welt, weißt du. Früher oder später wird sie rückgängig gemacht. Wenn der Preis stimmt.«
»Es sei denn, man stirbt, ehe man ihn bezahlt hat. Ich bin jedenfalls nicht erpicht darauf, unbeerdigt in einem Sarg in der Gegend herumzustehen wie Geoffrey de Mandeville und auf bessere Zeiten zu hoffen.«
Matilda gluckste. »Nein, das ist wirklich eine ziemliche Peinlichkeit für die Familie.«
Er sah sie pikiert an, und dann brachen sie beide in Gelächter aus.
Gott sei gepriesen, dachte er selig, Alan of Helmsby ist nach Hause gekommen.
»Hier. Ich habe einen Weinschlauch mitgebracht. Ich hoffe, du hast keine Einwände, King Edmund.«
Alan legte den Schlauch auf die steinernen Bodenfliesen seiner Kirche, gleich neben Aliesa. Die Zwillinge, ihr Hund, Luke, Simon und King Edmund umringten ihn.
»Keineswegs, mein Sohn. Ich hole den Kelch, und wir trinken auf deine Genesung und Heimkehr.«
»Wie war Norwich?«, fragte Godric neugierig. »Was hat der alte Josua mit dir angestellt, dass du dich erinnert hast?«
»Du siehst ein bisschen dürr und mitgenommen aus«, befand sein Bruder kritisch.
»Mein Bier ist fertig, Alan«, bekundete Luke. »Wie wär’s, wenn ich dir einen Krug davon hole? Das bringt dich im Handumdrehen in Ordnung.«
Alan lächelte und nickte, ohne genau zu wissen, wozu er sein Einverständnis gab, und trat aus ihrer Mitte zu der dicken, mit Zahnornamenten verzierten Säule, in deren Schatten Oswald stand. Den Kopf gesenkt, die Arme demonstrativ vor der Brust verschränkt.
Das sah nicht gut aus.
»Oswald …«
Nichts.
»Ich verstehe, dass du wütend bist, weil ich einfach verschwunden bin, ohne Lebewohl zu sagen. Aber es ging nicht anders, glaub mir. Jetzt bin ich wieder da und …«
»Geh weg«, unterbrach Oswald. Seine Stimme klang ungewohnt tief und heiser.
»Was?«, fragte Alan verdattert.
»Geh weg. Nicht mehr mein Freund.«
Es fühlte sich an wie ein vergifteter Dolch in der Brust. Alan wich unwillkürlich einen Schritt zurück und sah den Jungen betroffen an. »Das kann nicht dein Ernst sein.«
Oswalds Blick sagte mehr als tausend Worte. Es war sein Ernst.
Was fällt dir eigentlich ein, du undankbarer Bengel?, lag Alan auf der Zunge. Ich habe dich aus der Isolation geholt und Sprechen gelehrt. Ich habe dafür gesorgt, dass die, die stärker waren als du, dir deinen Anteil am Essen und deine Decke ließen. Du hättest keine Woche überlebt ohne mich. Ist das alles nichts wert?
Nein, lautete die Antwort natürlich. In gewisser Weise zumindest. Oswald war enttäuscht, sein Vertrauen erschüttert. Das war das Einzige, was er im Moment genau wusste. Er litt, und darum wollte er zurückschlagen.
Alan nahm ihn zaghaft bei der Hand.
Oswald riss sich los.
Die anderen standen dabei und schauten zu, die Mienen bekümmert, aber niemand mischte sich ein.
»Oswald, hör mir zu«, bat Alan.
»Geh weg.«
Alan schüttelte den Kopf. »Das kannst du nicht machen. Du darfst mich nicht einfach wegschicken, nur weil ich etwas getan habe, das dir nicht gefällt. So funktioniert das nicht unter Freunden.«
»Stich gelassen!«, schleuderte Oswald ihm entgegen.
Godric konnte nicht länger an sich halten. »Das stimmt doch gar nicht, Oswald. Er hat uns nicht im Stich gelassen. Er wusste, dass wir ein Dach über dem Kopf und genug zu essen hatten und aufeinander aufpassen würden. Und jetzt ist er zurückgekommen. Du bist ganz schön nachtragend, Kumpel. Aber es war nicht seine Schuld, was Haimon getan hat. Das hätte genauso passieren können, wenn er hier gewesen wäre. Solche Dinge kommen vor, weißt du.«
»Da hat er recht«, stimmte sein Bruder zu. »Das Leben ist kein Festtagsschmaus, Oswald.«
»Was hat Haimon getan?«, fragte Alan, und ihm schwante nichts Gutes.
Luke erzählte es ihm – knapp, aber unverkennbar entrüstet.
Alan war nicht überrascht. Schon bevor sein Gedächtnis zurückgekehrt war, hatte er erkannt, was für ein Mensch sein Cousin war. Und er wusste, der Tag würde kommen, da er irgendetwas wegen Haimon würde unternehmen müssen. Aber dieser Tag war nicht heute. Er sah wieder zu Oswald. »Es tut mir leid. Ich hätte dir das gern erspart. Aber Wulfric und Godric haben recht: Solche Dinge passieren, es ist der Preis dafür, dass wir freie Männer und nicht mehr auf der Insel eingesperrt sind. Ich bin fortgegangen, und das nimmst du mir übel. Du denkst, ich hätte dich im Stich gelassen. Aber ich musste gehen. Das ändert indes nicht das Geringste an meiner Freundschaft zu dir. Es liegt ganz bei dir. Wenn du mir nicht vergeben kannst und nicht mehr mein Freund bist, dann werde ich damit leben müssen …«
»Wärst du traurig?«, unterbrach Oswald.
»Natürlich.«
»Ganz traurig? So, dass du weinen musst?«
Sieh an, du hast das Sprechen also doch nicht verlernt, fuhr es Alan durch den Kopf. Es war nur verschüttet, wie mein Gedächtnis. »Ja.« Er war nicht einmal sicher, dass es gelogen war.
Oswald geriet sichtlich ins Wanken. Zum ersten Mal sanken die trotzig verschränkten Arme herab, und er dachte nach.
Alan ließ ihm Zeit.
King Edmund brachte den gefüllten Kelch und gab ihn Alan, der ihn Oswald entgegenstreckte. Der nahm ihn und trank durstig, freilich ohne den Symbolcharakter dieser Handlung zu erkennen.
Als der große Pokal halb geleert war, nahm Alan ihn ihm behutsam aus den rundlichen Händen. »Ich denke, das reicht. Ich möchte lieber nicht hören, was Gunnild zu sagen hat, wenn wir dich betrunken nach Hause bringen.«
Die anderen lachten leise, und Oswald stimmte mit ein, aber mehr versehentlich, und als er es merkte, wurde seine Miene sogleich wieder finster.
Alan erkannte, dass ihm noch nicht vergeben war. Mit einem leisen Seufzen setzte er den Kelch an, trank und reichte ihn weiter an Simon.
Während der Wein herumwanderte, sagte er: »Es wird Zeit, dass wir ein paar Pläne machen.«
»Willst du zurück in den Krieg?«, fragte Luke.
Alan schüttelte den Kopf. »Ich war bei Robert of Gloucester und habe mit ihm und vielen Männern gesprochen. Der Krieg ist zum Stillstand gekommen. Marodierende Banden ziehen durchs Land und drangsalieren die Bauern, die Lords schließen geheime Stillhalteabkommen und sehen einander tatenlos zu, wie sie sich widerrechtlich auf Kosten der Krone bereichern. In diesem Krieg ist keine Ehre mehr. Die Kaiserin hat resigniert und tut gar nichts mehr. Und Stephen …« Mit einem Blick auf Simon fuhr er fort: »Ich hoffe, du vergibst mir ein offenes Wort: Stephen hat weder genügend Rückhalt noch die Kraft, um die Dinge zu ändern.«
»Nein, ich weiß«, stimmte Simon zu. »Ich hab ihn gesehen. Er ist … ausgebrannt, schätze ich.«
»Gloucester denkt, Henry Plantagenet sei unsere einzige Hoffnung, diesen Krieg zu beenden«, fuhr Alan fort. »Er glaubt, viele Lords, die Henrys Mutter nie anerkannt haben, würden ihren Sohn als rechtmäßigen Thronfolger akzeptieren. Und mein Onkel Gloucester wünscht, dass ich nach Anjou gehe, um Henry einen Brief zu überbringen und mit ihm zusammen unser weiteres Vorgehen zu erörtern.«
»Und?«, fragte Wulfric in die gespannte Stille. »Wirst du?«
»Auf keinen Fall.« Alan sprach immer noch in gemäßigtem Ton, aber jeder hörte seine grimmige Entschlossenheit. Er würde keinen Finger für Henry rühren bis zu dem Tag, da er Miriam als Braut nach Helmsby führte. Sollte dieser Tag niemals kommen, würde Henry auf Alans Schwert und auf seine Vasallentreue verzichten müssen. Sollte Gott indessen Henry Plantagenet als den nächsten König von England ausersehen haben und der Auffassung sein, dass dieser Auserwählte Alan of Helmsby brauche, um auf den Thron zu gelangen – nun, in dem Fall wusste Gott ja, was er zu tun hatte. »Aber ich hab mir gedacht, vielleicht willst du gehen«, schlug er Simon vor. »Und ihr vielleicht auch?«, fragte er die Zwillinge.
Ihre strahlenden Gesichter waren Antwort genug. Doch Simon zögerte. »Ich …« Er brach unsicher ab, dann sammelte er seinen Mut und sah Alan direkt an. »Ich hatte gehofft, du würdest mit mir nach Woodknoll reiten und mir helfen, es zurückzubekommen.«
»Jederzeit«, erwiderte Alan. »Vor oder nach deiner Reise auf den Kontinent. Woodknoll läuft nicht weg, und Rollo de Laigle wird keinen besseren Anspruch darauf haben, nur weil er sich ein paar Wochen länger dort halten konnte. Aber die Entscheidung liegt bei dir.«
Simon überlegte einen Moment. Dann sagte er langsam: »Ich sehne mich nach Woodknoll, das geb ich zu. Solange ich es nicht zurück habe, wird ein Teil von mir immer auf der Insel gefangen bleiben. Aber ich will auch zu Henry. Du weißt es nicht, aber er hat Godric und Wulfric und mich schon bei seinem Aufbruch gebeten, mitzukommen. Und obwohl er sich dir gegenüber ehrlos benommen hat, würde ich am liebsten noch heute Abend aufbrechen, um mich ihm anzuschließen.«
»Meinetwegen brauchst du kein schlechtes Gewissen zu haben, wenn du gehst«, sagte Alan. »Was er getan hat, ist eine Sache zwischen ihm und mir. Und es macht mich nicht blind für seine Vorzüge.«
Ein erleichtertes Lächeln huschte über Simons Gesicht, das immer noch blass und schmal war, aber nicht mehr so eigentümlich zart wie bei seiner Ankunft auf der Isle of Whitholm. Unsere abenteuerliche Reise hat ihm gutgetan, dachte Alan flüchtig.
Der junge Normanne rang noch einen Moment mit sich, tauschte einen Blick mit den Zwillingen und nickte dann. »Wir brechen so bald wie möglich auf. Woodknoll muss warten. Es wäre sowieso nicht gut, wenn ich es mir zurückhole und dann gleich wieder verschwinde.«
Alan gab ihm recht. Es war eine kluge Entscheidung, fand er.
»Und jetzt erzähl, wie du dein Gedächtnis wiedergefunden hast«, drängte Godric.
»Ich bin nach Norwich zu Josua ben Isaac zurückgekehrt«, begann Alan. »Moses war übrigens bitter enttäuscht, dass ich dich nicht mitgebracht hatte, Oswald.«
Der trat endlich aus dem Schatten der Säule zu ihnen. Einen Moment sahen sie sich in die Augen, dann nahm Oswald den Becher, den King Edmund ihm geduldig hinhielt, reichte ihn aber weiter an Alan.
Alan beschloss, es als Versöhnungsgeste zu deuten, lächelte ihm zu und trank. Aber er hatte den Verdacht, dass er noch allerhand würde tun müssen, um wieder Oswalds allerallerbester Freund zu werden.
So kam es, dass er auf dem Rückweg mit größerer Milde über Verfehlungen und Vergebung nachdachte, als ihm eigentlich lieb war. Er beeilte sich nicht, folgte dem schmalen Pfad durch das Wäldchen zwischen Dorf und Burg gemächlichen Schrittes, hörte das Rascheln kleiner lichtscheuer Kreaturen im Unterholz und blieb einen Moment stehen, um einer Nachtigall zu lauschen, die in einem Haseldickicht sang.
Es fühlte sich immer noch seltsam ungewohnt an, wieder eine Vergangenheit zu haben, und er betrachtete seine Erinnerungen an Susanna mit einem gewissen Misstrauen. Und mit Distanz. Er wusste, er hatte längst nicht alles richtig gemacht.
Seine Großmutter war von seinem Verlöbnis mit Susanna de Ponthieu nicht begeistert gewesen. Susanna sei ein geistloses, oberflächliches Geschöpf, und nach einem Jahr, ach was, nach einem Monat werde sie ihn zu Tränen langweilen, hatte Lady Matilda prophezeit. Alan hatte natürlich nicht auf sie gehört. Seine Großmutter hatte immer Vorbehalte gegen die Ponthieu gehabt, wusste er, hatte diese Abneigung sogar auf ihre eigene Tochter übertragen, als Eloise Haimons Vater geheiratet hatte. Außerdem war er überwältigt gewesen von Susannas Schönheit und ihrer Garderobe; ihre vornehme Arroganz war eine Herausforderung gewesen, die seinen Jägerinstinkt geweckt hatte. Also hatte er sie geheiratet. Es war nicht schwierig gewesen, die nötige Einwilligung der Krone zu bekommen – Gloucester hatte sie im Namen seiner Schwester, der rechtmäßigen Königin, erteilt.
Und dann?
Alan erinnerte sich an ihre Hochzeit, die ein rauschendes Fest gewesen war. Eine strahlende, sehr verliebte Braut in einem veilchenblauen Kleid. Und ein stolzer Bräutigam. Aber was hatte er empfunden außer diesem Besitzerstolz? Er wusste es einfach nicht mehr. Weil er sich nicht erinnerte? Oder weil es nichts zu erinnern gab?
Langsam stieg er die Treppe hinauf zu dem Gemach, das er ein Jahr lang mit seiner Frau geteilt hatte. An diesen Teil entsann er sich nur zu lebhaft. Nicht einmal in der Hochzeitsnacht hatte Susanna jungfräuliche Scheu gezeigt, im Gegenteil. Sie hatte sich kühl und unnahbar gegeben, aber nur um ihm zu schmeicheln, indem sie sich verführen und erobern ließ. Und als sie vertrauter miteinander wurden, war sie einfallsreich und hemmungslos geworden. Er hatte sich eingeredet, er müsse der glücklichste Mann der Welt sein. Und er hatte sich nie gestattet, sich zu fragen, was er denn dann bei Eanfled zu suchen gehabt hatte, der Schwester seines Reeve, der er ein Kind angehängt hatte, wenn Susanna nicht gelogen hatte. Heute, da er die Dinge mit Abstand betrachtete, scheute er sich nicht mehr, diese Frage zu stellen.
Er öffnete die Tür und trat über die Schwelle.
Susanna saß auf dem Fenstersitz. Ihre Haltung war perfekt, aber gänzlich unnatürlich, und er fragte sich, wie lange sie wohl so ausgeharrt hatte, um ihn in dieser Pose zu empfangen: die Schultern zurückgenommen, die Hände unter der vorgereckten Brust gefaltet, die Knie zusammengedrückt, das Kinn angehoben. Sie schaute in die mondhelle Sommernacht hinaus. Das Konzert der Grillen und der Frösche in den Tümpeln auf den Wiesen wirkte unglaublich laut. Doch für ihn waren es tröstliche Laute. So klang Zuhause im Sommer.
Alan schloss die Tür, und Susanna wandte sich um, gab vor, ihn erst jetzt zu bemerken. »Ich fing an zu befürchten, du hättest mich vergessen.«
Immer die Flucht nach vorn. Das hatte ihm seit jeher an ihr gefallen. »Ich bedaure, dass ich dich habe warten lassen«, entgegnete er sarkastisch.
»Nun, man kann wohl sagen, ich bin daran gewöhnt.«
»Diese Unterhaltung haben wir schon einmal geführt, scheint mir. Ich glaube, es hat wenig Sinn, dass wir sie wiederholen. Und wenn du denkst, du könntest mich in die Defensive drängen, musst du tatsächlich so beschränkt sein, wie meine Großmutter immer behauptet hat.«
Susanna schnaubte und wandte den Blick ab. »Sie hat mich seit jeher verabscheut. Und sie hat verhindert, dass du und ich eine echte Chance bekamen.«
Alan trat ein paar Schritte näher und setzte sich auf die Bettkante – immer noch in sicherer Entfernung zu ihr. »Sie hat dich indessen nicht gezwungen, dich wie ein läufiges Luder mit Henry Plantagenet im Heu zu wälzen.«
Susanna fuhr leicht zusammen. Womöglich traf es sie unvorbereitet, dass er die Dinge so unumwunden aussprach, statt wenigstens mit Worten einen Bogen um ihre Schande zu machen, die ja auch die seine war. Stumm sah sie ihn an, ihr Blick eine eigentümliche Mischung aus Verachtung und Flehen.
»Hast du dir insgeheim gewünscht, dass ich euch erwische?«, fragte er bitter. »Um mir die Sache mit Eanfled heimzuzahlen?«
»Wenn ich dir jedes Mal hätte heimzahlen wollen, da du mir untreu warst, müsste ich das Leben einer Soldatenhure führen«, gab sie zurück.
»Nun, es ist nie zu spät für eine neue Berufung«, konterte er. »Und wenn ich mich an unsere gemeinsamen Nächte erinnere, würde ich sagen: Schamlos genug wärst du allemal.«
Sie fuhr auf. »Du Bastard!«
Er biss die Zähne zusammen und schluckte herunter, was ihm auf der Zunge lag. Er hatte noch allerhand Gehässigkeiten auf Lager. Es war nicht schwer, einen Menschen zu kränken, mit dem man ein Jahr seines Lebens geteilt hatte, dessen Schwächen und wunde Punkte man daher allesamt kannte. Aber er merkte, dass es ihn erregte, mit ihr zu streiten, und das war ihm zu heikel. Das Letzte, was er wollte, war, sie … zurückzuerobern. Er schlug die Beine übereinander und legte die gefalteten Hände auf sein Knie. »Das bin ich«, räumte er mit einem kleinen Lächeln ein. »Daran zumindest besteht kein Zweifel.«
»Und es ist dir egal geworden. So wie dir egal geworden ist, mit wem du verkehrst. Oder was die Welt von dir denkt.«
»Es ist mir nicht egal«, widersprach er. »Aber ich gebe zu, mein Blick auf die Welt hat sich verändert. Früher habe ich mich meiner Abstammung geschämt, weil mein Vater und meine Mutter mich in Sünde gezeugt haben. Es war mir peinlich, und ich war wütend, weil sie mir diesen … Mühlstein in die Wiege gelegt haben. Heute frage ich mich, was für Menschen sie wohl waren. Was sonst sie mir in die Wiege gelegt haben mögen. Und ich gestehe, ich bewundere sie für ihren Mut, gegen alle Regeln zu verstoßen und die Folgen auf sich zu nehmen.« Er zuckte die Achseln und schloss: »Die Welt hat mir die kalte Schulter gezeigt, als ich ein Namenloser ohne Gedächtnis war. Das führt wohl unweigerlich dazu, dass man seinen Blick auf diese Welt verändert.«
»Du billigst die Lasterhaftigkeit deiner Mutter und deines Vaters, aber du bist nicht gewillt, mir zu vergeben, dass ich einen Fehler gemacht habe? Obwohl ich einsam und verzweifelt war und du mich wie ein Möbelstück behandelt hast?«
»Vielleicht liegt der Unterschied darin, dass meine Mutter niemanden betrogen hat.«
»Dein Vater schon.«
Er hob abwehrend die Hand. »Und er hat teuer dafür bezahlt. Aber du hast schon ganz recht, Susanna: Ich bin weder gewillt noch in der Lage, dir zu vergeben. Ich habe auch nicht das Gefühl, dass du großen Wert darauf legst, unsere Ehe fortzusetzen. Als ich eben hereingekommen bin, hattest du vor, mich ins Bett zu locken, aber kaum haben wir ein paar Worte gewechselt, findest du mich so unerträglich, dass du von deinem Plan Abstand nimmst.«
Sie errötete so heftig, dass er es selbst im schwachen Licht der beiden Kerzen auf dem Tisch sehen konnte, und wandte den Blick wieder zum Fenster.
»Darum ist es wohl besser für uns beide, wenn wir uns trennen«, fügte er hinzu. »Und ich werde mich so schnell wie möglich von dir scheiden lassen.«
Das erschütterte sie. »Eine Scheidung? Aber …« Langsam hob sie die Hände, legte sie aufs Gesicht und starrte ihn an, die Augen groß vor Furcht. »Gott. Du willst mich vor ein kirchliches Gericht schleifen?«
»Die Vorstellung ist nicht ohne Reiz«, räumte er grimmig ein. »Aber Untreue ist kein Scheidungsgrund. Ein kirchliches Gericht könnte dich lediglich zu einer Buße verurteilen und mir die Erfüllung aller ehelichen Pflichten erlassen – übrigens auch die, für deinen Unterhalt aufzukommen oder dir das übliche Witwenerbe zu hinterlassen −, aber verheiratet wären wir immer noch. Darum werde ich eine Aufhebung der Ehe wegen zu naher Verwandtschaft erwirken.«
»Aber wir haben eine Dispens beantragt!«
Er schüttelte den Kopf. »Ich habe es immer wieder aufgeschoben, die Petition auf den Weg zu bringen. Ich brauchte das Geld dringend für Waffen und Pferde.«
Susanna stieß die Luft durch ihre zierliche Nase aus. »Das sieht dir ähnlich.« Dann erwachte ihr Argwohn. »Warum willst du eine Scheidung?«
»Ich gedenke nicht, mit dir darüber zu debattieren. Du hast kein Anrecht mehr darauf, dass ich dir irgendwelche Erklärungen gebe.«
»Du hast mir ebenso Unrecht getan wie ich dir!«, warf sie ihm noch einmal vor, und ihre trotzige Miene hatte beinah etwas Kindliches.
Er nickte. »Wie gesagt: Es ist wohl in unser beider Sinn, wenn wir einen Schlussstrich unter diese traurige Geschichte ziehen. Ich möchte, dass du Helmsby morgen verlässt …«
»Was?«
»Du kannst zu deiner Familie zurückkehren oder, wenn das nicht dein Wunsch ist, in ein Kloster deiner Wahl gehen. Überleg es dir. Aber heute ist die letzte Nacht, die du unter meinem Dach verbringst.«
Tränen traten ihr in die Augen, und sie sah ihn flehentlich an. »Wer ist sie? Für wen hast du es so eilig, mich loszuwerden?«
Er stand auf. »Frag lieber nicht. Du würdest es nicht billigen.«
Ihr Blick machte ihm zu schaffen. Diese ganze Situation machte ihm zu schaffen. Dabei hatte Susanna weiß Gott nichts Besseres verdient. Kein Gericht der Welt hätte ihn verurteilt, wenn er sie im Keller seiner Burg eingemauert und verhungern lassen hätte. Ganz gleich, was er mit ihr tat, das Recht war auf seiner Seite. Aber die Wahrheit war: Er verstieß sie, weil sie ihm im Weg stand. Da er sein Gedächtnis wiedergefunden hatte, war die Erkenntnis, wie grausam er sein konnte, keine böse Überraschung − er wusste, er war es früher oft gewesen. Aber jetzt plagte ihn sein Gewissen.
»Wenn du mich fortschickst, sorge ich dafür, dass dein Leben ein Jammertal wird«, sagte sie in seinem Rücken, ihre Stimme mit einem Mal völlig verändert.
Mit der Hand an der Tür wandte Alan sich noch einmal um. »Ah ja? Ich bin gespannt …«
»Glaub mir lieber. Es könnte geschehen, dass deine Auserwählte um dich trauern muss, ehe sie zu dir ins Brautbett steigen kann.«
Alan sah ihr noch einen Moment in die Augen. Er zweifelte nicht, dass sie versuchen würde, ihre Drohung wahr zu machen. Denn was er ihr antat, zerstörte in gewisser Weise ihr Leben. Jeder würde wissen, dass die zu nahe Verwandtschaft nur ein Vorwand war. Eine Scheidung bedeutete Bloßstellung, Spekulationen und Getuschel. Kein Edelmann in England, Frankreich oder der Normandie würde Susanna haben wollen, denn sie besaß kein ausreichendes Vermögen, um einen potenziellen Kandidaten über den Makel hinwegzutrösten. Wenn sie je wieder heiraten konnte, dann nur weit unter ihrem Stand, der ihr doch so kostbar war.
»Das klingt, als wäre es klüger, dir die Kehle durchzuschneiden, statt dich fortzuschicken«, entgegnete er kalt.
Das machte sie sprachlos, und Furcht schlich sich in ihren Blick.
Er verbarg seine Befriedigung. »Ich erwarte, dass du zwei Stunden nach Sonnenaufgang reisefertig bist. Guillaume wird dir eine Eskorte mitgeben. Sag ihm, wohin du willst, ich will es nicht wissen. Leb wohl. Führe deinen Krieg gegen mich, wenn du musst, du machst mir keine Angst. Aber wenn du der Frau, die ich heiraten werde, oder ihrer Familie irgendein Leid zufügst, dann wird es kein Loch geben, wo du dich vor mir verkriechen könntest. Ich werde dich finden, Susanna. Und dann gnade dir Gott.«
Er beobachtete ihren Aufbruch vom Fenster aus. Guillaume war der Einzige, der sie im Hof verabschiedete. Ausgerechnet Guillaume, für den Susanna nie etwas anderes als Hochmut und barsche Befehle übriggehabt hatte. Er hielt ihr sogar den Steigbügel, als sie aufsaß. Ihre Magd und Athelstan und Ælfric, die der Steward zu ihrer Begleitung abgestellt hatte, saßen bereits im Sattel und warteten auf sie. Alle drei vermieden es, sie anzusehen. Die traurige Szene war zu weit entfernt, um Susannas Gesicht deutlich zu erkennen, aber Alan sah, dass sie einen langen Blick zurück auf den Donjon warf – vielleicht sogar hinauf zu diesem Fenster. Als sie sich abwandte, bebten ihre Schultern.
Grimmig schaute er seiner weinenden Frau nach, bis sie im Torhaus verschwunden war. Kein Mitgefühl regte sich in ihm, stellte er fest. Ein vages, unpersönliches Bedauern ob ihres zukünftigen Schicksals war alles, was er zustande brachte. Aber das war nichts, gemessen am Ausmaß seiner Erleichterung. Susanna war ein Fehler gewesen, und jetzt konnte er sich eingestehen, dass er das schon wenige Wochen nach ihrer Hochzeit gewusst hatte, genau wie seine Großmutter vorhergesagt hatte. Es war nicht einmal so sehr ihre Einfalt gewesen, die ihn enttäuscht und schließlich fortgetrieben hatte, sondern vor allem ihre Niedertracht und Überheblichkeit, die sie gegenüber dem Gesinde und jedem anderen an den Tag legte, der ihr gesellschaftlich nicht ebenbürtig war. So wie sie es bei seiner Heimkehr mit Oswald und den übrigen Gefährten getan hatte. Als er damals kurz nach der Hochzeit seinen Fehler erkannt hatte, glaubte er, der einzige Ausweg sei der Krieg und der einzige Trost Frauen wie Eanfled. Denn damals hätte er den Gesichtsverlust, den eine Scheidung bedeutete, niemals in Kauf nehmen können.
Das war heute ganz anders.
Er verließ seine Kammer und hielt sich mit Mühe davon ab, vor sich hin zu pfeifen. Auf der Treppe begegnete er Emma.
»Guten Morgen, Mylord.« Sie strahlte.
»Emma.«
»Eure Gemahlin hat uns verlassen?«
»Hm.«
»Auf unbestimmte Zeit, sagt die Köchin?«
»Die Köchin redet wie so oft dummes Zeug. Nicht auf unbestimmte Zeit, sondern für immer.«
Emma nickte und verfrachtete den schweren Leinenstapel, den sie trug, von einer Hüfte auf die andere. »Niemand in Helmsby wird ihr eine Träne nachweinen«, bekundete sie.
Er nickte knapp. »Das kann ich ohne Mühe glauben, aber es steht dir nicht an, das zu sagen.«
Sie lächelte treuherzig. »Ich bin zuversichtlich, dass Ihr mir dies eine Mal noch vergeben könnt, Mylord.« Dann zwängte sie sich an ihm vorbei und lief leichtfüßig die Treppe hinauf.
Als Alan sicher war, dass sie sich nicht umwenden und ihn erwischen würde, gönnte er sich ein breites Grinsen.
Gleich nach dem Frühstück bat er Matilda, Guillaume und Bruder Elias zu sich und setzte sie von seinen Scheidungsabsichten in Kenntnis.
Seine Großmutter schien nicht überrascht, Guillaume ließ nicht erkennen, was er dachte, und der Bruder war erwartungsgemäß entsetzt.
»Einen Bund vor Gott schließen Mann und Frau für ihr ganzes Leben, Mylord«, hielt er ihm streng vor. »Nicht für die Zeit, da es ihnen genehm ist. Und der Bund ist unverbrüchlich, ganz gleich, was einer der Eheleute sich zuschulden kommen lässt. Oder beide«, fügte er mit einem vielsagenden Blick hinzu.
Alan lauschte ihm höflich. »All das ist mir bekannt, Bruder. Aber Tatsache bleibt, dass meine Gemahlin und ich zu nah verwandt sind, um verheiratet sein zu dürfen. Also werde ich beim Bischof um eine Scheidung ersuchen – mit Eurer Hilfe oder ohne sie. Solltet Ihr mir Eure Hilfe indes verweigern, werde ich mir früher oder später die Frage stellen müssen, wozu ich Euch und Eure beiden Mitbrüder eigentlich in Helmsby durchfüttere, wo Euer Kloster doch längst wieder in sicheren Händen ist und eigentlich kein Grund mehr besteht, warum Ihr Euch hier verkriechen solltet.«
Bruder Elias starrte ihn mit offenem Munde an.
Matilda nutzte seine Sprachlosigkeit, um zu fragen: »Wer ist der Bischof von Norwich? Jemand, den wir kennen?«
Alan schüttelte den Kopf. »William Turba, ein Benediktiner, den der letzte Bischof sich als Nachfolger in seiner Kathedralschule herangezogen hat.« Viel mehr hatte er in Bristol nicht über den Bischof von Norwich erfahren können, aber er wusste dies: William Turba war kein Freund der Juden von Norwich, und sein Fanatismus, mit dem er die Kanonisierung des angeblich von den Juden ermordeten Gerberlehrlings betrieb, sorgte für ständig schwelende Unrast in der Stadt. »Ein getreuer Anhänger König Stephens«, fügte er trocken hinzu.
Lady Matilda winkte beschwichtigend ab. »Er wird dennoch tun, was du willst, wenn du eine großzügige Spende mitschickst.«
»Das glaube ich auch. Er hat eine Kathedrale gebaut und ist daher in Geldnöten.«
»Und es ist wichtig, dass deine Petition den richtigen Wortlaut hat, sonst lassen die kirchlichen Juristen sie erst gar nicht zu.«
Alan nickte zu Bruder Elias hinüber. »Deswegen brauche ich Eure Hilfe. Es stimmt doch, dass Ihr Kirchenrechtler seid, nicht wahr?«
»Schon, aber …«
»Wie lange wird es dauern, was schätzt Ihr?«, fiel Alan ihm ins Wort.
»Nun, das hängt von verschiedenen Faktoren ab, Mylord.«
»Er meint, je großzügiger deine Spende ausfällt, desto eher bekommst du deine Scheidung«, übersetzte seine Großmutter. »Warum hast du es so eilig?«
Alan ging nicht auf die Frage ein, sondern wandte sich an seinen Steward. »Wie viel kann ich aufbringen, Guillaume?«
»Gar nichts«, lautete die kategorische Antwort. »Nach der schlechten Ernte letztes Jahr brauchen wir hier jeden Penny für …«
»Dieses Jahr werden wir eine gute Ernte bekommen«, unterbrach Alan. »Und ich habe dich nicht gefragt, wie viel Geld du mir zugestehen willst, sondern wie viel ich besitze, Cousin. Nur damit das klar ist.«
Guillaume lachte brummend in sich hinein. »Hallelujah. Alan of Helmsby ist nach Hause gekommen.«
»Also?«
»Ungefähr fünfzig Pfund.«
Alan pfiff leise durch die Zähne. Das war weit mehr, als er gedacht hätte. Fragend sah er zu seiner Großmutter.
»Ich nehme an, die Hälfte sollte ausreichen«, befand Matilda nach kurzer Überlegung. »Was sagt Ihr, Bruder Elias? Und tut nicht so schockiert; ich erinnere mich, als wäre es gestern gewesen, dass Euer Abt Jerome die Scheidung des Earl of Norfolk innerhalb nur eines Monats durchgedrückt hat, weil die zukünftige Countess of Norfolk schon guter Hoffnung war und der König von dem Malheur nichts wissen durfte.«
Bruder Elias richtete sich auf und zupfte nervös an einem losen Faden am Ärmelsaum seiner Kutte. Dann räusperte er sich. »Fünfundzwanzig Pfund wären gewiss eine willkommene Spende, um das Werk des Herrn zu tun, Mylady, aber dreißig wären besser.«
»Also dreißig«, entschied Alan.
»Komm nicht und frag mich um Rat, wenn du die Steuern nicht bezahlen kannst«, knurrte Guillaume.
»Ich zahle keine Steuern an Stephen, und die Kaiserin schuldet mir weit mehr als ich ihr«, gab Alan zurück. »Und wenn wir mehr Geld brauchen, als wir haben, werde ich es bei den Juden in Norwich leihen. Ich habe … gute Beziehungen.«
»Ein unheilvoller Weg«, warnte der umsichtige Steward prompt. »Sie nehmen einen Penny pro Pfund pro Woche an Zinsen.«
»Das klingt gar nicht so unbescheiden.«
»Nein, bis man es nachrechnet. Es sind pro Jahr auf hundert Pfund zweiundzwanzig.«
»Zweiundzwanzig was?«
»Pfund, natürlich.«
Alan stockte beinah der Atem. »Allmächtiger.« Er verbiss sich ein Lachen. »Kein übles Geschäft. Schade, dass die Kirche es uns verbietet …«
Bruder Elias gab ein ersticktes Tönchen von sich, das fast wie das Jaulen eines Welpen klang.
Lady Matilda betrachtete ihren Enkel mit unverhohlenem Vergnügen, dann tätschelte sie dem Mönch tröstend den Arm. »Dort drüben auf dem Pult liegen Pergament und Feder, mein Freund. Seid so gut und macht Euch ans Werk.«
Es kam Alan vor, als wären ihm mit einem Mal Flügel gewachsen. So leicht war ihm ums Herz, dass seine Füße kaum mehr den Boden zu berühren schienen. Und nicht Susannas Abreise war der Grund dafür. Solange ich Woodknoll nicht zurückhabe, wird ein Teil von mir immer auf der Insel gefangen bleiben, hatte Simon zu ihm gesagt. Alan beglückwünschte den Jungen zu seiner Selbsterkenntnis, und er konnte Simons Gefühle nur zu gut verstehen. Denn erst jetzt, da er sich selbst wiedergefunden hatte und als Alan of Helmsby heimgekehrt war, fühlte er sich wirklich frei. Und dieses Gefühl von Freiheit war es, das ihn mit dieser ungewohnten, gänzlich neuen Zuversicht und Lebensfreude erfüllte.
Jeder Mann, jede Frau und jedes Kind in Helmsby spürten diese Veränderung, und auch sie fühlten eine Last von ihren Schultern genommen.
Alan schickte Roger, den letzten verbliebenen seiner drei Ritter, und Bruder Elias mit zwei Männern der Wache nach Norwich zum Bischof. »Und ich wäre sehr dankbar, wenn Ihr auf dem Weg diesen Brief für mich abgeben würdet.«
Er reichte Bruder Elias einen gefalteten und versiegelten Pergamentbogen. Fünf Tage nachdem ich Euer Haus verlassen hatte, habe ich mein Gedächtnis wiedergefunden, hatte er geschrieben. Ich glaube, ich weiß jetzt, wofür der Höllenwurm stand, der mir im Palmenhain wieder und wieder begegnet ist. Ihr hattet recht, und ich werde für immer in Eurer Schuld stehen. Ich komme zu Euch, sobald ich kann, um meinen Teil unserer Abmachung zu erfüllen. Seid gepriesen für Eure Heilkunst und Eure Güte. Euer ergebener Freund, Alan of Helmsby.
»Er ist für einen Heiler namens Josua ben Isaac. Ihr findet ihn …«
Bruder Elias’ Hand zuckte zurück, als habe der Brief ihm die Haut versengt. »Kommt nicht infrage!«, rief er erschrocken.
»Wieso?«, fragte Roger. »Was ist mit dem Mann?«
»Er ist ein Jude.« Der Mönch sprach das Wort mit Widerwillen aus, als sei es etwas Anstößiges.
Der Ritter hob die Schultern. »Und? Wird er uns verhexen, wenn wir sein Haus betreten?«
»Blödsinn«, knurrte Alan.
»Seid nicht so sicher«, unkte Bruder Elias.
Roger streckte die Hand aus. »Gib ihn mir, Alan. Ich tu’s.«
»Danke. Das Judenviertel liegt am Fuß der Burg. Frag nach Josua oder Ruben ben Isaac, jeder dort kennt ihr Haus.«
Roger steckte den Brief in seinen Bliaut. »Wird gemacht, Mylord.« Er bedachte den Mönch mit einem spöttischen Kopfschütteln. »Also dann, Bruder Hasenherz. Lasst uns in zwei Stunden aufbrechen.«
Alan hätte am liebsten all seine Dörfer und Pächter am ersten Tag besucht, aber er wusste, er musste es systematisch angehen, wenn er sich einen Überblick verschaffen wollte. Also verbarrikadierte er sich einen halben Tag lang mit Guillaume, und zum ersten Mal seit seiner Rückkehr hörte er seinem Steward wirklich zu und befasste sich mit den Problemen, die dieser ihm vortrug.
»Ich werde in den nächsten Tagen nach Metcombe reiten und anschließend weiter nach Blackmore«, sagte Alan schließlich. »Ich schätze, es ist in beiden Fällen wichtig, dass ich mich sehen lasse und mir selbst anhöre, was die Leute zu sagen haben.«
Guillaume atmete verstohlen auf. »Das wäre ganz gewiss gut«, stimmte er zu.
Alan rang einen Moment mit sich. Dann sah er seinen Cousin wieder an. »Was erwartet mich in Metcombe? Wie geht es Eanfled und meinem Kind?«
Guillaume erwiderte seinen Blick. »Eanfled ist tot, Alan.«
»Tot.«
Der Steward nickte bekümmert. »Es tut mir leid.«
Es traf Alan härter, als er für möglich gehalten hätte. »Was ist passiert?«
»Sie hat dem Schmied einen Sohn geboren und starb noch in derselben Nacht.«
Alan senkte den Kopf und bekreuzigte sich. »Jesus. Sie kann noch keine zwanzig gewesen sein. Und sie hat … so gerne gelebt.«
»Tja. Ganz Metcombe trauert um sie. Und Cuthbert ist fast krepiert vor Kummer.«
»Und sie? Hatte sie ihn gern?«
»Oh ja. Du weißt ja, wie er ist. Sei getröstet, Vetter. Sie war glücklich mit ihrem Cuthbert, und er könnte nicht besser zu deiner kleinen Tochter sein, wenn es seine eigene wär. Sie ist ein goldiges Kind. Agatha. Wir haben uns lange um sie gesorgt, weil sie nicht gesprochen hat, aber dein Freund Simon de Clare hat das Wunder vollbracht und ihre Zunge gelöst.« Er erzählte Alan, was genau sich zugetragen hatte. »Großartiger Kerl übrigens, Simon de Clare.«
»Das ist er.« Alan stand auf, und auf dem Weg zur Tür legte er Guillaume einen Moment die Hand auf die stämmige Schulter. »Ich glaube, ich habe bislang versäumt, dir zu danken. Du hast all die Jahre hier ausgehalten und für Helmsby und all meine übrigen Besitzungen gesorgt.«
»Ich hab nur getan, was ein ordentlicher Steward eben tut«, wehrte sein Cousin verlegen ab.
Alan schüttelte den Kopf. »Deine Frau ist guter Hoffnung?«, fragte er.
Guillaume nickte.
»Seit wann seid ihr verheiratet? Und wer ist sie eigentlich? Herrje, entschuldige, ich habe sie bei meiner Rückkehr kaum begrüßt. Ich hoffe, sie übt Nachsicht mit mir. Ich war nicht ich selbst.«
Guillaume winkte beruhigend ab. »Sie versteht das schon. Sie ist Lady Aldgyth of Morton. Ihr Vater war dein Vasall.«
Der Name stellte sich unaufgefordert in Alans Gedächtnis ein. »Dunstan of Morton.«
»Hm. Ihr Bruder fiel bei Lincoln, und letztes Jahr starb ihr Vater. Sie war ganz allein dort, armes Kind.«
»Und du hast sie geheiratet, um sie aus ihrer Einsamkeit zu erlösen? Wie nobel. Ihr ansehnliches Gut hatte gewiss nichts damit zu tun.«
Guillaume war nicht eingeschnappt. Mit einem nachsichtigen Lächeln erwiderte er: »Natürlich wollte ich das Land. Aber ich war auch in Sorge um sie. In unruhigen Zeiten wie diesen sollte eine Frau nicht allein auf einem abgelegenen Gut leben. Na ja. Es hat sich für uns beide bewährt. Wir verstehen uns gut. Es war die richtige Entscheidung.«
Alan seufzte verstohlen. »Dann warst du bei deiner Heirat klüger als ich.«
Der Steward hob gleichmütig die Schultern. »Mehr Glück beim nächsten Mal, wie es so schön heißt.«
Alan nickte, ging aber nicht weiter darauf ein. »Wenn dein Kind ein Sohn wird, bekommt er ein Stück Land von mir. Irgendwo in der Nähe von Morton.«
»Alan, du kannst nicht …«, begann Guillaume abzuwehren.
Aber sein Cousin unterbrach ihn. »Das ist das Mindeste, was ich dir schulde. Und es ist mein Land. Du scheinst das ständig zu vergessen. Ich kann damit tun, was ich will.«
Guillaume gab nach. »Also schön. Warten wir erst mal ab, ob wir einen Jungen zustande gebracht haben.« Es klang ein wenig unwirsch, aber seine Augen leuchteten vor Freude über Alans Anerkennung und die großzügige Geste.
Zufrieden ging Lord Helmsby zur Tür. »Du weißt nicht zufällig, wo Haimon steckt?«
»Er hat heute früh mit Susanna gesprochen, ehe sie aufbrach. Dann hat er seinen Gaul satteln lassen und ist mit unbekanntem Ziel verschwunden. Vielleicht haben wir ja Glück und er ist in den Sumpf gefallen.«
Alan verzog den Mund zu einem spöttischen Lächeln. »Rechne lieber nicht damit.«
Als die Sonne im Westen stand und der Haushalt sich zum Essen in der Halle versammelte, kam es Alan so vor, als sei dieser Tag schon ein Jahr alt. Doch er war fast zwei Monate fort gewesen, und es gab einen Bewohner von Helmsby Castle, um den er sich seit seiner Heimkehr noch nicht gekümmert, nach dem er sich nicht einmal erkundigt hatte.
»Emma, sei so gut, bring mir einen Krug Wein und eine Schale von was immer die Köchin uns heute Abend vorsetzen will.«
»Lammbraten, Mylord. Zur Feier des Tages, wenn Ihr versteht, was ich meine.«
Er warf ihr einen warnenden Blick zu. »Beeil dich ein bisschen, sei so gut.«
Er blieb an der Treppe stehen, während sie in die Küche hinunterging. Nach kurzer Zeit brachte sie ihm einen Krug und eine kleine Platte mit Braten und Brot, und Alan trug diese Schätze in die Turmkammer hinauf.
»Regy.«
»Mylord.« Regy saß im Schneidersitz an die Wand gelehnt und verneigte sich, bis seine Stirn fast den Boden berührte. »Welch unverhoffte Ehre.«
Er trug ein Paar Beinlinge. Sie waren fleckig und ausgefranst, aber immerhin. Es war stets eine Erleichterung, Regy halbwegs bekleidet vorzufinden, denn es gab Anlass zu der Hoffnung, dass man einen guten Tag erwischt hatte.
»Lass mich nicht warten. Steh auf und zeig mir die Kette«, befahl Alan von der Tür aus.
Artig stand Regy aus dem Stroh auf und machte drei Schritte, bis die Kette sich unter leisem Klirren spannte. »Ist es nicht ein bisschen erbärmlich für den berühmten Alan of Helmsby, sich so vor einem bedauernswerten Narren wie mir zu fürchten?«, rügte er.
»Ich bin nicht sicher. Auf jeden Fall ist ein Narr, wer sich nicht vor dir fürchtet.« Alan trat näher, stellte seine Gaben ab und ging wieder ein paar Schritte zurück. »Hier ist es bemerkenswert sauber«, stellte er fest. Es roch auch deutlich besser als bei seinem letzten Besuch.
»Simon und Edmund hatten einen Anflug von Barmherzigkeit und haben beschlossen, die Höhle des Raubtiers zu säubern.«
»Und du hast beschlossen, sie nicht gleich wieder in einen Schweinepferch zu verwandeln. Und du bekleidest dich. Und du hast die Chance verstreichen lassen, Simon zu töten, als du konntest, habe ich gehört. Was soll das werden? Willst du uns weismachen, du seiest geläutert? Ich weiß, du hältst dich für weitaus klüger als jeden von uns, aber ich habe Mühe zu glauben, dass du erwartest, wir könnten darauf hereinfallen.«
Regy fuhr sich ein wenig verlegen mit der Hand durch das wirre schwarze Haar. »Ich musste es wenigstens versuchen, oder?« Es klang beinah quengelig. »Wärst du nicht zurückgekommen, hätten diese Toren mir früher oder später geglaubt. Simon und Edmund jedenfalls.«
»Du träumst«, widersprach Alan. Insgeheim fürchtete er indes, Regy könnte recht haben. King Edmund war nicht bei Trost, und Simon mochte zwar über die letzten Monate ein gutes Stück erwachsener geworden sein, aber Regys Tücke war er nicht gewachsen. Dafür war er einfach zu gutartig. Und zu arglos. Im Gegensatz zu mir, dachte Alan spöttisch.
Er ließ sich Regy gegenüber an der Wand nieder.
Regy trank einen tiefen Zug aus dem Krug und verschlang eine Bratenscheibe mit wenigen großen Bissen. »Du hast dich also erinnert«, sagte er schließlich und vertilgte ein Stück Brot auf die gleiche Weise.
Alan nickte.
Regy lachte leise vor sich hin. »Du verfluchter Bastard, Alan. Warum du? Warum solltest du als Einziger von uns erlöst werden? Ausgerechnet du?«
»Ich habe keine Ahnung«, bekannte Alan. »Kann ich dich etwas fragen?«
»Oh, aber gewiss doch, mein Bester.«
»Du hast einmal gesagt, du wollest mich töten.«
»Ich wette, das habe ich öfter als einmal gesagt.«
»Es werde einen ganzen Tag und eine ganze Nacht dauern, hast du prophezeit.«
»Ja.« Regy seufzte tief. »Ich hatte mir so wunderbare Dinge für dich ausgedacht.«
»Wirklich? Oder wolltest du in jemandes Fußstapfen treten? Der Tradition eines Mannes folgen, der dafür berüchtigt war, dass er seine Feinde einen Tag und eine Nacht lang sterben ließ?«
»Ich weiß nicht, von wem du redest.«
»Du hast mir von deinem Onkel Geoff erzählt.«
Regy blinzelte fast unmerklich und wandte den Kopf ab, bis die wirre Haarflut sein Gesicht bedeckte. »Und ich dachte, du hast gesagt, du willst es nicht hören.«
»Er hat dich im Dunkeln eingesperrt, und dann sind er und seine Freunde gekommen und haben sich an dir vergangen. Richtig?«
Regy schwieg.
»Wie alt warst du?«
»Elf.«
»Sieh mich an.«
»Nein.«
»Komm schon.«
»Geh weg, Alan. Ich habe heute wirklich keine Lust, dir mein Herz auszuschütten. Ein andermal vielleicht, Augenstern, aber heute …«
»War sein Name Geoffrey de Mandeville?«
Regy zuckte zusammen und verstummte. Eine Weile rührte er sich nicht, nur sein magerer Brustkorb hob und senkte sich sichtbar, schneller als gewöhnlich. Als er sich endlich entschloss, Alan wieder anzuschauen, war sein Gesicht wie eine Maske, in die ein liebenswürdiges, unverbindliches Lächeln gemeißelt war. »Wie überaus scharfsinnig Ihr doch seid, Mylord.«
»Wie kam es, dass du ihm in die Hände gefallen bist?«
»Er ist der Bruder meiner Mutter. Sie starb. Mein Vater war schon lange tot. Also nahm mein Onkel Geoff mich auf. Damals war er noch der pflichterfüllte Ritter in König Henrys Diensten, und niemand ahnte, was für ein Ungeheuer er ist. Das kam erst später. Als er sich … offenbart hat.«
»Er ist tot, Reginald«, sagte Alan.
»Tatsächlich?«
»Hm.«
Für ein paar Atemzüge blieb die schauerliche Maske noch intakt. Aber dann bröckelte sie, und für einen Moment erhaschte Alan einen Blick in solch einen Abgrund der Qual, dass er nur mit Mühe ein Schaudern unterdrückte.
Dann zog Regy die Knie an, verschränkte die Arme und bettete den Kopf darauf. »Schon lange?«
»Drei Jahre. Ein Pfeil erwischte ihn, als er Burwell belagerte. Er ist elend an Wundbrand krepiert.«
»Wie nett. Und warum erzählst du mir das alles und belästigst mich mit Fragen über diese alte Geschichte?«
»Weil er mein Verhängnis ebenso war wie deins. Ich bin abhandengekommen, als ich auf der Jagd nach ihm war. Aber ich verstehe nicht, wie und warum genau. Ein Stück in meiner Erinnerung fehlt noch. Ich hatte gehofft … Ich weiß auch nicht.«
»Dass ich dir irgendetwas über ihn verraten kann, das dir hilft, dein Rätsel zu lösen?«
»Vielleicht. Ich glaube, was ich vor allem von dir hören wollte, war, dass du nicht all die Jahre gewusst hast, wer ich bin, und es mir verschwiegen hast, um kalt lächelnd zuzusehen, wie ich mit der Ödnis in meiner Seele ringe.«
Regy hob abrupt den Kopf, und mit einem Mal war er wieder ganz der Alte. Mutwille funkelte in seinen Augen. »Und was tust du, wenn ich es dir nicht verrate?«
Alan zuckte die Achseln. »Gar nichts, schätze ich.«
»Oh, du Jämmerling. Nein. Ich habe nicht gewusst, wer du bist. Nachdem ich die liebevolle und fürsorgliche Gastfreundschaft meines Onkels etwa einen Monat genossen hatte, kam einer seiner Kumpane allein zu mir. Ich hab ihm den Dolch gestohlen und ihm sein bestes Stück damit abgeschnitten. Die Tür stand offen. Ich bin geflohen, habe mich zurück nach Hause durchgeschlagen und den guten Onkel Geoff nie wieder gesehen. Ich hatte immer vor, ihn eines Tages zu besuchen und mich für seine Güte erkenntlich zu zeigen, doch mein kleiner Zusammenstoß mit dem Archidiakon des Erzbischofs von York kam dazwischen. Aber eins schwör ich dir, Alan: Hätte ich gewusst, wer du bist, hätte ich es dir todsicher verschwiegen und kalt lächelnd zugesehen, wie du mit der Ödnis in deiner Seele ringst. Es hätte mir manch einsame, düstere Stunde versüßt, die ich allein dir zu verdanken hatte. Das wollen wir ja nicht vergessen, nicht wahr? Du hast mich an die Kette gelegt und aus eurer Mitte verbannt.«
»Nachdem du Robert die Kehle durchgebissen hattest.«
»Ach ja.« Regy lächelte eine Spur verlegen. »Das wäre mir beinah entfallen. Aber ich entsinne mich. Verschwommen zumindest. Trotzdem warst du sehr grausam zu mir, Alan«, hielt er ihm vor, und von der höhnischen Nachsicht in seiner Stimme konnte man eine Gänsehaut bekommen. »Du hast dich mir gegenüber nicht wie ein guter Christenmensch benommen, obwohl du doch so sicher warst, ein heiliger Krieger zu sein.« Er gluckste. »Nun ja. Ich gestehe, ich bin dir dankbar, dass du mir von dem unrühmlichen Ende meines unrühmlichen Onkels erzählt hast. Das ist Balsam für meine verkommene, schwarze Seele. Also vergebe ich dir einen Teil deiner Schuld, mein Bester. Sollte ich je die Gelegenheit bekommen, dich zu töten, werde ich es schnell und wenigstens einigermaßen schmerzlos tun. Der ganze Tag und die ganze Nacht sind dir erlassen.«
Alan stand auf. »Das rührt mich zu Tränen.«
»So geh denn hin in Frieden.«
»Und du fahr zur Hölle.«
Regy lachte in sich hinein, als Alan die Turmkammer verließ.
Adelisa of Helmsby stand auf dem Grabstein. Es war ein grauer, gleichmäßig behauener Granitblock. Alan kniete sich ins hohe Gras, das die Sommerluft mit betörenden Düften erfüllte, und legte die Linke auf den Stein. Rau und sonnenwarm.
»Es tut mir leid, dass ich erst jetzt komme«, murmelte er, und beinah verlegen schaute er sich um.
Hier hatte sich nichts verändert. Der Teil des Gottesackers von St. Wulfstan, der den Helmsbys vorbehalten war, lag auf der Südseite der Kirche. Ælfric war der häufigste Name auf den Grabsteinen, ein paar Dunstans gab es auch, die Frauen hatten Hyld oder Ealswith oder Bertha oder Edith geheißen, und erst die jüngeren Gräber trugen normannische Namen. Wie Richard etwa, Alans Großonkel, dessen Söhne mit dem White Ship untergegangen waren. Zwischen Adelisas und Richards Gräbern war eine Lücke. Dort wollte seine Großmutter einmal ruhen, wusste Alan.
Er erinnerte sich, dass er sich als Knabe gelegentlich hierher geschlichen hatte, wenn irgendetwas ihm zu schaffen machte. Nicht um Zwiesprache mit seiner Mutter zu halten – er hatte schon damals keinen Sinn darin gesehen, mit den Toten zu sprechen. Aber es hatte ihn getröstet und seine Einsamkeit gelindert, hier zu sein. Das war eigenartig, war doch Groll immer das vorherrschende Gefühl gewesen, das er seiner Mutter entgegengebracht hatte. Weil sie ihn erst als Bastard in die Welt geschickt und dann obendrein alleingelassen hatte. Und Haimon hatte ihn keinen Tag vergessen lassen, was er war …
Heute konnte er kaum mehr verstehen, warum er so unnachsichtig über sie geurteilt hatte. »Was vermutlich daran liegt, dass ich selbst im Begriff bin, etwas ähnlich Anstößiges zu tun wie du«, flüsterte er. »Womöglich ist es sogar schlimmer. Und siehe da, auf einmal bin ich voller Milde.« Er musste sich selbst belächeln.
Seine Linke strich über die Rundung des Grabsteins, und er ertappte sich bei dem Wunsch, er hätte nur ein einziges Mal die Hand seiner Mutter berühren, ihr ein einziges Mal nah sein können.
Hastig zog er die Hand weg, streckte sich im Gras aus und sah in den wolkenlosen Himmel hinauf. Nimm dich zusammen, rief er sich zur Ordnung. Sie hat dir gefehlt, als du ein Junge warst, aber auch wenn du ständig an diese Zeit denken musst, ist sie doch vorüber. Heute ist nicht damals.
Ein Tag vor über zwanzig Jahren kam ihm in den Sinn, ein herrlicher Sommertag wie dieser, da er auch hier im Gras gehockt hatte und ein Mann mit staubigen Stiefeln und einem kurzen grauen Bart aus der Kirche gekommen war. Als er den Jungen auf dem Friedhof entdeckte, war er lächelnd näher gekommen und hatte sich zu ihm gesetzt. »Alan. Welch eine Freude, dich zu sehen.« Und er hatte den fünf- oder sechsjährigen Knirps unter den Achseln gepackt und auf seinen Schoß gehoben. »Kein Grund, mich so verschreckt anzusehen, ich bin dein Großvater, mein Junge.«
»Verzeihung, aber das kann nicht sein, Mylord«, hatte der kleine Alan entgegnet, artig, aber entschieden. »Mein Großvater ist im Heiligen Krieg gestorben.«
»Ich bin dein anderer Großvater.«
»Ich habe zwei?«
»Natürlich. Überleg doch mal. Du hast einen Vater und eine Mutter, richtig?«
Alan hatte den Kopf geschüttelt.
Der Mann war ihm lächelnd mit einer großen, sehr rauen Hand über den Schopf gefahren. »Aber du hast einen Vater und eine Mutter gehabt, nicht wahr? Oder haben dich etwa die Feen gebracht?«
Kichernd hatte er verneint.
»Da siehst du’s. Und dein Vater und deine Mutter hatten natürlich auch Vater und Mutter. Also hast du zwei Großmütter und Großväter gehabt. Verstehst du?«
Alan hatte ihn nicht aus den Augen gelassen und heftig genickt. Die Vorstellung, so viele Großeltern zu besitzen, hatte ihn fasziniert. »Warum wohnst du nicht hier, wenn du mein Großvater bist?«
»Das würde ich lieber als alles andere, glaub mir, aber leider ist es nicht möglich. Vermutlich weißt du schon, dass man nicht immer tun kann, was man möchte, oder?«
»Ja.« Darüber wusste Alan eine Menge, denn seine Großmutter war sehr streng mit ihm und verbat ihm jeden Tag mindestens ein Dutzend Dinge, die er wollte. »Du bist der Vater von meinem Vater?«
»Ja.«
Niemand hatte Alan bis zu jenem Tag erzählt, dass der Vater seines Vaters der König von England war, aber dass sein Vater bei einem Schiffsunglück ums Leben gekommen war, wusste der kleine Junge sehr wohl. »Warst du traurig, als das Schiff untergegangen ist?«
Sein Großvater hatte ihm in die Augen gesehen und genickt. »Ich bin heute noch oft traurig deswegen.«
Alan hatte die Arme um seinen Hals geschlungen, um ihn zu trösten, und sein Großvater hatte die Umarmung sacht erwidert und, so argwöhnte Alan heute, ein paar verstohlene Tränen vergossen.
Es war das einzige Mal gewesen, dass sie einander begegnet waren.
Alan schloss die Augen und wehrte sich nicht gegen die Erinnerungen, die ihm in den Sinn kamen, ungeordnet und ohne jede sinnvolle Reihenfolge, wie Erinnerungen es eben taten. Das Zirpen der Grillen und die Wärme machten ihn schläfrig, aber auch dagegen kämpfte er nicht an. In der vergangenen Nacht hatte er tiefer und geruhsamer geschlafen als je zuvor in den letzten drei Jahren, aber er hatte immer noch viel nachzuholen …
»Alan?« Es war King Edmunds Stimme, die ihn aus seinem Lieblingstraum von Miriam und der Bank in ihrem Garten riss. »Es tut mir leid, dich zu stören, mein Sohn.«
Alan ließ die Augen geschlossen in der sinnlosen Hoffnung, das warme Gefühl des Traums so noch einen Moment länger festhalten zu können. »Das glaub ich aufs Wort.«
»Lukes Schlange ist aufgewacht. Er sitzt mitten auf der Straße und jammert, und die Leute fangen an, ihm finstere Blicke zuzuwerfen. Oswald steht daneben und ist blau im Gesicht. Also, hättest du die Güte, deinen adligen Hintern zu bewegen?«
Alan war auf einen Schlag hellwach, sprang auf die Füße, tauschte einen Blick mit seinem Gefährten und eilte dann vor ihm her um die Kirche herum.
Die Szene trug sich ausgerechnet am Dorfbrunnen zu – dem öffentlichsten Platz, den es in Helmsby gab. Luke saß zusammengekauert und leise weinend im Staub, Oswald kniete unglücklich und ratlos an seiner Seite. Er versuchte Luke zu trösten, so wie der kleine Alan es mit dem alten König getan hatte, aber Luke zuckte zusammen, sobald Oswald die Arme um ihn legen wollte, und heulte lauter. Gekränkt fuhr Oswald zurück. Gunnild und ein paar jüngere Frauen aus dem Dorf standen mit ihren Ledereimern und Krügen ein paar Schritte zur Linken und beäugten das seltsame Paar mit unsicheren, teilweise feindseligen Blicken.
Alan nickte ihnen grüßend zu. »Wenn ihr mir einen Gefallen tun wollt, geht in die Häuser. Es hat nichts zu bedeuten und vergeht gleich wieder, aber er braucht einen Moment Ruhe. Es macht die Dinge nur schlimmer, wenn ihr ihn so anstiert.«
Die Frauen rührten sich nicht.
Alan tauschte einen Blick mit King Edmund, der ohne Hast zu den Bäuerinnen und Mägden trat und sie mit leiser Stimme aufforderte, Alans Bitte zu folgen. Unwillig und langsam zerstreuten sie sich, nicht ohne allenthalben über die Schulter zurückzusehen.
Alan kniete sich hinter Luke. »Oswald, kannst du mir ein Stück Brot aus Gunnilds Haus besorgen? Tust du das für mich?«
»’türlich.« Er lächelte ihm unsicher zu – sein Groll auf Alan war entweder verraucht oder vorübergehend vergessen. Dann wandte Oswald sich ab und lief zu Gunnilds neuer Kate hinüber. In bemerkenswert kurzer Zeit kam er mit einer Scheibe Brot zurück. Sie war dick und ungleichmäßig abgesäbelt, und Alan erkannte voller Schrecken, dass Oswald das selbst gemacht hatte. Es war pures Glück, dass ihnen ein Blutbad erspart geblieben war …
Alan nahm das Brot. »Danke.« Er legte Luke vorsichtig von hinten die Arme um die Brust, zwinkerte Oswald aufmunternd zu, denn der Junge sah so erschrocken und besorgt aus, als habe er Luke noch nie in diesem Zustand gesehen. Dann konzentrierte Alan sich ganz auf seine etwas bizarre Aufgabe. »Schsch. Sei still, Luke. Umso schneller schläft sie wieder ein.«
»Diesmal nicht. Diesmal nicht, Losian.« In seiner Panik hatte er Alans Namen vergessen. »Sie beißt mich. Oh, heilige Mutter Gottes, steh mir bei, sie beißt mich!« Es war ein schriller Schrei, und hätte Alan es nicht besser gewusst, hätte er gesagt, dieser Mann spüre den Schmerz eines innerlichen Schlangenbisses.
Alan hatte keine Vorstellung, was er tun sollte, denn das hier war neu. Was er hingegen genau wusste, war dies: Er musste Luke auf der Stelle irgendwohin schaffen, wo nicht die ganze Welt ihn sehen konnte.
Der alte Mann begann, sich in seinen Armen zu sträuben. »Lass mich los«, heulte er. »Geh weg, lass mich zufrieden!«
»Luke, kannst du mich hören?« Alan sprach so ruhig, wie er es fertigbrachte, die Lippen nah an Lukes Ohr, und hielt ihn fester. »Ich werde dich jetzt tragen. Hab keine Angst. Ich bringe dich in die Kirche.«
Luke schüttelte weinend den Kopf.
Alan packte seinen linken Unterarm fest mit der Rechten, ehe er aufstand, damit Luke ihm nicht entwischen konnte. Dann trat er vor ihn, sah einen Moment in die vor Grauen geweiteten Augen und warf sich den alten Mann dann über die Schultern. »Edmund, halt mir die Kirchentür auf.«
Luke verstummte einen Moment, vielleicht vor Verblüffung. Aber es war nur die unheilvolle Stille des Atemschöpfens. Und dann schrie er so laut, dass es Alan in den Ohren gellte, unartikulierte, ungehemmte Laute der Qual und Furcht, die man niemals vergaß, wenn man sie je gehört hatte.
»Ruhig, Luke, es ist alles in Ordnung«, murmelte Alan. Er klang beschwichtigend, dabei hatten seine Nackenhaare sich aufgestellt, und er spürte eine Gänsehaut auf den Armen. Er machte längere Schritte. Aus dem Augenwinkel sah er zwei Bauern mit einem Hütehund, die ihn alle drei wie gebannt anstarrten. Dann endlich hatte er die Kirche erreicht. King Edmund huschte hinter ihm hinein und zog das Portal hastig zu. Auch seine Augen waren geweitet, die Haut um Mund und Nase herum seltsam fahl.
Mach mir jetzt nicht schlapp, Edmund, dachte Alan verzweifelt, ließ Luke zu Boden gleiten und hockte sich wieder hinter ihn.
Luke schrie immer noch. Seine Stimme stieg zum hohen Gewölbe empor und wurde von dort zurückgeworfen, sodass es klang, als höre man die Schreie aller Verdammten in der Hölle.
»Luke.« Alan legte ihm die Hände auf die Schultern. »Luke, um der Liebe Christi Willen, nimm dich zusammen.«
Luke riss sich los und kroch auf Händen und Füßen von ihm weg. »Sie frisst mich auf«, heulte er. »Sie zerfleischt mich!«
Alan stand auf und folgte ihm, ohne zu wissen, was er tun sollte, und plötzlich fuhr Luke zu ihm herum und richtete sich halb auf. Wie ein Unhold sah er aus mit seinen wirren weißen Haaren, dem verzerrten Gesicht und der buckligen Haltung. Und Alan sah in den hervorquellenden, gänzlich irren Augen, was er im Schilde führte. Als Luke sprang und mit beiden Händen nach Alans Dolch griff, wich Alan fast gemächlich zur Seite und stellte dem Tobenden ein Bein. Hart schlug Luke auf die Steinfliesen der Kirche, und der Sturz presste alle Luft aus seinen Lungen, sodass wohltuende Stille eintrat. Wenigstens für den Moment.
Alan hockte sich neben ihn, packte seine Hände, zerrte sie auf den Rücken und drückte ihm fast grausam das Knie in die Nieren. »Jetzt hör mir genau zu, Schlange«, knurrte er. »Du wirst auf der Stelle von ihm ablassen. Sonst schwöre ich bei den Teufeln, die dich geschickt haben: Ich schneid ihm den Bauch auf und hol dich raus und zerhack dich in neun Stücke, die ich eins nach dem anderen ins Feuer werfe. Hast du mich verstanden?«
Luke, seine Schlange oder wer auch immer verstand ihn offenbar tadellos. Der Körper des alten Mannes, der eben noch vor Anspannung vibriert hatte, erschlaffte. Mit einem langen, stöhnenden Laut atmete er tief durch, und dann lag Luke so still, dass Alan einen Moment lang glaubte, er sei tot.
Zögernd und argwöhnisch löste Alan seinen Klammergriff und richtete sich auf.
King Edmund kniete sich neben Luke und legte ihm die Hand auf die Stirn. »Es ist gut«, murmelte er sanft. »Es ist vorüber, Luke.«
Luke rollte sich langsam auf die Seite, vergrub den Kopf in den Armen und weinte leise. »Sie hat mich gebissen.«
»Aber jetzt schläft sie wieder?«, fragte Edmund, seine Nervosität kaum zu überhören.
»Sie schläft«, murmelte Luke erschöpft. »Aber wie lange? Wie lange, Edmund?« Er schluchzte. »Was soll ich denn machen, wenn sie wieder aufwacht?«
Alan saß einen Schritt von ihnen entfernt auf dem Boden, die Hände locker auf den angewinkelten Knien, und betrachtete seine beiden Gefährten mit Sorge. Er hatte schon manches Mal erlebt, dass Luke außer sich vor Furcht war, aber das hier war etwas völlig Neues. Und er wusste, es war etwas, das er nicht handhaben konnte. Luke war ein friedfertiger alter Knabe, aber eben war er gefährlich gewesen, daran konnte es keinen Zweifel geben.
Es dauerte nicht lange, bis er sich in den Schlaf geweint hatte. King Edmund schlüpfte lautlos aus der Kirche und kam wenig später mit einer Decke über dem Arm und Oswald im Schlepptau zurück. Er faltete die Decke zu einem Kissen, hob vorsichtig Lukes Kopf an, wo überall kahle Stellen durch die weißen Büschel schimmerten, und bettete ihn auf das Kissen.
Oswald sah bekümmert auf Luke hinab, setzte sich dann neben Alan, schien einen Moment mit sich zu ringen und ergriff dann seine Linke, ohne ihn anzusehen.
Obgleich es Alan immer peinlich war, wenn Oswald das tat, ließ er ihm die Hand. Vielleicht hatte er ja Glück, und weder Haimon noch der Steward oder irgendeiner seiner Pächter wählte diesen Moment, um die Kirche zu betreten.
»Was ist denn mit Luke?«, fragte Oswald ängstlich.
»Ich weiß es auch nicht«, musste Alan bekennen. »So habe ich ihn noch nie erlebt. Und ich dachte, hier in Helmsby ginge es ihm besser.«
»Zuerst war es auch so«, sagte King Edmund und setzte sich zu ihnen. »Aber seit einigen Tagen ist er nachts unruhig und jammert im Schlaf. Ich habe damit gerechnet, dass seine Schlange bald aufwacht, aber nicht … hiermit.«
Alan sah zu seinem jungen Schützling. »Das mit dem Brot hast du großartig gemacht, Oswald, nur …«
»Hat aber nichts geholfen«, fiel der ihm niedergeschlagen ins Wort.
Alan seufzte. »Nein. Doch das ist nicht deine Schuld.« Es herrschte ein längeres bedrücktes Schweigen. Dann wandte Alan sich an ihren Hirten. »Was soll ich tun, King Edmund? Ich meine … müssen wir ihn einsperren? Wie soll man das fertigbringen, eine so gepeinigte, verängstigte Kreatur einzusperren? Aber was ist, wenn ich es nicht tue und er jemanden verletzt? Sag mir, was ich machen soll.«
Edmunds Miene war tief besorgt. Voller Mitgefühl sah er auf den Schlafenden hinab, dessen alte, eingefallene Wangen immer noch tränenfeucht waren. Die Bartstoppeln, die runzligen, geschlossenen Lider mit den weißen Wimpern ließen Luke mit einem Mal sehr verletzlich und vor allem schutzlos wirken – ein greises Kind.
Mit dem vornehm verhaltenen Poltern, das ihr zu eigen war, öffnete sich die Kirchentür, und die übrigen drei Gefährten kamen herein. Leise traten sie näher, blickten einen Moment auf Luke hinab – fast andächtig, so schien es – und setzten sich dann zu ihnen. Nun bildeten sie einen Kreis um den Schlafenden.
»Der Müller hat’s uns erzählt«, berichtete Godric.
»Seine Schwester tratscht im Dorf herum, Luke habe den Teufel im Leib«, flüsterte Wulfric.
»Natürlich«, murmelte Alan. Es klang verächtlich, aber in Wahrheit sorgte er sich, was passieren mochte, wenn die Dorfbewohner sich gegen Luke wandten. Keiner der Gefährten erwähnte Gilham auch nur mit einem Wort, aber sie alle erinnerten sich daran, wie es ihnen in Godrics und Wulfrics Heimatdorf ergangen war, wo die Leute sie beinah gesteinigt hätten, weil sie glaubten, die Zwillinge seien eine teuflische Erscheinung. Die Leute von Gilham waren nicht boshafter oder grausamer als die in Helmsby. Es war immer die Furcht, die die Menschen erbarmungslos machte.
Simon rang sichtlich mit sich. Alan entging nicht, dass er verstohlene Blicke mit den Zwillingen wechselte. Und schließlich war es Wulfric, der das Wort ergriff: »Wir bleiben noch ein paar Tage. Es ist ja nicht so, als warte Henry Plantagenet dringend auf uns. Jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt zu gehen.« Es gelang ihm nicht ganz, seine Enttäuschung zu verbergen. Sie hatten am folgenden Tag aufbrechen wollen.
Alan dachte einen Moment nach und schüttelte dann den Kopf. »Ihr solltet eure Pläne nicht ändern. Je eher ihr aus dem Land seid, desto besser.« Er sah zu Simon. »Als du zu König Stephen gegangen bist, um für Henry zu vermitteln, war mir die Tragweite dessen, was du tatest, nicht wirklich klar. Inzwischen habe ich mich erinnert und weiß wieder, wie … schmutzig dieser Krieg ist. Stephen mag dir in seiner weinseligen Nachsicht mit seinen Feinden, für die er ja dies- und jenseits des Kanals seit jeher belächelt wird, verziehen haben, dass du dich zum Fürsprecher seines Rivalen gemacht hast. Und sehen wir den Dingen ins Auge: Henry ist Stephens Rivale, die Kaiserin hat sich selbst aus dem Rennen befördert. Vielleicht kommt der König auch nicht auf den Gedanken, dich dafür büßen zu lassen, weil er einen bedauernswerten Schwachkopf in dir sieht, das mag wohl sein. Aber es gibt andere, die weniger nachsichtig und weniger kurzsichtig sind. Dein Onkel Pembroke, zum Beispiel. Oder sein Sohn, aus dem du in Westminster vor den Augen der Wachen einen Narren gemacht hast. Was, wenn sie auf den Gedanken kommen, du könntest vielleicht nicht so harmlos sein, wie sie immer glaubten?«
»Aber Alan, du kannst nicht erwarten, dass ich einfach davonlaufe, nur weil mein grässlicher Onkel vielleicht schlecht auf mich zu sprechen ist«, protestierte Simon.
»Ich will nicht, dass er im Zorn über Helmsby kommt und meine Bauern abschlachtet. Und ebenso wenig will ich, dass er dich erwischt und Gott weiß was mit dir tut.« Und er wollte, dass Simon die Chance bekam, an Henrys Seite seinen Weg zu machen, aber das behielt er für sich. »Ich kümmere mich um Luke«, versprach er mit mehr Zuversicht, als er empfand. »Ich werde ihn einfach nicht aus den Augen lassen, und sobald ich kann, bringe ich ihn nach Norwich zu Josua ben Isaac. Wenn irgendwer Luke helfen kann, dann er.«