Helmsby, April 1147
»Also, ich muss schon sagen, unser Losian versteht sich darauf, eine Burg zu bauen«, befand Wulfric.
»Alan«, verbesserte King Edmund. »Je eher wir uns daran gewöhnen, desto besser für alle.«
»Du hörst dich an, als hättest du die Wiederentdeckung seines Namens höchstpersönlich bewerkstelligt«, spöttelte Godric.
»Das hab ich auch«, behauptete Edmund unbescheiden.
Da hat er nicht ganz unrecht, dachte Simon bei sich. Immerhin war es nur King Edmunds Hartnäckigkeit zu verdanken, dass sie von Lincolnshire aus überhaupt nach East Anglia gezogen waren, und inzwischen stand wohl fest, dass Edmunds Gründe bei Weitem nicht so verrückt gewesen waren wie der heilige Mann selbst.
Sie machten einen gemächlichen Rundgang durch den unteren Burghof, wo der Steward ihnen am Abend zuvor ein kleines Haus zugewiesen hatte. Es war nur eine einräumige Hütte, wie die Knechte und Mägde der Burg sie bewohnten, aber keiner der Gefährten hatte sich beklagt. Es war eine furchtbare Sturmnacht gewesen, die Burgbewohner obendrein in hellem Aufruhr wegen der abgedeckten Scheune – das erstbeste Dach hatte herhalten müssen. Und selbst diese bescheidene Behausung war allemal besser als ein Zweigdach im Wald.
Oswald schien der neue Wohnkomfort indessen überhaupt nicht zu beeindrucken. Furchtsam sah er sich in dem fremden Burghof um. »Wo ist Losian?«
»Er wird sich nie und nimmer an einen anderen Namen gewöhnen«, murmelte Godric den anderen zu. Dann legte er dem verängstigten jungen Mann die Hand auf den Arm und erklärte: »Das hier ist sein Zuhause, Oswald. Er wohnt dort oben in diesem großen Turm. Er war lange von hier fort, und jetzt muss er sich natürlich um schrecklich viele Dinge kümmern. Aber irgendwann wird er schon aufkreuzen und nach uns sehen, da bin ich sicher.«
»Wenn er nicht seinen Steward schickt, um uns davonzujagen«, grummelte Luke vor sich hin.
»Wie kannst du so etwas nur denken?«, protestierte King Edmund.
»Wer weiß? Jetzt, wo er herausgefunden hat, was für ein feiner normannischer Lord er ist, sind wir ihm wahrscheinlich peinlich«, beharrte Luke. »Sei doch mal ehrlich, King Edmund, würdest du dich mit solchen wie uns abgeben, wenn du nicht müsstest?«
Simon durchschaute die grimmige Miene und den abfälligen Tonfall. Er wusste, Luke hatte mindestens so große Angst wie Oswald. »Du solltest ihn besser kennen, Luke. Er würde uns niemals im Stich lassen.«
»Das werden wir ja sehen.«
Ja, das werden wir wohl, dachte Simon und sagte nichts mehr. Schweigend setzten sie ihren Rundgang fort. Die Sturmnacht war einem klaren, kühlen Morgen gewichen, und die Sonne beschien den Innenhof von Helmsby Castle. Er war weitläufig und dem Auge gefällig: Der Palisadenzaun aus altersgrauen Eichenstämmen verlief in geschwungenen Formen; kein perfekter Kreis, sondern eher wie etwas, das die Natur geschaffen hatte, ein See vielleicht. Der Hof war grasbewachsen, und säuberliche Wege führten vom hölzernen Torhaus zu den Katen und Wirtschaftsgebäuden, die in kleinen Gruppen beieinanderstanden. Gar nicht weit von der Motte entfernt war ein großzügiger Küchen- und Gemüsegarten angelegt worden. Vereinzelt wuchsen ein paar junge Bäume im Hof; nur die große Eiche, die den Brunnen überschattete, war alt und ehrwürdig. Simon konnte sich vorstellen, dass die Burgbewohner über diese Eiche oft fluchten, denn im Sommer spendete sie gewiss so viel Schatten, dass der Brunnen zu vermoosen drohte, und im Herbst mussten sie ihn abdecken, damit das Laub nicht hineinfiel und das Wasser bitter machte. Aber er verstand, dass sie es nicht übers Herz brachten, den Baum zu fällen.
»Nur die Kapelle fehlt«, stellte King Edmund kritisch fest.
»Alle Burgbewohner gehen zur Messe ins Dorf, Bruder«, sagte plötzlich eine fremde Stimme hinter ihm. »Dort steht ein Gotteshaus, von dem euch die Augen übergehen werden.«
Die Gefährten blieben stehen und wandten sich um.
Guillaume FitzNigel, der Steward, war vom Burgturm heruntergekommen und zu ihnen getreten. »Der Urgroßvater von Lord Alan hat die Kirche gebaut«, fügte er hinzu. »Sie ist unser ganzer Stolz, und vor dem Krieg kamen Menschen aus ganz East Anglia hierher, um sie zu bestaunen. St. Wulfstan. In den guten Zeiten, bevor König Henry starb, hatten wir hier sogar einen bescheidenen Pilgerbetrieb, hat mein Vater erzählt.«
»Euer Vater war vor Euch Steward von Helmsby?«, fragte Simon neugierig.
Guillaume nickte. »Und sein Vater vor ihm. Ich glaube, das Amt ist schon länger in unserer Familie, als die Kirche von Helmsby steht. Ich nehme an, ihr seid hungrig? Dann kommt mit in die Halle. Dort gibt es für alle, die auf der Burg leben und arbeiten, zwei anständige Mahlzeiten am Tag. Also bis auf Weiteres auch für euch.«
Simon warf Luke einen vielsagenden Blick zu: Siehst du? keine Rede davon, uns davonzujagen. »Wo ist Lo… ich meine natürlich, wo ist Alan?«
»Ich habe ihn heute noch nicht gesehen«, antwortete der Steward. Es war unmöglich zu sagen, was er von dieser ganzen Sache hielt. Von dem Burgherrn, der jahrelang verschollen gewesen und nun ohne Gedächtnis wieder aufgetaucht war.
Er mag aussehen wie ein waschechter Angelsachse, dachte Simon, aber der Name ist nicht das einzig Normannische an ihm. Der Steward gefiel ihm. »Was habt Ihr mit Reginald de Warenne gemacht?«, fragte er, während er Seite an Seite mit Guillaume zur Motte ging. Aus dem Augenwinkel sah er, dass seine Gefährten zögernd folgten.
»Genau das, was Ihr vorgeschlagen habt«, antwortete der vierschrötige Mann mit der Stirnglatze. »Ich hab ihn ins Verlies gesteckt. Und die Kette des Halseisens an einen Wandring geschlossen. Lang genug, dass er sich noch ein bisschen bewegen kann, aber auch kurz genug, dass er den Wachen nichts anhaben kann. Ich habe drei meiner Männer gebraucht, um ihn zu bändigen. Der Kerl ist wirklich völlig …« Er geriet ins Stocken und warf einen verstohlenen Blick über die Schulter auf die übrigen Gefährten.
»Wahnsinnig«, bestätigte Wulfric, und sein Bruder fügte hinzu: »Es war sehr klug von Euch, die Kette zu kürzen. Darauf wär ich nie gekommen.«
»Das war Lord Henrys Idee«, räumte Guillaume ein. »Der Kerl sei ein Mörder, hat er gesagt. Ist das wahr?«
»Und Schlimmeres«, erwiderte Simon grimmig. »Es ist erst drei Wochen her, da hätte er Alan um ein Haar umgebracht. Den Mann, der ihm das Leben gerettet hatte. Er ist ein Scheusal. Ein Monstrum, wenn Ihr die Wahrheit wissen wollt. Vielleicht gelingt es Euch ja, Alan zu überreden, ihn dem Sheriff zu übergeben.«
Guillaume sah ihn ungläubig an und schnaubte. Es war eher ein grimmiger als ein belustigter Laut. »Hier gibt es schon lange keinen Sheriff mehr. In ganz East Anglia herrscht seit Jahren Rechtlosigkeit.«
»Das sieht man Helmsby nicht an«, bemerkte Godric.
Er hatte leise gesprochen, aber Guillaume hatte ihn dennoch gehört und erwiderte: »Helmsby ist eine Insel in einem sehr stürmischen Meer. Die Insel der Seligen, wenn ihr so wollt.«
Es war eine wirklich schlimme Nacht gewesen. Die Kammer, in die er sich geflüchtet hatte, war unbewohnt und unmöbliert. Also hatte er in der völligen Dunkelheit auf den eiskalten Steinfliesen gelegen, zitternd, blind und in geradezu widerwärtiger Weise wehrlos. Er hatte nichts, aber auch gar nichts gefunden, was er dem Schwindel, dem Grauen und der Ödnis seiner Seele entgegensetzen konnte. Kurz vor Tagesanbruch, als der Sturm sich legte, hatte seine Erschöpfung sich schließlich zu ihrem Recht verholfen, und er war endlich eingeschlafen.
Er hatte wieder von Miriam geträumt, und genau wie in seinem letzten Traum hatten sie zusammen auf der Bank im Garten gesessen. Er wusste nicht, worüber sie geredet hatten, aber sie waren vertraut miteinander gewesen. Ganz nah hatten sie beieinandergesessen, sodass ihre Knie und ihre Schultern sich beinah berührten. Er erinnerte sich, dass die Sonne ihm den Rücken gewärmt hatte. Und Miriam hatte ein Blatt in der Hand gehalten und ihm gezeigt. Sie hatten die Köpfe zusammengesteckt und gelacht, er war mit den Lippen über die zarte Haut ihrer Wange gestrichen, und alles war leicht und unbeschwert gewesen.
Mit diesem Gefühl war er erwacht. Er versuchte, noch einen Moment daran festzuhalten, doch als es sich verflüchtigte, kämpfte er nicht, sondern ließ es los. Er wusste, es konnte nicht bleiben. Denn er hatte nichts von dem vergessen, was sich am Abend zuvor ereignet hatte.
Er setzte sich auf und unterdrückte ein Stöhnen. Seine Glieder waren steif und kalt; er fühlte sich, als sei er hundert Jahre alt. Dabei war er doch noch nicht einmal siebenundzwanzig, wie er seit gestern wusste.
Alan de Lisieux.
Alan of Helmsby.
Er ließ sich die Namen durch den Kopf gehen, murmelte sie vor sich hin und lauschte dem Klang. Sie waren bedeutungslos. Und je öfter er sie aussprach oder sie auch nur dachte, umso sinnloser kamen sie ihm vor. Leer und unnütz wie eine Hülse ohne Frucht.
Alan of Helmsby. Erbauer von Helmsby Castle, wie es schien. Kein berühmter Kreuzfahrer, der Akkon vor dem Fall bewahrt hatte, aber immerhin der Enkel eines solchen Mannes. Und was weiter?
Langsam kam er auf die Füße. Es war nicht allein die Steifheit seiner Glieder, die seine Bewegungen so untypisch schleppend machte, sondern vor allem der Unwille, eine Antwort auf seine Frage zu finden. Er ließ Kopf und Schultern kreisen, um ein wenig Beweglichkeit zurückzuerlangen, und ging zur Tür in der Absicht, sich auf die Suche nach einem Abort zu machen. Dann wollte er seine Gefährten und ein Frühstück finden − in dieser Reihenfolge −, und danach, so hoffte er, war er vielleicht hinreichend gestärkt, um dem Unbekannten ins Auge zu sehen, der er war. Diesem selbstgerechten Bastard, Alan of Helmsby.
Doch er hatte die Tür kaum geöffnet, da wurde sein Plan schon vereitelt, denn er fand sich Auge in Auge mit Henry Plantagenet, der mindestens so strahlte wie die Frühlingssonne draußen und ihn mit den Worten begrüßte: »Guten Morgen, Cousin!«
Die Anrede fuhr Alan durch Mark und Knochen. »Jesus … Das sind wir tatsächlich.«
»Sag nicht, darauf bist du noch nicht gekommen.«
Alan schüttelte den Kopf. »Aber du musst mich nicht so nennen, wenn ich dir peinlich bin.«
Henrys breites Grinsen verschwand, und mit einem Mal war seine Miene sturmumwölkt. Alan war bereits aufgefallen, wie rasch die Stimmung des jungen Mannes umschlagen konnte. »Peinlich? Bei den Augen Gottes, mir schlottern fast die Knie vor Ehrfurcht, Mann. Du bist Alan of Helmsby! Ich kann’s einfach nicht fassen.«
Alan drängte sich an ihm vorbei und ging den Korridor entlang. »Und was bedeutet dieser Name für dich?« Er stellte die Frage zögernd, denn er war jeder Antwort, ganz gleich wie sie lauten mochte, ausgeliefert. Er konnte sie weder bestätigen noch widerlegen oder ihren Wahrheitsgehalt in irgendeiner Weise messen.
»Na ja«, begann Henry und ging mit langen Schritten neben ihm einher. »Ich hab mir sagen lassen, du bist der unerschütterlichste Streiter für die Sache meiner Mutter in ganz England. Außer unserem Onkel Gloucester vielleicht, in dessen Dienst du übrigens stehst.«
»Gloucester. Wer war das gleich wieder?«
»Der Bruder meiner Mutter. Und deines Vaters.« Henry warf Alan einen Seitenblick zu und erkannte offenbar dessen Verwirrung. »Also: Dein Vater, der ertrunken ist, und meine Mutter, die leider nicht ertrunken ist, waren König Henrys eheliche Kinder. Der König hatte aber außerdem auch noch eine muntere Schar Bastarde. Der älteste davon ist Gloucester.«
Alan schwieg.
»Wieso hab ich das Gefühl, dass du mir gar nicht richtig zuhörst?«, verlangte Henry zu wissen.
»Entschuldige. Ich ringe gerade mit der Erkenntnis, dass König William, dieses Monstrum, das sie den Eroberer nennen, mein Urgroßvater war.«
»Auch was das angeht, sitzen du und ich im selben Boot.«
»Augenblick. Hast du gerade gesagt, deine Mutter sei leider nicht ertrunken?«
Henry seufzte leise. »Ich sag dir was, Alan. Geh pinkeln.« Er wies diskret auf eine Tür an der Stirnseite des Ganges. »Dann rasier dich, zieh dich um, beglück eine deiner bildschönen englischen Mägde − ganz egal. Tu irgendwas, wovon dir besser wird. Und wenn du damit fertig bist, kommst du in meine Kammer, die ja eigentlich deine ist, ich lasse uns etwas Gutes zum Frühstück kommen, und dann erzähl ich dir all unsere dunklen Familiengeheimnisse.«
Alan fand, das klinge wie ein guter Plan, doch er wandte ein: »Ich glaube, zuerst sollte ich nach den anderen sehen.«
»Oh, das hab ich schon. Es geht ihnen prächtig. Bei der Gelegenheit habe ich mir erlaubt, mir deine Burg anzuschauen. Sie ist fantastisch.« Seine blauen Augen leuchteten vor jugendlichem Enthusiasmus.
»Du warst schon unten im Hof und hast mit den anderen gesprochen?«, fragte Alan erstaunt.
Henry zuckte kurz die Achseln. »Ich war früh wach. Und Stillsitzen ist die schlimmste Strafe für mich. Mein Vater behauptet, das liege an dem Dämonenblut. In Angers – dort wohnen wir, jedenfalls in den seltenen Fällen, wenn wir nicht gerade im Krieg sind –, also in Angers sagen die Leute, ich hätte die Gabe, an zwei Orten gleichzeitig zu sein. Das stimmt leider nicht, aber ich habe nichts dagegen, wenn sie es glauben. Um ehrlich zu sein, bediene ich mich manchmal meines Bruders Geoffrey, um diesen Eindruck zu verstärken. Er sieht so aus wie ich, wenn man nicht zu genau hinschaut.«
Alan musste lächeln. Die ungeheure Lebendigkeit dieses jungen Mannes faszinierte ihn. Er hatte sie schon gespürt, als sie sich in der unwirtlichen Wildnis begegnet waren, aber hier – an einem Ort, der eher Henrys gewohnter Umgebung entsprach – trat sie noch viel deutlicher zutage. »Also dann. Ich komme, so schnell ich kann. Ich brenne auf die dunklen Familiengeheimnisse …«
Aber es dauerte ein Weilchen, ehe er die Gelegenheit bekommen sollte, sie zu hören. Er hielt an seinem Plan fest, bei seinen Gefährten vorbeizuschauen, denn auch wenn Henry behauptet hatte, es ginge ihnen »prächtig«, traf das auf Oswald und Luke sicherlich nicht zu. Henry kannte sie nicht so gut wie Alan und verstand obendrein ihre Sprache nicht.
Doch der Weg in den Burghof führte durch die Halle, und als Alan diese betrat, fand er sie im Vergleich zum Vorabend sehr verändert: An die dreißig Menschen saßen an den hufeisenförmig aufgestellten Tischen und frühstückten. Runde Brotlaibe, Bierkrüge und Schalen mit Hafergrütze wurden herumgereicht, eine Schar Kinder tollten mit Grendel und zwei weiteren Hunden in den Binsen am Boden umher. Die Menschen unterhielten sich lautstark und ungezwungen. Nur an der hohen Tafel, die die Stirnseite des Hufeisens bildete, ging es ruhiger zu. Dort saßen Matilda of Helmsby, der Steward Guillaume mit einer rundlichen, blutjungen Frau, die zweifellos seine Gemahlin war, und drei Mönche, und sie vertilgten ihr Frühstück schweigend.
Als die Menschen Alan an der Tür zum Treppenaufgang entdeckten, verstummten sie nach und nach. Hier und da knuffte jemand seinen Nachbarn in die Rippen und nickte verstohlen zu ihm hinüber. In Windeseile kehrte Stille ein, und alle Augen waren erwartungsvoll auf ihn gerichtet.
Alan spürte, wie seine Nackenhaare sich aufrichteten. Die Blicke dieser fremden Menschen, die Gott weiß was von ihm wissen und erwarten mochten, brandeten ihm entgegen wie eine Flutwelle, sodass er einen schrecklichen Moment lang fürchtete, er werde in die Knie gehen oder – schlimmer noch – kehrtmachen und fliehen. Aber sein Schrecken war seiner Miene nicht anzusehen, als er mit scheinbar festem Schritt zur hohen Tafel ging, seiner Großmutter höflich einen guten Morgen wünschte und die Hände auf die reich geschnitzte Rückenlehne des freien Stuhls an ihrer Seite legte.
Ehe ihm auch nur ein Wort eingefallen war, das er hätte sagen können, begannen die Menschen in der Halle zu jubeln. Sie klatschten und lachten, erst vereinzelt stand hier und dort einer von seinem Platz auf, dann immer mehr, bis sie schließlich alle auf den Beinen waren, sich ihm zuwandten, johlten und seinen Namen riefen. Mägde, Knechte, eine Handvoll Männer, die wie Soldaten aussahen und vermutlich die Burgwache bildeten. »Lord Alan, Lord Alan!« hörte er und »Willkommen daheim!« und »Der heilige Wulfstan sei gepriesen!«.
Alan wartete reglos, bis sie sich beruhigt hatten. Er hatte einen mächtigen Kloß in der Kehle, der weniger mit Rührung als mit Furcht zu tun hatte. Dann zwang er ein Lächeln auf seine Lippen und staunte, wie wenig Mühe es ihn kostete. »Habt Dank für diesen stürmischen Empfang. Ich bin keineswegs sicher, ob ich das verdient habe.« Hier und da gab es leises Gelächter. »Ich war lange fort, und sicher gibt es vieles zu regeln und zu erörtern. Wer von euch ein Anliegen hat, trägt es dem Steward vor, und ich werde mich darum kümmern, sobald ich kann.« Er borgte sich den Becher seiner Großmutter und hob ihn den Leuten in der Halle entgegen. »Gott schütze euch alle.«
Ein wenig zögerlich hoben sie ihrerseits die Becher und erwiderten seine Segenswünsche, ehe sie sich nach und nach wieder dem Frühstück und den Gesprächen mit ihren Tischnachbarn widmeten, freilich nicht ohne immer wieder verstohlene Blicke in seine Richtung zu werfen.
»Habe ich etwas Falsches gesagt?«, fragte er seine Großmutter mit gesenkter Stimme.
»Im Gegenteil«, gab sie ebenso leise zurück. »Ich staune darüber, welche Selbstsicherheit du ausstrahlst. Dabei muss es dir doch vorkommen, als liefest du über einen zugefrorenen See, ohne zu wissen, wie dick das Eis ist und ob es dich trägt.«
»Du magst über meine scheinbare Selbstsicherheit staunen«, gab er zurück. »Ich staune über dein Einfühlungsvermögen.«
Sie lächelte kurz auf ihre Grütze hinab. »Sie sind wirklich froh, dass du wieder da bist, weißt du.«
»Ja. Das merkt man.« Und es erleichterte ihn nicht wenig.
»Nur brennen sie natürlich alle darauf, zu erfahren, wo du gesteckt hast. Außerdem sind sie es nicht gewöhnt, dass du dich freiwillig ihrer Anliegen annimmst. Das sieht dir nicht ähnlich. Der Alan von einst hatte immer Wichtigeres zu tun.«
»Ah. Dann sollten sie die Gunst des Augenblicks nutzen, ehe mir all meine wichtigen Pflichten und Pläne wieder einfallen. Wer sind die drei Mönche?«
»Bruder Cyneheard, Bruder John und Bruder Elias. Drei Überlebende aus Ely, denen du hier damals Obdach gewährt hast.«
Alan ging zu den drei Brüdern und begrüßte sie höflich. Auch sie versicherten ihm, wie glücklich sie über seine Heimkehr seien. Dann trat er zu seinem Steward. »Guten Morgen, Guillaume.«
»Mylord.« Er zeigte zwei Reihen schiefer, aber gesunder Zähne, als er lächelte. »Dies ist Aldgyth, meine Frau. Wir haben vorletzten Sommer geheiratet.«
Alan war ihm dankbar für den kleinen Hinweis, der ihm verriet, dass er nicht vorgeben musste, sich an Aldgyth zu erinnern. »Eine Ehre, Lady Aldgyth«, sagte er höflich, und sie errötete und senkte den Kopf. »Willkommen daheim, Mylord«, hauchte sie.
»Wir haben viel zu besprechen«, bekundete der Steward.
Alan nickte unverbindlich. »Ich komme zu dir, sobald ich kann.« Er erkannte an Guillaumes Stirnrunzeln, dass das offenbar nicht die erhoffte Antwort gewesen war. Gott steh mir bei, dachte er. Was wollen sie nur alle von mir? Er hatte den Menschen in Helmsby nichts zu geben. Was immer sie erwarten mochten, er wusste, er würde sie enttäuschen. Denn er war nicht mehr der, für den sie ihn hielten.
Mutlos kehrte er zu seiner Großmutter zurück, setzte sich neben sie und begann, die Grütze zu verschlingen, die eine Magd vor ihn stellte. »Was heißt ›Überlebende aus Ely‹?«, erkundigte er sich zwischen zwei Löffeln.
Sie schnalzte leise. »Natürlich. Ich vergesse ständig, dass du alles vergessen hast. Regt sich vielleicht ein Funke der Erinnerung bei dem Namen Geoffrey de Mandeville?«
Alan hörte auf zu essen und horchte aufmerksam in sich hinein. Nichts. Aber er beobachtete mit Interesse, dass sich auf seinen Unterarmen eine Gänsehaut gebildet hatte. »Ein Schurke?«, tippte er.
»Die schlimmste Geißel, die je über East Anglia gekommen ist. Stephen, dieser erbärmliche Tropf, der sich König von England nennt, hatte ihn zum Earl of Essex ernannt. Aber Mandeville wechselte ständig die Seiten und versuchte, Stephen und Kaiserin Maud gegeneinander auszuspielen, um seine eigene Macht zu steigern. Das ist inzwischen ein beliebter Zeitvertreib beim englischen Adel geworden. Als Stephen seinen Irrtum endlich erkannte und ihn des Verrats anklagte, floh Mandeville in die Fens, brach wie eine Seuche über East Anglia herein und errichtete seine Schreckensherrschaft. Unter anderem plünderte er das Kloster in Ely und ermordete oder verjagte die Mönche. Cyneheard, John und Elias flohen hierher. Mandeville hatte immer einen Bogen um Helmsby und deine übrigen Besitzungen gemacht, denn er wollte sich nicht mit dir anlegen. Aber als du nach Hause kamst und von Ely hörtest, bist du ausgezogen, um ihn aus East Anglia zu jagen. Und kamst nie zurück. Weil er ein paar Monate später selber fiel, haben wir nie erfahren, was aus dir geworden war. Die meisten hier haben natürlich geglaubt, Mandeville habe dich erwischt und bei lebendigem Leib auf glühenden Holzkohlen geröstet oder was immer er sonst mit denen tat, die sein Missfallen erregt hatten. Umso glücklicher sind die Leute, dass du wieder hier bist.«
Er lehnte sich in seinem Sessel zurück und betrachtete sie nachdenklich. »Aber der eine oder andere ist ein bisschen enttäuscht, dass ich nicht für die noble Sache gefallen bin, sondern mich stattdessen jahrelang herumgetrieben habe?«, fragte er langsam. »Der Steward, zum Beispiel?«
Matilda hob fast unmerklich die Augenbrauen. »Möglich«, murmelte sie. »Die Menschen haben es nun einmal nicht gern, wenn sie feststellen müssen, dass auch ihre Helden nur aus Staub gemacht sind. Aber sei unbesorgt wegen Guillaume. Er ist dir sehr ergeben. Nur …«
Sie wurde unterbrochen, weil Oswald mit einem Mal wie aus dem Nichts an der hohen Tafel erschien, sich breitbeinig vor Alan stellte und dessen Hand mit seinen beiden ergriff. »Ich hab dich gesucht, Losian. So gesucht!«
Simon kam herbeigeeilt und legte ihm eine Hand auf den Arm. »Tut mir leid«, raunte er Alan zu. »Er ist mir entwischt. Schnell wie ein Aal. Vergebt ihm, Madame«, bat er Matilda.
Sie nickte ein wenig ungnädig. »Wenn du ihn jetzt wieder mitnehmen würdest, Simon de Clare; mein Enkel und ich …«
Alan stand auf. »Entschuldige mich einen Moment, Großmutter.«
»Wo willst du denn hin?«, fragte sie verwirrt.
Er antwortete nicht, sondern stieg die kleine Stufe von der Estrade herab und trat zu Simon und Oswald. »Kommt.«
»Alan.« Die Stimme der alten Dame klang schneidend. »Wärst du so gut, mich nicht mitten in unserer Unterhaltung einfach hier sitzen zu lassen?«
»Ich bitte um Nachsicht, Madame«, gab er kaum weniger scharf zurück. »Henry wartet auf mich. Wir werden unsere Unterhaltung später fortsetzen müssen.«
»Aber ich habe ein paar Dinge mit dir zu erörtern, die wirklich keinen Aufschub dulden«, wandte sie ungeduldig ein. Alan argwöhnte gar, er höre einen Anflug von Angst in ihrer Stimme.
Ich werde Henrys Kunst erlernen müssen, an zwei Orten gleichzeitig zu sein, fuhr es ihm durch den Kopf. »Ich komme zu dir, so schnell ich kann«, sagte er, wohl wissend, dass er das auch Guillaume schon versprochen und den Steward ebenso verstimmt hatte wie seine Großmutter.
Aber daran konnte er im Augenblick nichts ändern. All diese Menschen und ihre erwartungsvollen Blicke schnürten ihm die Kehle zu. Einen verrückten Moment lang verspürte er den Wunsch, seine Gefährten um sich zu sammeln und heimlich mit ihnen aus Helmsby zu fliehen.
Stattdessen führte er Oswald und Simon zu ihren Plätzen am unteren Ende der rechten Tafel zurück und setzte sich zu ihnen auf die Bank. Oswalds Augen waren zu rastlos, seine Atmung zu flach, seine Lippen zu blau. Der Junge war außer sich vor Furcht, und wenn sein schwaches Herz ihn jetzt im Stich ließe, wäre kein Josua ben Isaac zur Hand, um ihn zu retten.
»Was ist denn, Oswald?«, fragte Alan leise, wandte sich ihm zu und kehrte den neugierigen Blicken gleichzeitig den Rücken.
Oswald schüttelte den Kopf, senkte ihn dann und fragte: »Das hier ist dein Zuhause?«
»Das wird mir allenthalben versichert.«
»Was?«
»Entschuldige. Ja. Dieser Ort hier ist mein Zuhause.«
»Und … und du bleibst jetzt hier?«
Gute Frage. »Ich schätze schon. Fürs Erste. Wo sollten wir auch sonst hin?«
Plötzlich umklammerte Oswalds kleine Hand die seine. »Und jagst du uns davon?«
Alan sah seine Gefährten der Reihe nach an, und sein Blick verharrte bei Luke, der beschämt die Augen niederschlug. Ärgerlich schüttelte Alan den Kopf, dann schaute er Oswald in die Augen. »Natürlich nicht. Wie kannst du so etwas nur denken? Bin ich etwa nicht mehr dein Freund?«
»Mein allerallerbester.«
»Da siehst du‘s. Was sollte ich denn hier anfangen ohne euch?«
»Ja«, murmelte Luke in seinen Bart. »Wer wollte auf einen Haufen wie uns schon verzichten?«
»Denkst du nicht, dass du mich für einen Tag genug beleidigt hast, Luke? Willst du jetzt auch noch an meinem Wort zweifeln?« Er wartete keine Antwort ab, sondern wandte sich an Simon. »Wo hat man euch untergebracht?«
Der junge Normanne hob ein wenig verlegen die Schultern. »In einer Kate im Hof. Es ist in Ordnung.«
Alan befreite sich von Oswalds Hand und stand auf. »Und wo ist Regy?«
»Im Verlies, wie du es wolltest.«
Alan nickte. »Würdest du mich begleiten, Simon?« Das war eine spontane Eingebung, aber er hatte das Gefühl, das Richtige zu tun. »Henry erwartet mich. Ich habe die Befürchtung, er will mir vom gerechten Krieg seiner Mutter erzählen und von der Rolle, die ich einmal darin gespielt habe. Und weil ich natürlich nicht weiß, was ich von der ganzen Sache halten soll, hätte ich dich gerne dabei, sozusagen als Vertreter der Gegenseite, damit er die Dinge nicht gar zu einseitig darstellt. Ich habe den Verdacht, unser Henry ist schamlos in dieser Hinsicht.«
Simon schien ebenso erfreut wie erstaunt. »Du willst mich dabeihaben?«
»Warum nicht. Immerhin wären wir beinahe so etwas wie Cousins geworden.«
»Was redest du da?«
Alan nahm Simon am Arm und zog ihn mit sich zum Ausgang. Auf der Treppe erzählte er ihm, wer er war.
Er fand seine Großmutter bei Henry. Sie saßen sich an einem Tisch unter dem Fenster gegenüber; der junge Franzose vertilgte mit großem Appetit ein beachtliches Frühstück, während die alte Dame eine Laute auf dem Schoß hielt und ohne großen Erfolg an den Saiten herumzupfte. Als sie ihren Enkel eintreten sah, lächelte sie. »Ich bin leider hoffnungslos untalentiert«, gestand sie. »Ganz im Gegensatz zu dir.« Sie streckte ihm das Instrument entgegen.
Alan nahm die Laute ohne das geringste Zögern beim Hals. Das glatte, gerundete Holz war seiner Hand vertraut, das wusste er sofort. Er stellte den rechten Fuß auf einen freien Schemel, stützte den Korpus auf den Oberschenkel und begann zu spielen. Seine Finger waren ungelenk, wie eingerostet. Und dennoch flogen sie über die Saiten, schienen ganz von selbst zu wissen, was sie zu tun hatten, und der Wohlklang, den sie der Laute entlockten, erfüllte ihn für einen kurzen Moment mit Seligkeit. Zum ersten Mal bedeutete das Wort »heimgekehrt« mehr als allein die Tatsache, dass ein seltsames Schicksal ihn zurück an den Ort seiner Geburt geführt hatte. Diese Laute war Teil seiner Vergangenheit. Genau wie die Melodie, die er spielte.
»Der Wolf und die Taube«, murmelte Simon.
»Meine Amme hat immer Rotz und Wasser geheult, wenn sie uns die Geschichte erzählt hat«, erinnerte sich Henry.
»Mein Vater hat behauptet, er habe mit dieser Ballade das Herz meiner Mutter erobert«, bemerkte Lady Matilda.
»Aber bestimmt nicht mit einer so verstimmte Laute«, spöttelte Alan, denn er wollte um keinen Preis, dass irgendwer bemerkte, wie tief diese Wiederentdeckung eines Teils seiner selbst ihn berührt hatte.
Entschlossen, aber behutsam lehnte er das Instrument an die Wand, setzte sich auf den Schemel und sagte: »Nimm Platz, Simon. Ich könnte mir vorstellen, wir werden ein Weilchen hier sein.«
Simon nickte ein wenig matt, sah sich erfolglos nach einem weiteren Schemel um und setzte sich notgedrungen auf die Kante des breiten Bettes mit den Vorhängen aus dunkler, fester Wolle. Alan schenkte Wein in einen Becher und reichte ihn dem Jungen. An Henry und seine Großmutter gewandt, bemerkte er: »Ich glaube, Simon ist noch ein wenig schockierter über die pikanten Details meiner Herkunft als ich.«
Simon blinzelte, als sei er gerade aus einem Traum erwacht. »Ich bin überhaupt nicht schockiert«, protestierte er.
»Nichts für ungut, de Clare, aber was ich meinem Cousin zu sagen habe, ist nicht für deine Ohren bestimmt«, sagte Henry. Es klang nicht schroff, aber bestimmt. »Also sei so gut und …«
»Das allein beweist, dass es klug war, ihn mitzubringen«, unterbrach Alan. »Er bleibt.«
»Du traust mir nicht?«, fragte Henry verwundert.
Alan zögerte. »Doch«, erwiderte er langsam. »Seltsamerweise tue ich das. Aber wenn ich den Verdacht äußerte, dass du bereit wärest, meine völlige Ahnungslosigkeit in politischen Dingen für deine Zwecke auszunutzen, und zwar skrupellos, täte ich dir unrecht?«
Henry lachte. Ein unwiderstehliches, fröhliches Jungenlachen, wie eine sprudelnde Quelle. »Nein«, gestand er kopfschüttelnd. »Es wäre vermutlich die Wahrheit.« Er wurde wieder ernst und wandte sich an Matilda. »Madame?«
»Meinetwegen. Aber er muss schwören, dass er für sich behält, was er hier hört, Alan.«
Simon dachte einen Moment nach, vermutlich um abzuwägen, in welch eine grauenhafte Zwickmühle ein solcher Schwur ihn bringen konnte. Immerhin waren er und sein Haus Anhänger von König Stephen, und dieser junge Franzose, der da am Fenster saß und kaltes Huhn in sich hineinstopfte, wollte diesen König stürzen. Doch schließlich hob Simon die Rechte und sagte: »Ich schwöre bei der Seele meines Vaters.«
»Gut«, befand Henry, offenbar ungeduldig, endlich zur Sache zu kommen. Er legte den Hühnchenschenkel aus der Hand, trank einen Schluck Wein und richtete sich dann auf. »Also, machen wir Pläne.«
»Augenblick.« Alan hob abwehrend die Linke. »Erst erklär mir, was genau du hier treibst. Du bist mit einer Handvoll Begleiter − die du unachtsamerweise verloren hast − aus Anjou herübergekommen, um was genau zu tun? England im Handstreich zu erobern?«
Henry schnaubte in seinen Becher. »Blödsinn. Ich bin vor allem deswegen gekommen, um König Stephen und die Engländer daran zu erinnern, dass es mich gibt. Dass die Kaiserin Maud, die die rechtmäßige Königin dieses Landes ist, einen Sohn hat – oder genauer gesagt drei, die einen Anspruch auf die Thronfolge erheben können.«
»Ich fürchte nur, dein Umherirren in den Wäldern und Sümpfen von East Anglia ist König Stephen und den meisten Engländern verborgen geblieben«, gab Alan zurück. »Vielleicht besser so.«
Die Wangen des jungen Henry röteten sich vor Zorn. »Ja, verspotte mich nur ob meines Missgeschicks! Ich hatte mir das auch alles ein wenig anders vorgestellt, sei versichert. Ich gebe zu, mein Unterfangen war schlecht vorbereitet. Ich bin … überstürzt aufgebrochen.«
»Warum?«, fragte Matilda.
Er warf ihr einen unbehaglichen Blick zu. »Um es meinem Vater zu zeigen, wenn Ihr die Wahrheit wissen wollt. Mutter schickte ihm wieder einmal einen Boten mit der dringenden Bitte um Hilfe. Sie hat ihn … na ja … angefleht, man kann es nicht anders nennen. Vater hat den Boten mit einem Tritt aus der Halle gejagt. Na schön, hab ich gesagt, dann geh ich eben. Er hat es verboten. Wir haben gestritten, bis die Fetzen flogen und er auch mich mit einem Tritt aus der Halle befördert hat.« Er hob ratlos die Schultern. »Ich bin mit fünfzig Mann und ohne Geld hergekommen. Von der Küste aus habe ich mich nach Cricklade durchgefragt, um Gloucesters Sohn, meinen grässlichen Vetter Philip, der uns verraten hat, von dort zu verjagen. Aber Philip war überhaupt nicht mehr in Cricklade, und einnehmen konnten wir es auch nicht. Ich musste unverrichteter Dinge abziehen, und all meine Gefährten verdrückten sich bis auf meine zehn Ritter, die ich vor fünf Tagen im Wald dann auch noch verloren habe.« Er grinste beschämt. »Ein richtiges Heldenstück, he?«
Ja, dachte Alan verwundert, das ist es tatsächlich: nicht übermäßig klug, aber verdammt tollkühn. »Sag, Henry, wie alt bist du eigentlich?«
»Sechzehn.«
»Du bist am fünften März vierzehn Jahre alt geworden, mein Junge«, widersprach Matilda mit einer Mischung aus Strenge und Belustigung. »Wenn du schon lügen musst, dann lass dir lieber etwas einfallen, was nicht so leicht zu widerlegen ist.«
Henry stieß hörbar die Luft durch die Nase aus und sagte nichts. Es war eine Kapitulation, wenn auch gewiss nur eine unter Vorbehalt.
»Vierzehn?«, wiederholte Alan fassungslos und sah unwillkürlich zu Simon, der ein Jahr älter, aber fast noch ein Knabe war. Henry Plantagenet hingegen war ein Mann. Der rotblonde Bartwuchs, der sich im Verlauf der letzten Tage auf Kinn und Wangen gezeigt hatte, mochte noch spärlich sein, aber Henry war so groß wie Alan, breit in den Schultern, er klang wie ein Mann, und vor allem dachte er wie ein Mann.
»Wieso bist du so verwundert?«, fragte seine Großmutter. »In dem Alter warst du selbst schon Soldat und hast mit deinem Onkel Gloucester gegen aufständische Waliser gekämpft. Daran ist nun wirklich nichts Ungewöhnliches.«
»Wenn du es sagst …«, gab Alan ein wenig matt zurück. »Also, weiter, Henry. Erzähl mir von deiner Mutter, der Kaiserin. Wo ist sie eigentlich?«
»In Devizes Castle«, antworteten Henry, Matilda und Simon im Chor. »Da verbarrikadiert sie sich seit fünf Jahren«, fuhr der Sohn der Kaiserin fort. »Es ist schändlich.«
»Nach der Andeutung, die du vorhin gemacht hast, hatte ich nicht den Eindruck, dass du sie besonders schmerzlich vermisst«, wandte Alan ein. »Und trotzdem wolltest du ihr zu Hilfe kommen?«
Henry schüttelte den Kopf. »Meine Mutter mag ein scharfzüngiges Miststück sein, aber deswegen steht ihr die Krone trotzdem zu.«
»Das tut sie nicht«, meldete Simon sich entrüstet zu Wort, und gleichzeitig protestierte Matilda: »Wage es nicht, deine Mutter unter meinem Dach ein Miststück zu nennen, du Flegel!«
»Aber Madame, Ihr werdet doch wohl zugeben müssen …«
»Sie hat schon deswegen keinen Anspruch auf die Krone, weil der Papst König Stephen anerkannt hat und …« Simon konnte den Satz nicht beenden.
»Du plapperst nur nach, was dein Vater von ihr sagt, Henry, der sie nie zu schätzen wusste …«
»Wärt ihr vielleicht so gut …«, begann Alan stirnrunzelnd, und weil das nicht den geringsten Erfolg hatte, erhob er die Stimme: »Seid still, allesamt!«
Auf einen Schlag trat Ruhe ein, und die drei Streithähne sahen ihn an, abwartend und höflich.
Alan ergriff Simons Weinbecher und trank einen Schluck. Ich habe einen ordentlichen Keller, dachte er flüchtig. Dann sagte er: »Ich will diese Geschichte überhaupt nicht hören. Sie interessiert mich nicht. Aber ihr bedrängt mich und behauptet, ich müsse all diese Dinge unbedingt wissen, weil sie Teil meiner eigenen Geschichte seien. Oder weil ihr erwartet, dass ich irgendeine Rolle darin spiele. Also schön. Aber dann der Reihe nach. Und möglichst so, dass ich hier nicht die ganze Zeit sitze und mich schäme und mir dumm vorkomme, weil ihr alle so vieles wisst, was ich vergessen habe. In Ordnung?«
Sie nickten feierlich, verständigten sich mit verstohlenen, beinah schuldbewussten Blicken, und Lady Matilda ergriff das Wort. »Nachdem Prinz William Ætheling – dein Vater – ertrunken war, holte König Henry sein einzig verbliebenes eheliches Kind zurück an den Hof: Maud. Sie hatte seit ihrem achten Lebensjahr erst in der Obhut und dann an der Seite ihres Gemahls Kaiser Heinrich gelebt. Nach seinem Tod und ihrer Trauerzeit hätte sie gern einen der deutschen Fürsten geheiratet, denn sie war glücklich in dem Land, das ihre Heimat geworden war. Aber ihr Vater tat, was alle Väter mit den Ehewünschen ihrer Töchter tun: Er nahm keinerlei Notiz davon, sondern holte Maud erst in die Normandie und dann nach England zurück – in ein Land, das ihr völlig fremd geworden war, wo sie aber dennoch Königin werden sollte. Der König ließ die englischen Lords einen Eid schwören, Maud nach seinem Tod zur Königin zu wählen. Und sie schworen, allesamt. Auch ihr Cousin Stephen«, fügte sie mit einem missfälligen Blick in Simons Richtung hinzu, unter dem der Junge in sich zusammenschrumpfte wie eine welkende Blume. »Stimmt«, murmelte er kleinlaut.
»Kurz darauf verheiratete König Henry seine Tochter mit dem Grafen von Anjou.« Unfein wies Matilda mit dem Finger auf Henry. »Dein Vater war damals so alt wie du heute, mein Junge. Deine Mutter doppelt so alt. Und das war nicht die einzige Kluft zwischen ihnen. Diese Ehe war von Anfang an eine Katastrophe.«
»Das drückt es gelinde aus«, bemerkte Henry unbekümmert. »Ich habe mich oft gefragt, wie meine Brüder und ich zustande gekommen sind, aber ich glaube, ich will es lieber gar nicht so genau wissen.«
Matilda brummte grantig. »Ich habe König Henry wieder und wieder vor diesem Schritt gewarnt, aber er hat nicht auf mich gehört. Auf niemanden. Er wollte diese Verbindung um jeden Preis, damit Anjou endlich aufhörte, die Normandie zu bedrohen.« Sie schüttelte den Kopf. »Und was hat es genützt? Nichts. Dein Vater hat zugelassen, dass England in Anarchie versank, und sich die Normandie einverleibt.«
»Richtig«, bestätigte Henry mit Inbrunst. »Er wäre ein Narr gewesen, solch eine Chance ungenutzt verstreichen zu lassen.«
Matilda wandte sich wieder ihrem Enkel zu. »Sieben Jahre nach der freudlosen Hochzeit starb König Henry auf einem Feldzug in der Normandie.«
»Ist er gefallen?«, fragte Alan.
Sie schüttelte den Kopf. »Er starb an einer Fischvergiftung. Ich habe ihm immer gesagt, seine unanständige Gier nach Lampreten werde ihn eines Tages umbringen.« Sie lächelte traurig. »Auch in dem Punkt hat er nicht auf mich gehört. Der Hof kehrte nach England zurück, um den König zu begraben. Wir haben Maud beschworen, mitzukommen. Aber dein Vater, Henry, erlaubte es nicht. Er behielt sie in Anjou, denn er wollte sie als Pfand für seine Machtansprüche in der Normandie, und er traute ihr nicht genug, um sie nach England reisen zu lassen. Das war ein Fehler. Hätte er sie gehen lassen, wäre er heute König und du bräuchtest nicht durch die Wälder von East Anglia zu irren auf der Suche nach deiner Zukunft.«
»Ja, nachher ist man immer klüger«, entgegnete Henry. »Aber er hatte recht, ihr zu misstrauen. Sie hat keine Gelegenheit ausgelassen, ihn zu demütigen und seine Pläne zu durchkreuzen.«
»Genau wie umgekehrt«, konterte Matilda. »Mit nach England zurück kam indessen Mauds Cousin, Stephen de Blois. Ein Enkel des großen Eroberers, genau wie Maud und dein Vater, Alan. Darüber hinaus war Stephen König Henrys Lieblingsneffe gewesen. Ein Mann, der in England bekannt und beliebt war, und eben vor allem ein Mann. Ich bin sicher, den Rest kannst du dir denken. Die Lords vergaßen ihren Eid und setzten Stephen auf den Thron. Die Tatsache, dass sein Bruder der mächtige Bischof von Winchester ist und auch damals, vor zwölf Jahren, schon war, hat ihm nicht geschadet.«
»Und die Tatsache, dass niemand in England Henrys Vater, den machtgierigen Geoffrey d’Anjou, auf dem Thron wollte, ebenso wenig«, warf Simon rebellisch ein.
Keiner widersprach ihm. Es war einen Moment still. »Und was war mit … wie war der Name? Robert of Gloucester?«, fragte Alan. »Er war ein Sohn des toten Königs. Wenn die Thronfolge strittig war, warum hat er sich die Krone nicht genommen? Als der lachende Dritte?«
»Er war ein Bastard«, antwortete Henry achselzuckend.
So wie ich, dachte Alan und biss einen Moment die Zähne zusammen, ehe er den offensichtlichen Einwand vorbrachte: »Das war der Eroberer auch.«
»Die Zeiten haben sich eben geändert.«
Aber Matilda war anderer Ansicht. »Ich denke, Robert of Gloucester weiß selber nicht genau, warum er es nicht wenigstens versucht hat. Wenn du ihn dreimal nach dem Grund fragst, bekommst du drei verschiedene Antworten. Tatsache ist: Er ließ Stephen gewähren, als sei er unschlüssig, wie er sich verhalten sollte. Doch als Kaiserin Maud ihren Protesten drei Jahre später Nachdruck verleihen wollte und nach England kam, um sich ihre Krone zu erkämpfen, war ihr Bruder Gloucester vom ersten Tag an auf ihrer Seite. Sehr viel verlässlicher und standhafter als ihr Gemahl.« Wieder traktierte sie Henry mit einem strafenden Blick.
»Der Krieg währt jetzt schon fast neun Jahre, und du hast selbst gesehen, was er aus diesem Land gemacht hat«, nahm Henry den Faden wieder auf. »Gloucester ist ein besserer Soldat als Stephen, das steht wohl fest, aber Stephen hat viel Rückhalt im Land.«
»Weil er ein gerechter König ist«, fügte Simon hinzu. »Sogar milde, wenn die Umstände es erlauben. Die Engländer lieben König Stephen.«
Henry nickte. »Und hassen meine Mutter. Weil sie niemals irgendeinen Versuch unternommen hat, die Menschen hier für sich zu gewinnen. Im Gegenteil: Wenn sie sich überhaupt je blicken lässt, wie damals in London, ist sie herrisch und schroff und bringt es fertig, jeden vor den Kopf zu stoßen.«
Matilda zuckte unbeeindruckt die Schultern. »Sie verhält sich, wie ein Mann sich verhalten würde, und weil sie eine Frau ist, stößt es die Leute eben vor den Kopf. Das ist alles.«
Henry verdrehte die Augen, ging aber nicht weiter darauf ein, sondern setzte seinen Bericht fort: »Vor fünf Jahren hätte Stephen meine Mutter in Oxford beinah erwischt, aber sie floh nach Devizes, wo sie sich, wie gesagt, seither verkrochen hat. Gloucester hält die Macht im Südwesten, aber man munkelt, er sei krank.«
»Es stimmt«, bestätigte Matilda.
»König Stephen zieht mit seinem milden Lächeln durchs Land und bringt nichts zustande. Er kontrolliert den Südosten, doch die Midlands und der Norden sind ihm entglitten und in Anarchie versunken, weil er zu schwach und unentschlossen war, es zu verhindern. Schau mich nicht so an, Simon de Clare, du weißt genau, dass es so ist. Und seine Söhne sind ebensolche Trottel wie er.«
»Das würde ich an deiner Stelle auch behaupten«, bemerkte Alan trocken und sah Henry in die Augen. »Du willst diese Krone wirklich, nicht wahr?«
»Darauf kannst du deinen … Weinkeller verwetten. Und ich werde sie auch kriegen. Und du wirst mir dabei helfen.«
»Ah ja? Warum?«, erkundigte sich Alan.
Henry musste nicht lange überlegen. »Weil du mein Cousin bist.«
»Wenn ich euch recht verstanden habe, bin ich ebenso König Stephens Cousin …«
»Nur zweiten Grades«, warf Matilda ein.
»… der der gesalbte, gekrönte, vom Papst legitimierte König ist. Ein guter, milder König obendrein, wie es scheint, denn ihr habt Simon nicht widersprochen.«
Henry starrte ihn an, als hätte Alan ihm aus heiterem Himmel ein unsittliches Angebot gemacht. »Aber … niemand hat mit solcher Entschlossenheit für das Recht meiner Mutter gekämpft wie du. ›Mauds schärfstes Schwert‹ nennen sie dich. Gott verflucht, Mann, du bist eine Legende!«
Alan ließ sein Schweigen so lang werden, dass das Wort wirkungslos zu verhallen schien. Dann entgegnete er: »Ich bin ein Mann ohne Gedächtnis, Henry. Niemandes Schwert. Die Legende ist tot. Nur die Hülle wandelt noch, aber sie ist leer. Also, was immer du von mir erwartest, schlag es dir aus dem Kopf.«
»Das werde ich todsicher nicht tun«, konterte Henry. Es klang hitzig. Beinah wütend. »Es war kein Zufall, dass ich mich von Cricklade quer durch Feindesland ausgerechnet nach East Anglia durchgeschlagen habe, weißt du. Ich war auf der Suche nach Helmsby. Nach dir. Ich brauche deine Hilfe, Cousin!«
Rastlos stand Alan von seinem Schemel auf, trat für ein paar Atemzüge ans Fenster und schaute hinab in den Burghof. Dann setzte er sich neben Simon auf die Bettkante, um ein bisschen räumlichen Abstand zu seiner Großmutter und seinem Cousin zu gewinnen. Simon hielt ihm einladend den Becher hin. Alan nahm ihn dankbar und trank einen Schluck. Er fühlte sich besser, hier an der Seite seines Gefährten. Sicherer. Wie seltsam. Wenn es stimmte, was Henry gesagt hatte, dann war Simon sein Feind. Die beiden Menschen am Tisch hingegen waren seine Familie. Doch es fühlte sich genau umgekehrt an.
Er rieb sich die brennenden Augen, und obwohl eine Stimme in seinem Innern ihn warnte, dass er einen schrecklichen Fehler beging, dass er den Fuß in einen Sumpf steckte, fragte er: »Wo ist Robert of Gloucester jetzt?«
»In Bristol«, antwortete Matilda.
Alan nickte. Er erinnerte sich, dass er am Morgen nach ihrer Flucht von der Insel in St. Pancras mit einem Brummschädel erwacht und das Wort »Bristol« ihm durch den Kopf gespukt war. Er hatte Regy danach gefragt. »Dort hat er sein Hauptquartier?«
»Wenn du so willst. Es ist seine stärkste Festung. Vielleicht auch der Ort, den er sein Heim nennen würde.«
»Und wie krank ist er?«
Sie schüttelte den Kopf. »Das weiß ich nicht.«
Alan sah zu Henry. »Wäre es nicht das Beste, du gingest zu ihm? Wenn ich euch recht verstanden habe, ist er unter den Männern in England, die für die Sache deiner Mutter kämpfen, der mächtigste. Er ist derjenige, mit dem du Pläne schmieden solltest.«
»Nur würde ich niemals hinkommen«, entgegnete Henry. »Von hier nach Bristol gibt es keinen Weg, der nicht durch irgendeine Gegend führt, die fest in Stephens Hand ist. Richtig?«, vergewisserte er sich mit einem Blick auf Simon.
Der nickte.
»Wenn ich einem seiner treuen Lords in die Hände fiele, dann hätte ich der Sache meiner Mutter einen ziemlichen Bärendienst erwiesen. Dann wäre ihr Krieg vorbei.«
»Vielleicht ist es das, wofür Gott dich nach England geführt hat«, mutmaßte Alan.
»Als Stephens Pfand?«, entrüstete sich Henry. »Eins sag ich dir, Alan: Wenn das wahr ist, dann bin ich fertig mit Gott!«
»Aber, aber.« Matilda tätschelte ihm nachsichtig den Arm, nicht im Geringsten schockiert von seinen lästerlichen Worten, wie Alan mit Interesse beobachtete. »Nein, ich denke auch nicht, dass es eine gute Idee wäre, wenn du versuchst, nach Bristol zu gelangen. Du hast völlig recht: Du kämest niemals ungeschoren durch die Stephen-treuen Grafschaften. Vermutlich würde einer seiner Lords dir den Kopf abschlagen und ihn mit den besten Empfehlungen zu seiner Mutter nach Devizes schicken, denn die Verbitterung auf beiden Seiten ist so groß, dass Ehre und Anstand bei den Lords keine große Rolle mehr spielen. Der gute Stephen hingegen hält immer noch große Stücke auf Ehre und Anstand. Darum wirst du ihn um Hilfe bitten, nicht Gloucester.«
Die drei Männer starrten sie an. »Ähm … Madame«, stammelte Henry. »Ihr schlagt vor, ich soll den Todfeind meiner Mutter um Hilfe bitten? Warum genau, wenn ich fragen darf?«
»Er ist nicht ihr Todfeind«, widersprach sie. »Er ist ihr Cousin und war immer unglücklich über diesen Krieg.« Sie dachte einen Moment nach, und ein mutwilliges Funkeln trat in ihre blauen Augen, das sie um Jahre verjüngte und von dem einem ganz mulmig werden konnte. »Wir müssen ihn nur an der richtigen Stelle zu fassen bekommen. Jeder Mensch hat einen wunden Punkt. Wenn man ihn berührt, können die erstaunlichsten Dinge geschehen. Stephens Schwachstelle ist sein Familiensinn. Wir schicken ihm einen Boten, der ihm von deiner misslichen Lage berichtet. Damit erreichen wir zwei Dinge: Erstens erfährt Stephen, dass der Sohn seiner Rivalin sich mit Alan of Helmsby verbündet hat, und das dürfte ihm solche Angst machen, dass er fortan keine Nacht mehr ruhig schlafen wird. Zweitens wird der Bote an seine Familienloyalität appellieren und ihn somit zwingen, dir zu helfen und sicheres Geleit für die Rückkehr in die Normandie zu gewähren.«
»Das kann niemals funktionieren«, entgegnete Henry kopfschüttelnd. »So dämlich kann nicht einmal Stephen sein.«
»Doch, es würde funktionieren«, widersprach Simon. Er klang unwillig. Vermutlich war ihm nicht wohl dabei, wie die Gutmütigkeit seines Königs ausgenutzt werden sollte, aber er fühlte sich verpflichtet, die Wahrheit zu sagen, mutmaßte Alan. Die Zwickmühle hatte nicht lange auf sich warten lassen. »Es wird funktionieren«, wiederholte Simon mit mehr Nachdruck. »Nicht etwa, weil der König ›dämlich‹ ist, wie du es zu nennen beliebst, sondern weil Lady Matilda recht hat: Die Familie geht ihm über alles. Mein Vater hat mit eigenen Augen gesehen, wie König Stephen einen Überläufer begnadigte, als er erfuhr, dass der Kerl ein Bastard seines Cousins war. Er hat getobt und geflucht, dass er ihn nicht aufknüpfen konnte, aber er sah sich außerstande.« Er hob kurz die Hände. »So ist er eben.«
Die anderen schwiegen einen Moment versonnen. Schließlich fragte Henry: »Und wer soll unser Bote sein? Wen gibt es, dem wir so weit vertrauen könnten, und der gleichzeitig Stephens Gehör findet?«
»Das liegt auf der Hand, oder?«, gab Matilda ungeduldig zurück. »Gott hat uns den Boten gnädigerweise gleich mit deiner Zwangslage beschert.« Sie wies auf Simon. »Er ist ein de Clare, denen Stephen vertraut. Aber er wird uns nicht verraten, weil er meinem Enkel gegenüber loyal ist. Er wird es tun.«
Alan stand von der Bettkante auf. »Nein.«
»Warum nicht?«, fragte Matilda.
»Weil er ein Mensch ist und kein Werkzeug. Wenn du dich in Stephen täuschst, wenn auch nur irgendetwas schiefläuft, dann werden sie Simon töten. Und vorher werden sie aus ihm herausholen, wo Henry zu finden ist. Kommt nicht infrage.«
»Aber mein lieber Junge …«, begann seine Großmutter.
»Ich bin nicht dein lieber Junge«, knurrte er. An Henry gewandt fügte er hinzu: »Du hast dir diese Suppe eingebrockt. Also löffle du sie auch aus. Ich bin gewillt, dir zu helfen, aber nicht um diesen Preis.«
»Kann ich vielleicht auch etwas dazu sagen?«, fragte Simon ungehalten.
»Nein«, gab Alan kurz angebunden zurück. »Denn ich weiß, was du sagen willst.«
»Aber es ist ein guter Plan«, beharrte Simon. »Lass es mich versuchen. Ich weiß, ich kann es schaffen.« Trotz der Fallsucht, fügte er nicht hinzu, aber Alan hörte es dennoch.
»Natürlich würdest du es schaffen«, entgegnete er. »Aber darum geht es nicht. Es ist zu gefährlich. Und selbst wenn es dich nicht das Leben kostet; dein König würde dir niemals vergeben. Er würde dir nie wieder trauen. Und wenn er diesen Krieg gewinnt? Was soll dann aus dir werden? Denkst du, er würde auch nur einen Finger rühren, damit du Woodknoll zurückbekommst? Meiner Großmutter und Henry ist das vielleicht gleichgültig, weil sie sich einbilden, ein höheres Ziel zu verfolgen, aber du solltest dich nicht so schamlos ausnutzen lassen.«
»Bist du jetzt fertig?«, fragte Lady Matilda. Ihre Stimme klang wie eine Stahlklinge auf Eis.
»Allerdings«, antwortete er und ging zur Tür. Mit der Hand auf dem Riegel wandte er sich noch einmal kurz um. »Simon? Kommst du?«
Der Junge zögerte. Dann schüttelte er den Kopf.
»Überleg dir gut, was du tust. Und warum du es tust.« Er ging hinaus. Ihm war danach, die Tür zuzuschlagen, aber den Triumph wollte er seiner Großmutter nicht gönnen. Also schloss er sie nahezu lautlos.
Auf dem zugigen, dämmrigen Korridor begegnete er der Magd, die ihm am Abend zuvor den Eintopf gebracht hatte. Er musste einen Moment überlegen, dann fiel ihm der Name wieder ein. Er nickte. »Emma.«
»Guten Morgen, Mylord.« Sie hatte ein reizloses Gesicht, aber ein hübsches Lächeln. »Ich hab Euch frische Kleider zurechtgelegt. In der Gästekammer.« Sie wies auf eine Tür zur Linken. »Vermutlich sind sie ein bisschen zu weit. Ihr seid dürr geworden.«
»Tatsächlich?«
Sie nickte. »Braucht Ihr jemanden, der Euch rasiert?«
Er fuhr sich mit der Hand über das stopplige Kinn. »Ich hab’s nötig, was?«
Ihr Lächeln wurde eine Spur breiter.
»Ich kümmere mich später darum«, versprach er. »Vor dem Essen, du hast mein Wort. Kannst du mir zufällig sagen, wo meine Gefährten sind?«
»Sie sind ins Dorf gegangen. Sie wollten die Kirche anschauen, hat der heilige Mann gesagt.«
»Danke.« Er wollte sich abwenden, als er merkte, dass sie zögerte. »Gibt es sonst noch etwas?«
»Der junge Mann … Oswald.«
»Ja? Was ist mit ihm? Hat er etwas angestellt? Das würde mich wundern. Er tut eigentlich immer das, was man ihm sagt.«
Sie schüttelte den Kopf. »Es ist nur … Er erinnert mich so sehr an meinen Bruder Gorm. Entsinnt Ihr Euch an Gorm?«
»Ich fürchte, nein.«
»Er war der Jüngste von uns. Und … er sah genauso aus wie Euer Oswald. Das Gesicht, die Augen, die Statur. Die kleinen Hände. Er war … so ein guter Junge. Ihr könnt Euch das gar nicht vorstellen. Zurückgeblieben, aber was menschliche Güte anging, konnte jeder etwas von ihm lernen.«
Alan lauschte ihr fasziniert. Genau das Gleiche hatte er schon manches Mal von Oswald gedacht. »Ist er gestorben?«
»Ja. Mit fünfzehn.«
»War’s das Herz?«
Sie machte große Augen. »Das hat Eure Großmutter gesagt. Er lief blau an und hatte Schmerzen in der Brust, und dann war’s aus mit ihm.«
Alan nickte. »Es ist das gleiche Gebrechen, keine Frage.«
»Denkt Ihr, ich könnte Oswald einmal mit ins Dorf zu meiner Mutter nehmen? Sie vermisst unseren Gorm so furchtbar. Es wäre so eine große Freude für sie.«
»Ich habe nichts dagegen. Er ist noch scheu hier und fürchtet sich leicht. Aber frag ihn, ob er will. Wenn dein Bruder genauso war, brauche ich dir ja sicher nicht zu erklären, wie man mit ihm umgehen muss. Nimm ihn nur mit, wenn er sich überreden lässt. Je schneller er hier Freunde findet, desto glücklicher wird er sein.« Und ich um eine Sorge erleichtert, fügte er in Gedanken hinzu.
Emma strahlte. »Danke, Mylord.«
Er nickte, und im letzten Moment hielt er sich davon ab, sie nach dem Weg zum Verlies zu fragen. Stattdessen nahm er eine Fackel aus einem der Wandhalter und bemühte das wenige an gesundem Menschenverstand, das er noch besaß. Er ging die Treppe hinab und stellte ohne Überraschung fest, das sie vom Hauptgeschoss aus weiter abwärts zur Küche und den Vorratsräumen führte. Und dann schraubte sie sich noch einmal weiter hinab ins Dunkle.
Ein mächtiger, gut geölter Eisenriegel versperrte die einzelne Kerkertür. Alan zog ihn zurück, öffnete die Tür langsam, blieb auf der Schwelle stehen und hob seine Fackel − den Dolch in der Rechten.
Betroffen betrachtete er das Bild, das sich ihm bot: Regy hatte sich seiner Mönchskutte entledigt und lag splitternackt im Stroh. Das war nichts Ungewöhnliches. Ungewöhnlich war hingegen, dass er sich zu einem Ball zusammengerollt hatte und seine Haut im flackernden Fackelschein schweißnass glänzte. Er blutete an beiden Unterarmen, und sein Atem ging stoßweise.
»Regy?«
Die erbarmungswürdige Gestalt am Boden zuckte zusammen, und das Keuchen verstummte. »Losian?«
»Lass das nicht meine Großmutter hören. Was in aller Welt ist los mit dir?«
Regy richtete sich langsam auf, blieb einen Moment mit gesenktem Kopf im Stroh sitzen und drehte sich dann zu ihm um. Die Augen waren blutunterlaufen, die Lippen zerbissen. Als er lächelte, musste Alan ein Schaudern unterdrücken. Es war die schmerzverzerrte Fratze einer gepeinigten Kreatur, die geradewegs aus der Hölle zu kommen schien. Aber Regys Stimme und sein hochmütiger näselnder Tonfall waren ganz die alten. »Alan de Lisieux, sieh an. Wie nett, dass du vorbeischaust.«
»Ich ziehe Alan of Helmsby vor.«
»Wieso? Der eine ist ebenso ein Fremder für dich wie der andere.«
»Das stimmt. Steh auf, zeig mir, wie lang deine Kette ist.«
Regy gehorchte anstandslos und führte ihm vor, dass die Kette sich nach drei Schritten spannte.
Alan trat über die Schwelle, entdeckte nach kurzem Suchen eine Eisenhalterung, steckte die Fackel hinein und ließ sich nahe der Mauer im Stroh nieder. Es war frisch, sauber und dick aufgeschüttet. »Zieh dich an, ja? Tu mir den Gefallen.«
Regy stieg in die verdreckte Kutte – verdächtig zahm. Seine Bewegungen waren schleppend. Dann setzte er sich Alan gegenüber an die Wand mit dem Eisenring, an dem seine Kette befestigt war, und zog die Knie an. »War der berühmte Kreuzfahrer dein Vater?«
»Mein Großvater. Regy, würdest du mir verraten, warum du dir die Arme und die Lippen blutig gebissen hast? Ich weiß natürlich, dass du gerne Gebrauch von deinen Zähnen machst, aber gegen dich selbst?«
»Bist du ins Heilige Land gereist, um in seine Fußstapfen zu treten? Verzeih meine Offenheit, aber hast du nicht befürchtet, sie könnten ein bisschen zu groß für dich sein?«
»Regy …«
»Beantworte meine Frage, dann beantworte ich deine.«
Alan ließ sich nicht gern auf solche Machtspielchen ein, denn Regy war ein Meister darin – man konnte nur verlieren. Aber heute machte er eine Ausnahme. »Wie es aussieht, bin ich überhaupt nicht im Heiligen Land gewesen. Woher der Kreuzfahrermantel und der seltsame Traum kamen, weiß ich nicht. Mein Name ist das Einzige, was ich erfahren habe, aber er hat mir keine Offenbarung beschert.«
»Ich habe mir in die Arme gebissen, um nicht zu schreien. Wenn ich allein in dunklen, engen Löchern eingesperrt bin, muss ich schreien, weil ich weiß, dass sie kommen und es wieder tun werden. Mein ruhmreicher Onkel Geoff und …«
»Ich will das nicht hören«, unterbrach Alan schneidend. Mit einem Mal spürte er Schweiß auf Brust und Rücken. Er hatte irgendwie immer gewusst, dass es solch eine Geschichte gab, aber es war sein Ernst: Er wollte sie nicht hören.
Regy saugte einen Moment an seiner blutigen Unterlippe. »Wenn ich schreie, kommen sie schneller wieder, als wenn ich es nicht tue. Also darf ich es auf keinen Fall, verstehst du? Aber es ist unmöglich, allein im Dunkeln zu liegen und darauf zu warten und nicht zu schreien, also …«
»Hör auf damit!« Verstohlen ballte Alan die Fäuste, um sich unter Kontrolle zu halten. »Du hast zweimal versucht, mich umzubringen. Du hast Robert die Kehle durchgebissen. Du bist ein Kinderschänder und Kindermörder. Und du erwartest, dass ich dich bedaure? Du musst verrückter sein, als ich dachte.«
»Ich scheiß auf dein Mitgefühl.«
»Das klingt schon viel besser.«
»Aber ich appelliere an deinen Anstand.«
»Ich glaub, mir wird übel.«
Regy richtete den Oberkörper auf und beugte sich ein wenig vor. Der Fackelschein glitzerte in seinen geröteten Augen mit den schwarzen Iris, und er sah wahrhaftig aus wie ein Dämon. »Töte mich oder lass mich hier raus.« Es war ein Befehlston, streng und fordernd. »Eins von beiden, mir ist egal, was. Aber lass mich nicht hier unten.«
Alan strich sich nachdenklich mit dem Daumennagel übers Kinn und ließ ihn nicht aus den Augen. »Und wenn ich nun erwiderte, dass Freilassen nicht infrage kommt und du einen schnellen Tod nicht verdient hast? Sondern genau die Hölle, die du hier offenbar gefunden hast? Was antwortest du dann?«
»Dass du lügst, weil es nicht wirklich das ist, was du denkst. Du bist zu …« Er brach ab und richtete den Blick ins Leere, während er nach dem Wort suchte. »Barmherzig. Ich glaube, das ist es, was ich meine.«
Alan gab einen Laut des Unwillens von sich. »Jetzt bist du ziemlich durchschaubar, Reginald.«
Der schnaubte. »Du denkst, ich wollte dir schmeicheln? Du irrst dich. Ich halte Barmherzigkeit für keine Tugend. Im Gegenteil. Ich könnte es tun. Das weißt du, oder? Wenn unsere Rollen vertauscht wären, könnte ich dich hier liegen lassen, auf dass du Stück um Stück an deinem Entsetzen verreckst. Und weil ich das könnte, bin ich stark. Viel stärker als du. Stärke ist die einzige Tugend, die wirklich von Wert ist. Die, welche die blöden Pfaffen uns schmackhaft machen wollen, sind in Wahrheit bloß Schwächen. Stärke ist alles. Und ich bin stark.«
»Du bist nur böse«, hielt Alan dagegen.
Regy lächelte wieder. »Das ist wahr. Es ist das Böse, das mir meine Stärke verleiht. Die du nicht besitzt, weil du eben nicht böse bist.«
»Tja. Das frage ich mich.«
»Ich weiß. Darum kommst du wieder und wieder zu mir. Um dich selbst zu erkennen.« Er faltete die Hände auf der Brust – eine lästerliche Parodie eines gütigen Beichtvaters. »Und was genau kann ich heute für dich tun, mein Sohn?«
Alan unterdrückte mit Mühe ein Grinsen. »Ich sage dir, wer ich bin und was hier vorgeht. Du sagst mir, was du denkst.«
»Du willst meinen Rat?«
Alan hob langsam die Schultern. »Ich muss ihn ja nicht annehmen. Aber du bist der einzige Mensch, den ich kenne – den Losian kennt, meine ich –, der in der Welt Bescheid weiß, um die es hier geht. Wenn du mich belügst, weiß ich das.« Er ruckte den Daumen zur Decke. »Wenn sie mich belügen, lauf ich ins offene Messer, ohne es auch nur zu merken.«
Regy dachte darüber nach. »Na schön«, sagte er schließlich. »Öffne mir dein Herz, mein Bester. Aber vorher reden wir über deine Gegenleistung.«
Alan seufzte. »Sei doch vernünftig, Regy.«
»Das kann ich nicht.«
»Nein. Aber du weißt trotzdem ganz genau, dass ich dich nicht laufen lassen kann. Ich habe dich mit von der Insel genommen, also obliegt es mir, dafür zu sorgen, dass du keinen Schaden mehr anrichtest. Und das würdest du doch.«
Regy nickte. »Ich rede ja auch nicht von Laufenlassen. Aber sperr mich irgendwo ein, wo Licht ist. Hol mich aus diesem Kellerloch. Und zwar noch heute.«
Ich darf gar nicht daran denken, was King Edmund und die Zwillinge dazu sagen werden, dachte Alan unbehaglich, aber er antwortete. »Einverstanden.«
Regy schloss einen Moment die Augen und ließ langsam den Atem entweichen. Seine Erleichterung ließ Alan das Ausmaß seines Schreckens ahnen. Dann öffnete Regy die Augen wieder, und der Dämon war zurück. »Also? Ich höre.«
Und Alan erzählte.
Er fand den Steward unten im Burghof in der Scheune. Guillaume hatte eine Schar Hilfskräfte organisiert – dem Aussehen nach Bauern. Die Frauen hockten auf dem festgestampften Fußboden im Kreis, banden mit geschickten Fingern Strohhalme zu Schindeln und plauderten angeregt, während die Männer auf Leitern standen und das Dach ausbesserten. Guillaume hatte sich unter den kahlen Balken und Sparren postiert, die Hände in die Hüften gestemmt, den Kopf in den Nacken gelegt und erteilte Anweisungen und Ratschläge. Von oben kamen Proteste und fachkundige Einwände. Es gab ein lebhaftes Hin und Her und viel Gelächter. Doch als Alan in die Scheune kam, wurde es beinah schlagartig still.
Er verbarg sein Unbehagen hinter einem sparsamen Lächeln, nickte den Frauen zu und trat zu Guillaume. »Da bin ich. Wie versprochen.«
Der Steward nickte. »Gut.« Und dann, nach oben gewandt: »Edwy, ich sehe den blauen Himmel durch deine Schindeln! Leg sie enger!«
»Wird gemacht, Lord Guillaume, wird gemacht«, antwortete Edwy, ein drahtiger kleiner Mann mit einem gewaltigen blonden Schnurrbart. »Es ist ja nicht so, als hätt ich am Sonntag was Besseres zu tun, als Eure Scheune neu zu decken …«
Guillaume hob die Hand zu einer Geste der Kapitulation. »Denk nicht, ich wüsste eure Hilfsbereitschaft nicht zu schätzen.«
»Heute ist Sonntag?«, fragte Alan ungläubig.
Guillaume sah ihn an und nickte.
»Herrje. Ich war nicht in der Kirche.«
»Wenn du willst, reiten wir hin. Die Messe ist natürlich vorbei, aber du könntest ein bisschen beten, wenn du möchtest. Und unterwegs kann ich dir berichten, wie es um uns steht.«
»Das klingt nach einem vernünftigen Plan«, stimmte Alan zu. Was sonst hätte er sagen können? Er verspürte kein Interesse für diesen Ort, seine Menschen und seine Belange. Aber da es nun einmal so war, dass sie ihm gehörten, blieb ihm wohl nichts anderes übrig, als dieses Interesse wenigstens zu heucheln.
Guillaume gab ein paar letzte Anweisungen an die Dachdecker, führte Alan dann zum Pferdestall, hieß einen jungen Burschen, der im Gras davor in der Sonne döste, ihnen Conan und Clito zu satteln, und wenig später ritten sie durchs Tor.
»Seltsame Namen für Pferde«, befand Alan.
Guillaume warf ihm von der Seite einen undurchschaubaren Blick zu. »Du hast sie ausgesucht.«
»Wirklich?« Alan seufzte.
»Hm. Es sind die Namen von Fürsten aus fernen Ländern und Zeiten. Das hat Tradition in Helmsby.«
Conan, den der Stallbursche Alan ehrfürchtig überreicht hatte, war ein kostbares Pferd, ein Brauner mit einer ebenmäßigen Flocke, die man kaum anders als vornehm nennen konnte. Conan hatte sich sichtlich gefreut, seinen Herrn wiederzusehen, der natürlich nicht die leiseste Erinnerung an seinen treuen Reisegefährten hatte.
»Er kam ohne dich nach Hause«, berichtete Guillaume. »Nächsten Monat werden es drei Jahre. Das war ein schwarzer Tag in Helmsby. Vor allem für deine Großmutter.«
»Ja. Das will ich glauben.«
Sie ritten nebeneinander an frisch bestellten Feldern vorbei, bis der Weg in ein kleines Waldstück eintauchte.
»Es ist nur eine halbe Meile bis ins Dorf«, erklärte Guillaume. »Wir hätten natürlich auch laufen können. Aber ich dachte, wir reiten vielleicht ein Stück übers Land. Wenn du willst, meine ich natürlich nur.«
Alan nickte. Er schätzte, die Fackel, die er Regy dagelassen hatte, würde noch etwa zwei Stunden brennen. Er hatte versprochen, zurückzukommen, bevor sie verlosch. Aber in zwei Stunden konnte man weit reiten.
Am Rand des Wäldchens, in Sichtweite des Dorfs, kamen ihnen King Edmund, die Zwillinge, Luke und Oswald entgegen.
»Oh, Losian, ich meine natürlich Alan, was für eine wundervolle Kirche«, schwärmte King Edmund. »Dein Vorfahr, der sie erbaut hat, muss ein wirklich frommer Mann gewesen sein, der Gott über alle Maßen preisen wollte.«
»Oder ein großer Sünder, der bei Gott viel gutzumachen hatte.« Alan zügelte Conan und hielt an. »Ich bin gerade auf dem Weg, sie mir anzuschauen. Alles in Ordnung mit dir, Oswald?«
Der Junge hob den Kopf, lächelte ihn an und nickte. »Ich hab Sauerampfer gefunden. Jede Menge.«
»Großartig. Wir sagen der Köchin, wo er steht, und sie kann uns eine schöne Suppe davon kochen.« Er sagte ihm nicht, dass sie bis auf Weiteres eigentlich keinen Sauerampfer mehr essen mussten. Oswald legte größten Wert darauf, seinen Beitrag zum Überleben ihrer Gemeinschaft zu leisten. Er wusste ganz genau, dass alle anderen in dieser Disziplin besser waren als er – abgesehen von Regy vielleicht –, und darum war er bei dem Thema empfindlich.
»Wo ist Simon?«, fragte Wulfric.
»Er schmiedet Ränke mit Henry und meiner Großmutter. Ich fürchte, sie werden ihn überreden, sich für ihre Zwecke einspannen zu lassen. Vielleicht könnt ihr versuchen, ihn zur Vernunft zu bringen.«
»Was für Ränke?«, wollte King Edmund wissen.
»Das kann er euch selbst erklären. Und wenn ihr schon zum Burgturm hinaufgeht, tut mir einen Gefallen: Sucht eine neue Unterkunft für Regy. Er kann da unten nicht bleiben.«
Die anderen wechselten beredte Blicke. Dann räusperte Godric sich. »Bitte sag, dass ich mich verhört hab.«
Alan schüttelte den Kopf. »Ich fürchte, nein.«
»Warum? Bist du von Sinnen? Willst du das Schicksal herausfordern? Früher oder später gibt es ein Unglück, das weißt du ganz genau, und dann wirst du die Verantwortung tragen!«
»Ich bitte euch dennoch. Aber wenn ihr euch weigert, ist es auch nicht weiter schlimm. Dann tu ich es eben selbst, sobald ich zurück bin. Ich hab ihm mein Wort gegeben, Godric.«
»Das bricht mir das Herz. Vergiss es, Mann. Ohne mich!«
Alan ritt wieder an. Über die Schulter sagte er: »Na schön. Aber du wirst mich nicht hindern. Denn ob du’s glaubst oder nicht, Godric: Hier passiert das, was ich will.«
Er war vielleicht zehn Längen weit geritten, als Godric ihm nachbrüllte: »Es passiert doch immer und überall das, was du willst, du normannischer Hurensohn!«
»Umso besser«, murmelte Alan vor sich hin.
»Und das lässt du dir bieten?«, fragte Guillaume verwundert.
»Oh, er meint es nicht böse. Außerdem muss ich zugeben, ich habe verdient, dass er mich beschimpft. Er hat ein Anrecht auf seinen Zorn. Und in ein, zwei Stunden wird er sich beruhigen und tun, worum ich ihn gebeten habe.«
»So warst du früher nicht«, bekundete Guillaume. Es war unmöglich zu sagen, was er von der Erkenntnis hielt.
Alan sah ihn an. »Enttäuscht?«
Sein Steward schüttelte den Kopf. »Verwirrt. Ziemlich verwirrt, wenn du die Wahrheit wissen willst, Vetter.«
Aber todsicher nicht halb so verwirrt wie ich, dachte Alan. Er lächelte. »Erzähl mir von Helmsby, Guillaume. Sag mir, wie es um uns steht.«
Schlecht, lautete die kurze Antwort. Aber jetzt, da Guillaume einmal Alans Aufmerksamkeit hatte, begnügte er sich nicht mit einer so knappen Einschätzung, sondern setzte ihn ausführlich ins Bild: Helmsby hatte eine Missernte und einen schlimmen Winter hinter sich. Wie so oft, wenn die Menschen hungerten, war ein Fieber ausgebrochen, und von den rund dreihundert Einwohnern des Dorfes war beinah jeder Zehnte gestorben.
»In den anderen Dörfern sieht es nicht besser aus. In Metcombe …«
»Wie viel Land gehört mir?«, unterbrach Alan.
»Vier Hundertschaften hier in Norfolk, zwei in Suffolk und ein paar Güter in der Normandie, aber von da ist jahrelang kein Geld gekommen.«
Nein, weil Henrys verfluchter Vater die Normandie überrannt hat und an seine Vasallen verteilt, dachte Alan grimmig. Und zum Dank soll ich seinem Söhnchen hier in England aus der Klemme helfen? »Wie viel Pacht im Jahr? In einem guten oder durchschnittlichen Jahr, meine ich.«
»Etwa … zweihundert Pfund.«
»Allmächtiger. Warum sind wir dann nicht reich?«
»Der neue Burgturm hat natürlich Unsummen verschlungen«, erklärte Guillaume. »Aber das war nicht das eigentliche Problem.« Er brach unsicher ab.
»Lass mich raten. Ich habe meine Güter geschröpft und mein ganzes Geld in Kaiserin Mauds Krieg gesteckt?«
Der Steward wiegte den Kopf hin und her. »Nicht in unverantwortlicher Weise. Du hast die Leute nicht ausgepresst oder dergleichen. Und niemanden gezwungen, mit dir zu gehen, wenn du wieder einmal eine Truppe aufgestellt hast, so wie … gewisse andere Leute es taten oder noch tun.«
»Und dennoch fürchten die Bauern sich vor mir. Das war nicht zu übersehen, vorhin in der Scheune.«
»Nein, es ist nicht Furcht, sondern Ehrfurcht. Du … na ja.« Guillaume hob grinsend die Schultern. »Du bist eine Legende.«
»Ich glaube, der Nächste, der das zu mir sagt, riskiert eine blutige Nase«, grollte Alan.
Guillaume lachte in sich hinein. Es war ein tiefes, biergeöltes Lachen mit einem gutmütigen Klang. Alan stellte mit einiger Erleichterung fest, dass der Steward ein Mann nach seinem Geschmack war.
»Ist aber so«, beharrte dieser. »Und es stimmt schon: Du hast jeden Penny, der nur irgendwie flüssig zu machen war, in Mauds Krieg gesteckt. Darum hatten wir nie Reserven für Notfälle.«
»Doch in den letzten drei Jahren hattest du endlich Gelegenheit, solche Reserven anzulegen, oder? Weil ich ja glücklicherweise auf einem öden Felsen im Meer eingesperrt war. Darum …«
»Du warst was? Bei St. Wulfstans Ohren … Hatten Stephens Leute dich erwischt?«
»Keine Ahnung.« Alan hob mutlos die Schultern. »Vielleicht ist genau das passiert. Ich weiß es nicht.«
Guillaume schüttelte den Kopf. »Das muss grauenhaft sein«, ging ihm auf.
Alan schenkte ihm ein bitteres kleines Lächeln. »Also? Was ist in diesen drei Jahren mit meinem Geld passiert?«
»Lady Matilda hat darauf bestanden, dass wir deinem Onkel Gloucester alles schicken, denn das sei in deinem Sinne, sagte sie. Aber …« Er geriet ins Stocken und kratzte sich die Stirnglatze.
»Ja?«, hakte Alan nach.
»Ich habe jedes Jahr etwas abgezweigt und beiseitegelegt. Ich weiß, dazu hatte ich kein Recht. Aber wir hatten so viele gute Jahre hintereinander, ich hab einfach gewusst, dass eine Missernte fällig war. Ich bin hier seit zehn Jahren Steward, Alan, und bin als Sohn des Stewards aufgewachsen. Es gibt Sachen, die spürt man in den Knochen, wenn man so viel Erfahrung hat und …«
Alan hob eine Hand, um ihn zum Schweigen zu bringen. »Wo ist dieses Geld jetzt?«
»Das meiste ist für Saatgut draufgegangen. In ihrer Verzweiflung haben die Bauern ihr Saatgut gegessen, wie sie es so oft machen in einem Hungerwinter. Ich habe schon letzten Herbst neues gekauft und es verteilt, seit wir mit dem Pflügen angefangen haben. Als Darlehen. Wir kriegen es zurück, nach und nach. So wie die Bauern es eben schaffen. Aber wenn ich es nicht getan hätte …«
Sie waren vor der St.-Wulfstan-Kirche angelangt. Die wundervolle Westfassade mit ihrem gewaltigen, von filigranen Steinmetzarbeiten verzierten Rundbogenportal verschlug Alan fast den Atem, aber er ließ den Steward nicht aus den Augen. »Gut gemacht, Guillaume. Ich kann mich nicht erinnern, ob ich je mehr über Landwirtschaft gewusst habe als heute – nämlich gar nichts –, aber was du getan hast, klingt weitsichtig und klug.«
»Danke. Und du hast nichts über Landwirtschaft vergessen. Du hast noch nie was davon verstanden«, eröffnete der Steward ihm mit einem unfreiwilligen Grinsen.
»Und trotzdem hast du damit gerechnet, dass ich dir Vorwürfe mache.«
»Das hättest du früher auch getan.«
Alan nickte wortlos. Angenehmer Zeitgenosse, dieser Alan of Helmsby. Wirklich ein netter Kerl …
»Nicht aus Geiz«, versuchte Guillaume zu erklären. »Aber es gab nichts außer dem Krieg für dich. Du wolltest nichts anderes sehen. Du warst besessen davon.«
»Tja. Von irgendetwas bin ich wohl immer besessen.«
»Was?«
»Gar nichts.« Er winkte ab. Dann wandte er den Blick auf seine Kirche. »Sie ist wahrhaftig eine Pracht.«
»Ja«, stimmte Guillaume zufrieden zu. »Unser ganzer Stolz.«
Alan saß ab und band die Zügel an eine hölzerne Reling, die für genau diesen Zweck vor der Kirche errichtet war. Es sah aus, als bekomme St. Wulfstan häufiger Besuch von außerhalb.
»Du erwähntest etwas von Pilgern?«
Der Steward nickte. »Vor dem Krieg. Als man noch durch East Anglia reiten konnte, ohne von Geoffrey de Mandeville und seinesgleichen abgeschlachtet zu werden. Bevor dieses Land zum Teufel ging.«
Seite an Seite betraten sie das stille Gotteshaus. Ihre Schritte hallten auf den Steinfliesen. Langsam ging Alan zum Altar, bekreuzigte sich, dann legte er den Kopf in den Nacken und sah zu dem hohen Tonnengewölbe empor. Schließlich schaute er am Hauptschiff entlang nach Westen. Vier perfekt gearbeitete Säulenpaare trennten es von den Seitenschiffen, wo das Licht des Frühlingstages durch die Rundbogenfenster hereinströmte. Es war eine Kirche von anrührender Schönheit. Ein Ort, wo man Vertrauen in die Gnade Gottes fassen konnte.
»Sie … hätte Glasfenster verdient«, murmelte Alan.
»Davon träumt jeder Lord of Helmsby, seit diese Kirche steht. Aber keiner konnte es sich je leisten.«
Vielleicht schaffen wir es eines Tages, fuhr es Alan durch den Kopf. Wenn der Krieg aus ist und Henry die Krone auf seinem Sturkopf trägt und die Pilger zurück nach Helmsby kommen.
»Stephens Truppen sind nie hier eingefallen, während ich fort war?«, fragte er. »Man sieht hier nichts vom Krieg. Wir sind durch völlig verwüstete Gegenden gekommen, wo Dörfer und Felder verbrannt waren. Nur wenige Tagesmärsche von hier.«
Guillaume nickte. »Das haben nicht die königlichen Truppen angerichtet, sondern gesetzloses Raubritterpack. Aber die Menschen von Helmsby sind wehrhaft. Das waren sie immer schon. Früher vor allem, weil die Dänen ständig unsere Flüsse heraufkamen, und sie sind es heute noch, weil du dafür gesorgt hast.«
»Aber ich habe in der Halle keine Ritter gesehen. Wer verteidigt Helmsby?«
»Wir haben eine hervorragende Burgwache. Und auch viele der Bauern wissen, wie man mit Streitaxt und Bogen umgeht. Manche waren eine Weile mit dir im Krieg.«
»Gott. Und ich kenne nicht einmal ihre Namen.« Er lehnte sich mit dem Rücken an eine der dicken Säulen und fuhr mit den Händen über den kühlen Stein, auf welchem er das gleichmäßig eingemeißelte Zahnmuster ertasten konnte. »Was soll ich nur tun, Guillaume? Wie kann ich vor diese Menschen treten und ihnen erklären, dass ich zwar vielleicht noch so aussehe wie der Alan of Helmsby von einst, aber ein vollkommen anderer geworden bin? Dass sie Fremde für mich sind. Dass ich selbst ein Fremder für mich bin.«
»Darüber würde ich mir an deiner Stelle keine Gedanken machen. Sie haben schon Verrückteres erlebt. Sie werden sich ein wenig wundern, und dann werden sie sich daran gewöhnen. Genau wie du.«
Alan hob den Kopf und sah ihn an. »Ich werde mich niemals daran gewöhnen. Und ich weiß nicht, wie ich an ein Leben anknüpfen soll, das nicht mehr das meine ist.«
Guillaume nickte. Sein Blick war voller Mitgefühl, aber es lag keine Herablassung darin, darum war er einigermaßen zu ertragen. »Du willst diesen Teufel mit dem Halseisen aus dem Verlies holen?«, fragte er schließlich.
»Wir müssen entweder das tun oder ihn töten. Aber dort lassen können wir ihn nicht.«
»Wie gefährlich ist er?«
»Gefährlicher als alles, was du dir vorstellen kannst. Es gibt Momente, da er mehr mit einem wilden Tier gemein hat als mit einer menschlichen Kreatur.«
»Und ich nehme an, er schuldet sein Leben?«
»Viele Male.«
»Und doch zögerst du, ihn zu töten. Warum?«
»Weil er sich mir anvertraut hat, genau wie die anderen.« In dem Moment, als er es aussprach, erkannte Alan, dass das tatsächlich der einzig wahre Grund war. Er glaubte nicht, dass es für Regy eine Rettung geben könne. Er glaubte auch nicht, dass irgendeine geheimnisvolle Verbindung zwischen ihnen bestand. Aber Regy war mit auf das Floß gestiegen, statt sich von den Palisaden zu stürzen, weil er beschlossen hatte, sich in Alans Obhut zu begeben. Dieses bedingungslose Vertrauen seiner Gefährten und die Tatsache, dass er sie bis hierher gebracht hatte, ohne einen zu verlieren, war das Einzige, was Alan vorzuweisen hatte. Helmsby, der Krieg zwischen Kaiserin Maud und König Stephen – all das zählte nicht, denn es waren die Taten eines anderen. Wirklich waren nur die Zeit auf der Insel und die Wanderschaft seit der Flucht von dort.
»Sie sind … ein ziemlich komischer Haufen«, bemerkte Guillaume behutsam. »Auf der Burg wird gerätselt, wie du an solche Gefährten kommst. Krüppel und Schwachsinnige. Früher hättest du ihnen ein paar Pennys hingeworfen und dich schaudernd abgewandt. Heute sind sie deine Freunde.«
»Sie sind besser, als man auf den ersten Blick meint«, antwortete Alan. »Wir haben zusammen überlebt. Unter … widrigen Umständen. Vielleicht so ähnlich wie Männer, die gemeinsam im Krieg waren. Das verbindet. Und die Leute auf der Burg sollten sich lieber an ihren Anblick gewöhnen. Denn wenn ich in Helmsby bleibe, bleiben auch meine Gefährten. So sie denn wollen.« Er wandte sich ab und ging ohne Eile zum Portal.
Guillaume schritt neben ihm einher. »Ich wollte dich nicht kränken. Aber ich dachte, du willst vielleicht wissen, was die Menschen denken.«
»Du hast recht. Ich will es wissen, und ich bin auch nicht gekränkt. Es ist im Übrigen keine große Überraschung, dass meine Gefährten hier unwillkommen sind. Das sind sie nämlich überall. Fast, jedenfalls«, schränkte er ein, weil ihm Josua ben Isaac in den Sinn kam. Er löste Conans Zügel von dem Holzbalken und streifte ihn dem Pferd über den Kopf. »Komm, lass uns ein Stück reiten, Cousin, wie du gesagt hast. Ich habe keine Erinnerung an dieses Land, also muss ich es neu kennenlernen.«
Simon fand Alan in der Halle. Es war früher Nachmittag, und nur wenige Menschen hielten sich in dem großen Saal auf; die meisten fanden an einem Frühlingssonntag Besseres zu tun. Mägde, Knechte und dienstfreie Wachen waren bei ihren Familien im Dorf oder im Burghof, wo die jungen Burschen auf der Wiese ein Turnier im Ringkampf austrugen.
Nur zwei alte Weiber saßen am unteren Ende der Tafel und tauschten Dorfklatsch aus. Oder vermutlich zerreißen sie sich eher die Mäuler über uns, ging Simon auf, denn die Gevatterinnen wurden verdächtig still, als sie ihn eintreten sahen.
Alan hatte sich rasiert und saubere Kleider angezogen: einen äußerst vornehmen Bliaut aus dunkelblauem Tuch mit langen Ärmeln, deren Enden mit Ranken aus matt schimmerndem Goldfaden bestickt waren. Der Schlitz am Halsausschnitt war mit einer schlichten, goldenen Fibel verschlossen. Unter dem ebenfalls bestickten Saum des wadenlangen Obergewandes schaute die etwas längere, sattgrüne Kotte hervor, die bis auf die knöchelhohen Schuhe reichte.
Alan saß mit einem Becher Wein an der hohen Tafel. Er hatte den Sessel ein Stück herumgedreht, sodass er ins Feuer schauen konnte. Allein Grendel leistete ihm Gesellschaft. Er saß neben ihm im Stroh, hatte den Kopf auf Alans Bein gelegt und ließ sich hinter den Ohren kraulen – die Augen vor Wonne zugekniffen.
Simon trat zu ihnen. »Sehr elegant«, bemerkte er.
»Danke. Ich habe ein Bad genommen, ob du’s glaubst oder nicht. Und nun komme ich mir vor wie verkleidet.«
Simon schüttelte den Kopf. »Du machst dich gut in der Rolle als Herr der Halle. Sie steht dir.«
Alan nickte versonnen. »Vielleicht gewöhne ich mich noch daran.« Er wies mit dem Weinbecher auf den freien Platz an seiner Seite, und Simon zog sich den Sessel ebenfalls herum, sodass sie einander gegenübersaßen.
»Du hast Regy umquartiert, habe ich gehört?«, fragte er.
»In die Dachkammer des Südturms. Guillaume hat es vorgeschlagen. Sie hat eine abschließbare Tür und einen dicken tragenden Pfeiler. Stabil genug für die Kette. Und zwei Fenster, die Regy Licht spenden, aber zu klein zum Herausklettern sind. Abgesehen davon, dass sie vierzig Fuß über dem Boden sind.«
»Das klingt nach einer guten Lösung. Ich bin froh, dass du ihn da rausgeholt hast. Der Henker mag wissen, warum eigentlich, denn er hat die Hölle auf Erden verdient. Aber es ist eine Sache, das zu glauben, eine andere, zu sehen, wie sie sich für ihn anfühlt.«
»Du warst bei ihm?«, fragte Alan erstaunt.
»Heute früh. Ich dachte, irgendwer muss ihm doch was zu essen bringen. Er lag am Boden und winselte. Ich hab ihn angesprochen, aber er hat mich nicht gehört. Oder zumindest so getan. Es ging ihm dreckig.«
»Ja.«
Sie sahen sich einen Moment schweigend an. Dann sagte Simon ein wenig verlegen: »Es ist seltsam. Seit wir hier sind, fühle ich mich … verantwortlicher für die anderen als vorher.«
»Es ist keineswegs seltsam. Das hier ist eine Welt, die du verstehst, sie nicht. Darum willst du auf sie achtgeben.«
»Aber das hast du immer gemacht.«
Alan nickte stumm. Er sagte nicht: Das kann ich jetzt nicht mehr, denn seit wir hier sind, fühle ich mich hilfloser als je zuvor in meiner Erinnerung. Aber selbst wenn Simon es nicht so recht verstehen konnte, hatte er so eine Ahnung, dass Alan genau das empfand.
Grendel öffnete die Augen, stand auf, reckte sich und gähnte herzhaft. Dann drehte er sich einmal um die eigene Achse, schien einen Moment zu überlegen und wählte schließlich Simons Oberschenkel als neues Kissen.
»Ich bin geehrt«, murmelte der junge Mann und zupfte ihn behutsam am Ohr. An Alan gewandt fuhr er fort: »Ich bin eigentlich gekommen, um dir zu sagen, dass ich morgen früh aufbreche. Ich weiß, dass dir das nicht gefällt. Aber deine Großmutter hat recht: Es gibt weit und breit niemanden außer mir, der diese Botschaft überbringen kann.«
»Doch es ist gegen deine Überzeugung. Du stehst auf König Stephens Seite. Warum solltest du seinem Rivalen aus der Klemme helfen?«
»Ich tu’s für Henry. Er ist ein guter Mann und war uns ein guter Gefährte. Und ich tu’s für dich. Denn auch wenn du es vergessen hast, kämpfst du für die Sache seiner Mutter und willst gewiss nicht, dass Henry König Stephen in die Hände fällt. Und ich tu’s für mich, wie du sehr gut weißt.«
»Ungefähr das Gleiche hat Regy auch gesagt«, berichtete Alan. »Und er ist der Meinung, dein Risiko sei akzeptabel. Ich habe nach wie vor kein gutes Gefühl bei dieser Sache, aber ich kann dich nicht hindern. Du bist ein freier Mann. Nur werde ich auf keinen Fall zulassen, dass du allein gehst. Helmsby hat eine hervorragende Burgwache, wurde mir versichert. Ich bin zuversichtlich, dass es ein Weilchen auf zwei oder vier seiner Wachen verzichten kann.«
»Und was genau sollen sie tun? Mir die Hand halten, wenn ich einen Anfall bekomme?«
»Sie sollen dich schützen. Dass du einmal allein und unbehelligt durch umkämpfte Gebiete gekommen bist, ist ein Wunder. Aber du solltest das Schicksal nicht herausfordern.«
»Vier Bauern in Kettenhemden gegen eine Armee von Stephens Haudegen? Oder Mauds?« Simon schüttelte den Kopf. »Ich habe eine andere Idee. Du müsstest mir allerdings den Karren und das brave Kaltblut in deinem Stall dafür borgen.«
Alan fand es immer noch höchst sonderbar, dass ihm überhaupt etwas gehörte, und da sein Besitz ihm gleichgültig war, fiel es ihm leicht, großzügig damit zu sein. »Du bekommst alles, was du brauchst. Sag mir, was du vorhast.«
»Ich werde Godric und Wulfric mitnehmen. Sie sind Feuer und Flamme. Wir werden uns als fahrendes Gauklervolk ausgeben. Sie sind schließlich ein Anblick, der jedem Jahrmarkt zur Zierde gereichen würde, nicht wahr? Obendrein können sie sogar auf den Händen laufen, wusstest du das?«
Alan nickte, und ein Lächeln huschte über sein Gesicht. »Das haben sie sich vorletzten Sommer beigebracht, als Jeremy kam. Er konnte es, und die Zwillinge …« Er hielt inne. »Da. Ich fange an, die Erinnerung an die Insel zu verklären, Simon. Das ist wirklich grotesk.« Ehe Simon etwas erwidern konnte, kam Alan auf ihr ursprüngliches Thema zurück. »Erklär mir, warum du sie mitnehmen willst.«
»Nun ja, es hat zwei Vorteile, denke ich: Niemand wird uns überfallen und ausrauben, ganz gleich, welch gesetzlosem Gesindel wir unterwegs begegnen, denn wir werden harmlos und arm aussehen. Und man wird uns in die Burg lassen, wo immer der König gerade sein mag, denn Gaukler sind in jeder Halle willkommen. Wenn wir den König gefunden haben, ziehe ich mich um, aus dem bettelarmen Gaukler wird Simon de Clare, und ich überbringe ihm die Botschaft.«
»Für die er dich nicht lieben wird«, betonte Alan noch einmal.
Simon schüttelte langsam den Kopf. »Ich glaube nicht, dass er mir die Sache verübeln wird. Aber falls ich mich irre, Alan …«
»Ja?«
»Solltest du Henry an einem sicheren Ort außerhalb von Helmsby verstecken. Für den Fall, dass das passiert, was du gesagt hast. Sie aus mir herausholen, wo er steckt, meine ich. Und deine Burg sollte verteidigungsbereit sein. Möglicherweise bringt das, was ich tue, den Krieg nach Helmsby.«
Alan drehte den Becher zwischen den Händen und starrte hinein. »Ich denke, ich sollte dich begleiten.«
»Das solltest du auf gar keinen Fall tun«, widersprach Simon, der genau gewusst hatte, dass sie an diesen Punkt kommen würden. »Was würde dann aus Oswald und den anderen? Außerdem ist die Gefahr viel zu groß, dass einer von Stephens Lords oder Rittern dich erkennt. Ich habe mich ein bisschen umgehört. Du bist ein ziemlich berühmter Mann. Oder berüchtigt, würde man in Stephens Lager wohl sagen. Der König hat eine lange Rechnung mit dir offen. Du kannst nicht einfach zu ihm gehen wie das Lamm zur Schlachtbank.«
»Nein. Du hast recht. Das wäre wahrscheinlich keine sehr kluge Idee.« Er seufzte leise. »Trotzdem. Die ganze Sache gefällt mir nicht, Simon. Warum konnte dieser verdammte Henry Plantagenet nicht in Anjou bleiben, wo er hingehört? Ich hoffe, wir werden nicht alle noch bitter bereuen, dass er sich in den Kopf gesetzt hat, König von England zu werden.«
Ein leiser Regen fiel und tauchte die Welt in graue Melancholie, als Simon und die Zwillinge sich am nächsten Vormittag auf den Weg machten.
»Was für wundervolles Reisewetter«, bemerkte Godric, und sein Bruder schnaubte belustigt. Sie hatten es sich mit Grendel auf der Ladefläche des altersschwachen wackligen Karrens bequem gemacht, wo unter ein paar löchrigen Decken und abgeschabten Fellen ihr Proviant, ein paar gute Waffen und ein kleiner Beutel mit Münzen versteckt lagen. Genau wie die feinen Kleider, mit denen Alan Simon ausgestattet hatte, damit der sich nicht schämen musste, wenn er vor seinen König trat.
Oswald hatte die Hände um die Seitenwand des Karrens gelegt und schaute blinzelnd zu den Zwillingen hoch. »Wo fahrt ihr denn hin?«, fragte er nicht zum ersten Mal.
»Zum König, stell dir das vor, Kumpel«, antwortete Godric mit einem breiten Grinsen. Eine Himmelsrichtung nannte er lieber nicht. Sie hatten nur eine vage Vorstellung, wo König Stephen derzeit zu finden war.
»Und wir … dürfen nicht mitkommen?«, wollte Oswald wissen.
Alan legte ihm kurz die Hand auf den Arm. »Nur Simon und die Zwillinge gehen. Wir anderen bleiben hier, lassen uns ordentlich füttern und sitzen am warmen Feuer. Das ist kein so schweres Los, oder?«
Oswald sah ihn an und schüttelte stumm den Kopf. Er bemühte sich, diesen Abschied so gelassen hinzunehmen wie alle anderen Gefährten, aber er war verwirrt. Alan wusste, der Zerfall der Gemeinschaft erfüllte Oswald mit Schrecken. Weil er nicht begreifen konnte, was vorging, argwöhnte er, dass auch alle anderen ihn bald verlassen würden und er allein zurückbliebe. Darum fügte Alan hinzu: »Simon, Godric und Wulfric haben eine Aufgabe zu erfüllen, die sie eine Weile von hier fortführt.«
»Aber sie kommen zurück?«, vergewisserte sich Oswald.
»Ja. Sie kommen zurück.« Gott, mach keinen Lügner aus mir und bring sie uns wieder, betete er. »Unsere Aufgabe ist hier. Wir müssen die alte Lady und Henry und alle anderen hier beschützen, verstehst du.«
Henry Plantagenet gab einen gedämpften Protestlaut von sich, sagte aber nichts. Er hielt den sanftmütigen Klepper, der vor den Karren gespannt war, und strich ihm ein wenig ruppig über die Stirnlocke. Sein Blick war auf Simon gerichtet, der auf dem Bock saß und den zu dünnen Mantel fester um sich zog. »Ich werde nie vergessen, was du für mich tust, de Clare.«
»Das will ich hoffen«, entgegnete Simon.
»Kehr ja heil zurück, hörst du. Ich würd mir nie verzeihen, wenn du uns abhanden kämest.«
»Wir passen schon auf uns auf.« Simon nahm die Zügel auf, um höflich anzudeuten, dass er diesem Abschied ein Ende machen und aufbrechen wollte. Über die Schulter fragte er: »Fertig?«
Die Zwillinge nickten. »Seit Ewigkeiten«, bekundete Godric.
Henry ließ das Pferd los, trat zurück und hob die Hand zum Gruß. »Geht mit Gott.«
Auch die anderen traten einen Schritt vom Wagen zurück. »Möget ihr auf eurem Weg Freunde finden, die Führung der Engel und das Geleit der Heiligen«, sagte Alan.
Die Zwillinge tauschten ein Grinsen. »Das hat Vater uns auch gesagt, als wir damals nach St. Pancras aufbrachen«, bemerkte Wulfric trocken.
Simon bedachte sie mit einem vorwurfsvollen Blick und nickte Alan zu. »Hab Dank für den Segen. Lebt wohl.« Er schnalzte dem Pferd zu, das sich gemächlich in Bewegung setzte und den alten Karren Richtung Torhaus zog.
Als er verschwunden war, fröstelte Alan plötzlich in der kalten Morgenluft. »Kommt«, sagte er und wandte sich entschlossen ab. »Sehen wir zu, dass wir ins Trockene kommen.«
»Wenn du erlaubst, gehe ich in deine Kirche und bete für die glückliche Rückkehr unserer Freunde«, sagte King Edmund.
»Nimm Oswald mit«, bat Alan. Er wusste nicht so recht, womit ein Gutsherr seine Tage füllte, aber ein Gefühl sagte ihm, dass der Steward schon wieder irgendwo auf ihn lauerte, um ihn mit seinen Aufgaben vertraut zu machen oder Entscheidungen von ihm zu verlangen, die Alan gar nicht überblicken konnte.
»Gewiss«, stimmte King Edmund zu. »Komm, Oswald. Wir gehen ein wenig beten, und auf dem Rückweg zeig ich dir eine Weide voller Lämmer, was sagst du dazu?«
Oswald strahlte. »Ich bin dabei.«
Auch Luke schloss sich ihnen an. Alan hatte schon bemerkt, dass der alte angelsächsische Bauer sich in der Halle der Burg unwohl fühlte und jede Gelegenheit nutzte, ihr zu entfliehen. Irgendwann würden sie überlegen müssen, was aus den Mitgliedern der Gemeinschaft werden sollte, wusste er. Auf ihrem Ritt durch Helmsby und die nähere Umgebung am Vortag hatte Guillaume ihm berichtet, dass das Fieber des vergangenen Winters eine alteingesessene Pächterfamilie vollständig ausgelöscht hatte, deren Land nun unbestellt lag und deren Haus im Dorf leer stand. Irgendein Nachbar habe Interesse bekundet, die Scholle zu übernehmen. Aber Alan hatte augenblicklich an die Zwillinge gedacht. Sie brauchten ein Stück Land, um sich eine neue Existenz aufzubauen, und ihm gefiel der Gedanke, dass er es ihnen geben konnte. Blieben noch Luke, Oswald und King Edmund, für die er eine Lösung finden musste. Von Regy ganz zu schweigen …
»… darum schätze ich, dass wir sie so ungefähr in zwei Wochen zurückerwarten können, oder was meinst du?«, drang Henrys Stimme in seine Gedanken.
Alan sah ihn spöttisch an. »Sie sind kaum zum Tor hinaus, und schon plagt dich dein Gewissen und du wünschst, sie wären zurück? Ich glaube, wenn du König werden willst, brauchst du ein dickeres Fell.«
»Entscheidend ist, dass ich in der Lage bin, zu tun, was getan werden muss, oder?«, konterte Henry angriffslustig. »Und wie ich mich dabei fühle, ist ganz allein meine Angelegenheit, Monseigneur.«
»Das ist wahr«, räumte Alan ein.
Das Frühstück in der Halle war längst vorbei, und nur ein paar dienstfreie Wachen und Tagediebe hielten sich dort auf. Alan hörte, dass sie sich über einen fahrenden Spielmann unterhielten, der am Sonnabend ins Dorf gekommen war und Spottlieder auf Stephen und Maud gesungen hatte. Äußerst treffende Spottlieder, so schien es, denn die Wachen lachten bei der Erinnerung immer noch in ihr Ale.
»Und was machen wir nun?«, fragte Henry und schüttelte sich wie ein Hund, sodass kleine Wassertropfen aus seinem Rotschopf geschleudert wurden. »Ich hatte gehofft, du und ich könnten ein Stündchen trainieren. Ich bin schon ganz saft- und kraftlos vom seligen Nichtstun. Aber bei dem Wetter werden ja die Schwerter rostig.«
»Gegen ein bisschen Bewegung hätte ich auch nichts«, bekannte Alan. »Ich denke, dass es noch aufklart. Lass uns bis heute Nachmittag warten.«
»Abgemacht. Kann ich mir eins von deinen Pferden ausborgen? Ich will ein Stück reiten.«
»Nimm Conan. Er hat ein genauso leicht entflammbares Temperament wie du – ich bin sicher, ihr werdet euch prächtig verstehen. Aber verirr dich nicht wieder.«
»Erlaube mal …« Kopfschüttelnd machte Henry kehrt, und Alan stieg die Treppe hinauf, um sich in seiner Kammer zu verkriechen und ein bisschen auf der Laute zu spielen.
Aber daraus wurde nichts. Seine Großmutter öffnete die Tür zu ihrem Gemach, als er vorbeikam – ganz gewiss kein Zufall –, und hielt sie ihm einladend auf.
Er betrachtete sie einen Moment. Das weiße Couvre-chef wurde heute von einem goldenen Stirnreif gehalten, und die alte Dame wirkte erhabener denn je. Das macht sie absichtlich, schloss er, während er wortlos über die Schwelle trat.
»Bist du mir noch gram?«, fragte sie ohne Vorrede.
»Und wenn es so wäre?«, entgegnete er und setzte sich ungebeten auf den gleichen Schemel wie zuvor. »Du hast bekommen, was du wolltest. Das ist es, was zählt, oder?«
Sie schwieg einen Moment. Schließlich antwortete sie zögernd: »Weißt du, ich habe hier drei Jahre lang die Entscheidungen getroffen, von denen ich glaubte, sie seien in deinem Sinne. Nichts anderes habe ich gestern getan. Aber wahrscheinlich war es nicht recht von mir zu denken: Der alte Alan würde dieses Vorgehen billigen, also muss ich den heimgekehrten, veränderten Alan vor ein Fait accompli stellen. Ungeduld war immer meine größte Schwäche. Alle Fehler, die ich in meinem Leben gemacht habe – und das waren viele, mein Junge, glaub mir –, habe ich begangen, weil ich nicht warten konnte. Aber ich bin nicht das gefühllose, herrschsüchtige Ungeheuer, für das du mich wahrscheinlich hältst.«
Er sah verblüfft auf und war erstaunt, ein schmerzliches Lächeln auf ihrem Gesicht zu finden. Er ließ sich indessen nicht davon besänftigen. »Ich weiß nicht, wer oder was du bist, und ich maße mir kein Urteil an«, gab er kühl zurück. »Aber wenn Simon de Clare nicht zurückkommt, werde ich dir das niemals verzeihen.«
Ihre Augen verengten sich ein wenig, als habe ein unerwarteter Schmerz sie durchzuckt. »So teuer ist er dir?«, fragte sie.
Er nickte. »Ich erwarte nicht, dass du das verstehst. Aber diese Menschen, die mit mir hergekommen sind, sind alles, was zwischen mir und dem Abgrund steht. Ich kann es mir nicht leisten, verschwenderisch mit ihnen umzugehen.«
»Eigenartig. Früher hast du niemanden gebraucht. Du warst der einzige wirklich unabhängige Mensch, den ich je kannte. Ich habe immer geglaubt, es liege daran, dass du ein so einsames Kind warst. Denn das warst du. Ich habe getan, was ich konnte, um dir Vater und Mutter und Geschwister zu ersetzen, aber natürlich konnte ich das nur bis zu einer gewissen Grenze. Du hast auch nie zugelassen, dass jemand diese Grenze überschritt.«
Ich glaube, daran hat sich wenig geändert, fuhr es Alan durch den Kopf. Doch was er sagte, war: »Ich bin hier aufgewachsen? In Helmsby?«
Sie nickte. »Wo sonst? Es war und ist dein Zuhause. Dein Eigentum.«
»Aber wie ist das möglich?«, fragte er. »Wie kann ich Helmsby geerbt haben, wenn ich William Æthelings Bastard bin? Gab es keinen legitimen Erben?«
»Mein Bruder Richard und seine beiden Söhne waren gestorben, wie ich schon sagte«, antwortete sie. »Und König Henry wusste, dass du sein Enkel warst. Er hat dich ebenso großzügig versorgt wie seine eigenen Bastarde und dir Helmsby als königliches Lehen gegeben. Du bist ein Kronvasall, Alan.« Sie sagte es mit unüberhörbarem Stolz.
Er nickte wortlos, und sein Blick fiel auf den Stickrahmen, der neben dem Tisch stand und an dem Matilda offenbar gearbeitet hatte, ehe er gekommen war. Ein helles Leinentuch war eingespannt, die Stickerei darauf gerade erst begonnen. Eine Kohlezeichnung verriet, was das Bild einmal darstellen sollte. Alan unterdrückte mit Mühe ein Schaudern: Es war das Martyrium des heiligen Edmund.
»Es ist für die Kirche in Bury, wo er begraben liegt”, erklärte Matilda, die seinem Blick gefolgt war.
»Es wird großartig«, befand Alan.
»Das will ich hoffen. Der Abt hat es bereits bezahlt. Wie ich höre, ist einer unter deinen Gefährten, der mir bezüglich meiner bildlichen Darstellung mit unvergleichlichem Detailwissen zur Seite stehen könnte?«
Alan lächelte wider Willen. »Ich schwöre dir, wenn du ihn seine Geschichte erzählen lässt, kommst du ins Grübeln, Großmutter. Er ist ungeheuer überzeugend.«
»Auf jeden Fall glauben die Bauern ihm. Er hat gestern Abend ein ziemliches Spektakel im Dorf veranstaltet, berichtete man mir.«
»Und wenn schon.«
»So etwas sorgt für Unruhe unter den Menschen. Du solltest das unterbinden.«
Er hob gleichgültig die Schultern. »Ich bin in keinerlei Position, ihm Vorschriften zu machen, und ich sehe auch keine Veranlassung dazu. Er ist harmlos.«
Sie stieß hörbar die Luft aus. »Die drei Brüder aus Ely sind besorgt deswegen.«
»Den drei Brüdern aus Ely steht es frei, nach Hause zu gehen, wenn ihnen hier irgendetwas nicht passt«, beschied er. »Da Geoffrey de Mandeville tot ist, besteht eigentlich kein Anlass, dass wir sie weiterhin hier durchfüttern, oder?«
Sie überlegte einen Augenblick. »Nein«, räumte sie dann ein und überraschte ihn mit einem verschwörerischen Lächeln. »Eigentlich nicht. Sie zieren deine Kirche und helfen Guillaume mit den Pachtverzeichnissen, aber sie sind alles andere als unentbehrlich.« Dann beugte sie den Kopf über ihre Arbeit, fädelte einen blauen Faden in die Nadel und begab sich daran, das Gewand des armen Märtyrerkönigs zu sticken.
»Sie haben ihm die Kleider weggenommen, sagt King Edmund«, bemerkte Alan.
»Um ihrem Opfer die Würde zu stehlen und es dadurch zu demoralisieren?«, fragte sie, ohne aufzuschauen.
»Ich nehme es an.«
»Hm. Aber ich habe Zweifel, dass der Abt einen nackten Märtyrer auf seinem Wandteppich haben möchte.«
Alan biss sich auf die Unterlippe. »Mir scheint, du bist überaus respektlos, Großmutter.«
»Das ist der einzige Luxus, den das Alter zu bieten hat: Ich kann es mir leisten, respektlos zu sein. Niemand würde es je wagen, mich zurechtzuweisen. Was macht Henry?«
»Er ist ausgeritten.«
Sie sah über den Rand des Stickrahmens. »Allein? Dieser dumme Junge stellt Gott wahrhaftig auf eine Geduldsprobe.«
»Ja, das scheint ihm großes Vergnügen zu bereiten.«
»Ich hoffe nur, er nimmt nicht die Straße nach Maldon, denn sie führt an Ashby vorbei, und das gehört einem von Stephens treuesten Rittern.«
»Maldon …«, wiederholte Alan versonnen.
»Was ist damit?«
»Ich … habe vor einigen Tagen einen Bericht über eine uralte Schlacht bei Maldon gelesen.«
»Ah. Die Fertigkeit des Lesens hast du also nicht vergessen.«
»Nein.«
»So wenig wie das Lautenspiel. Das ist gut.«
»Es waren … kraftvolle Worte. Sehr eindringlich. Und sie kamen mir seltsam vertraut vor. Der Mann, in dessen Haus ich das las, war ein gelehrter Jude. Und er hat gesagt, ich müsse nach meinen Erinnerungen graben. Ich frage mich, ob Maldon der richtige Ort wäre, um damit anzufangen.«
Matilda ließ die Hände sinken und schenkte ihm ihre volle Aufmerksamkeit. »Ich denke, es ist eher das Gedicht als der Ort, der an deine Erinnerung gerührt hat. Wir haben hier eine Abschrift davon.«
»Wirklich? Kann ich sie sehen?«
Seine Großmutter stand auf, ging zu der Truhe, die halb hinter dem Bett verborgen stand, öffnete scheinbar mühelos den schweren Deckel und kehrte kurz darauf mit einem dicken Buch zurück. »Nimm es nur an dich. Ich hatte ohnehin vor, es dir zu geben. Vieles, was du wissen willst, steht darin.«
Er nahm es ihr aus den Händen, legte es auf den Tisch und schlug die erste Seite auf. »Die Geschichte der Normannen, Engländer und Dänen vor und nach der Eroberung. Von Leif Guthrumson«, las er murmelnd.
Matilda nickte. »Meine Tante Hyld war mit einem dänischen Seefahrer verheiratet. Dieser Leif war sein Bruder, und er war Ritter bei Hofe. Er hat alles aufgeschrieben. Auch alles, was in Helmsby geschah. Lies es, Alan. Lies es, und du wirst verstehen, wer du bist, selbst wenn du dich vielleicht noch nicht jetzt gleich erinnerst.«
Alan klappte das Buch zu und strich nachdenklich über den gepflegten Ledereinband, während seine Großmutter zur Truhe zurückging, um den Deckel zu schließen und – wie er interessiert beobachtete – mit einem Schloss zu sichern.
Als Matilda sich aufrichtete, fiel ihr Blick aus dem Fenster, und sie zischte: »Gott verflucht. Wie hat er nur so schnell davon erfahren?«
Alan sah auf. »Unliebsamer Besuch?«
Sie gab einen Laut des Unwillens von sich. »Dieser verdammte Spielmann muss weiter nach Fenwick gezogen sein …«
Alan kam die Frage in den Sinn, ob sie absichtlich seine Neugier weckte und ihn ans Fenster locken wollte. Falls ja, musste er ihr diesen kleinen Sieg gönnen, denn er war neugierig. Er erhob sich und trat zu ihr.
Ein sehr fein gekleideter Mann etwa in seinem Alter war in die Burg eingeritten, und aus allen Richtungen eilten Wachen und Knechte herbei, um ihn zu begrüßen und seinen Steigbügel zu halten. An seiner Seite ritt eine junge Dame in einem feinen, lindgrünen Umhang. Als sie die Kapuze zurückschlug, enthüllte sie unter einem hauchzarten Schleier eine Haarpracht von einem so ungewöhnlichen Weißblond, dass es den Betrachter selbst unter dem grauen Himmel zu blenden schien.
»Wer ist das?«, fragte Alan interessiert.
»Haimon de Ponthieu. Er ist mein Enkel so wie du. Dein Cousin und nächster Nachbar.« Es war unüberhörbar, dass sie keine große Zuneigung für Haimon hegte.
»Mit seiner Gemahlin?«, fragte Alan weiter.
Matilda wandte den Kopf und sah ihn an. »Nein. Mit deiner.«