Norwich, Juni 1147

Alan hatte ein kleines Loch in der Bruchsteinmauer entdeckt, welche die besonders schutzbedürftigen Kräuterbeete vom restlichen Garten trennte. Er musste nur auf einen Vorsprung in der unteren Steinreihe steigen, um hindurchspähen zu können, und auf diese Art und Weise erhaschte er so manchen Blick auf das jüdische Leben, das wegen des sommerlichen Wetters zu nicht geringem Teil im Garten stattfand.

Manche der Gebräuche hatten ihn anfangs erschreckt. So fanden Ruben, Josua und dessen erwachsener Sohn David sich zum Beispiel jeden Morgen im Garten zum Gebet ein. Ehe sie begannen, legten sie sich gestreifte Tücher um die Schultern. Das ging ja noch. Aber dann holte jeder zwei seltsame kleine Schachteln hervor, von denen sie sich eine mit den herabbaumelnden Lederriemen vor die Stirn banden, die andere um den linken Unterarm. Dann fingen sie an, die Oberkörper vor- und zurückzuwiegen, und beteten. Es sah höchst sonderbar aus. Sie beteten lange und in tiefer Inbrunst, und das weckte jeden Morgen aufs Neue die Sehnsucht nach einer Kirche und dem Trost der heiligen Messe in Alan. Vor allem jedoch hätte er zu gerne gewusst, welchem Zweck die seltsamen Schachteln dienten. Aber natürlich konnte er Josua nicht fragen, ohne die Existenz seines Gucklochs zu verraten. Und das wollte er auf keinen Fall riskieren, denn es verging kein Tag, ohne dass er einen Blick auf Miriam erhaschte. Miriam mit einer Schüssel Erbsen auf der Bank oder bei der verbotenen Gartenarbeit, Miriam einsilbig im höflichen Gespräch mit ihrer Schwägerin oder übermütig mit ihrem kleinen Bruder. Aus der Ferne lernte er sie besser kennen, den Ausdruck auf ihrem Gesicht zu deuten, und die Geste, mit der sie sich das Kopftuch hinters Ohr steckte, wurde ihm vertraut.

Er wusste nicht, wie er die Tage und Nächte in Josuas Kräuterlager ohne diese heimlichen Freuden überstanden hätte, denn sie waren schwer und düster. Jeden Tag außer am Sabbat war Josua mit einem Becher zu ihm gekommen. Jeden Tag hatte er die Zusammensetzung des Tranks verändert. Doch der Besuch in der verwunschenen Oase verlief immer mit dem gleichen unbefriedigenden Ergebnis, und sie waren noch keinen Schritt weitergekommen.

Am zehnten Tag der Behandlung schließlich kam Josua ohne den Becher.

Alan wusste, was das hieß. Er hatte es kommen sehen, aber trotzdem musste er sich stählen, um die Frage zu stellen: »Wir geben auf?«

Wie so oft ließ der Arzt sich ihm gegenüber auf dem Boden nieder. Er sah ihm forschend ins Gesicht, ehe er antwortete. »Wir geben nicht auf. Aber so wie bisher können wir nicht weitermachen.«

»Warum nicht?«, fragte Alan. »Ihr habt gesagt, es braucht Zeit.«

»Ich weiß. Aber ich wage nicht, Euch länger meinen Trank zu geben. Er kann von großem Wert und Nutzen sein, aber seine Natur ist böse. Giftig, könnte man auch sagen. Ihr habt es ja am eigenen Leib gespürt. Und Ihr werdet von Tag zu Tag kränker.«

Alan winkte ungeduldig ab. »Unsinn. Nur Schwindel und Muskelkrämpfe, und nach ein paar Stunden ist alles vorbei. Ich fühle mich großartig und …«

»Das tut Ihr nicht«, unterbrach Josua streng. »Und weil der Trank böse ist, muss man immer wachsam und argwöhnisch sein, wenn man sich seiner bedient. Er gaukelt Euch vor, kurz vor dem Ziel zu sein, aber in Wahrheit treten wir auf der Stelle.« Er unterbrach sich und atmete tief durch. »Es fällt mir nicht leicht, das einzugestehen, glaubt mir. Aber wenn wir uns von dem Trank verführen lassen, weiterzumachen, dann kann es passieren, dass er Euch befällt wie ein Dämon und Ihr nicht mehr von ihm loskommt. Nur noch in seiner Welt leben wollt. So wie ein Trunkenbold es irgendwann nicht mehr erträgt, wenn sein Geist nicht vom Wein vernebelt ist, versteht Ihr mich?«

Alan hatte ihm mit zunehmendem Schrecken gelauscht. Er nickte unwillig.

»Das darf ich nicht zulassen. Darum müssen wir diese Behandlung abbrechen.«

»Und … und gibt es nichts anderes, was Ihr versuchen könntet?«

»Doch«, antwortete Josua, und Alan sah, dass dem Arzt unbehaglich zumute war. »Zwei der Gelehrten beschreiben eine Behandlungsmethode gegen die Melancholia, die sie mit beachtlichem Erfolg angewendet haben. Manche der Überlebenden waren geheilt.«

»Das klingt vielversprechend«, spöttelte Alan, um seine Nervosität zu verbergen. »Was ist es? Raus damit.«

Josua legte ihm die Hände um den Nacken, als wolle er ihn an sich ziehen. Alan hatte sich daran gewöhnt, dass der Arzt ihn ohne Vorwarnung anfasste; sein Körper hatte gelernt, diesen Händen zu vertrauen, und zuckte nicht zurück. Mit Zeige- und Mittelfingern ertastete Josua die Vertiefungen links und rechts der Nackenwirbel gleich unterhalb des Schädelknochens. »Da«, sagte er. »An diesen Stellen treibt man glühende Stahlstifte ins Fleisch, so tief es geht, auf beiden Seiten gleichzeitig.«

Er ließ ihn los, sank zurück gegen die Wand und sah seinen Patienten an.

Alan dachte eine Weile nach. »Was genau tun diese Stahlstifte, dass sie einen Kranken heilen können?«, fragte er schließlich.

»Sie versetzen ihm einen Schock, der das Gleichgewicht der Körpersäfte schlagartig wiederherstellen kann.«

»Und wie stehen die Chancen?«

»Ich bin nicht sicher«, bekannte Josua. »In einem der Berichte steht, von neun Patienten seien fünf gestorben, drei geheilt worden, bei einem sei der Zustand unverändert geblieben. Aber nicht alle Gelehrten sind und waren immer absolut aufrichtig mit ihren Zahlen, versteht Ihr. Manchmal erweist sich die Versuchung, eine selbst erfundene Heilmethode über Gebühr zu preisen, als zu mächtig. Und ich habe persönlich keine Erfahrung mit dieser Vorgehensweise.«

»Aber Ihr wäret bereit, es zu versuchen?«

Der Arzt antwortete nicht sofort.

Alan zog die Brauen in die Höhe. »Ihr werdet mir doch nicht zimperlich, Josua?«

Der schenkte ihm ein gefährliches Lächeln. »Davon träumt Ihr höchstens, mein Junge.« Dann wurde er wieder ernst. »Nein. Ich bin nicht zimperlich. Ich bin bereit, es zu versuchen, wenn es Euer Wunsch ist, aber erst, wenn Ihr von Eurer Reise zurückkommt.«

»Welche Reise?«, fragte Alan verdutzt.

»Nach Bristol. Ihr müsst den Earl of Gloucester aufsuchen. Er hält den Schlüssel zu Eurem Gedächtnis, ich bin sicher.«

Alan schüttelte mutlos den Kopf. »Ich wünschte, Ihr würdet mir die Dinge berichten, die ich in der Oase gesehen habe und beim Aufwachen wieder vergessen hatte.«

»Nein«, erwiderte Josua kategorisch. Sie führten diese Debatte nicht zum ersten Mal. »Es würde Euch nur verwirren, statt Euch zu helfen.«

Mit Mühe hob Alan den Blick. »Ich habe furchtbare Dinge getan, nicht wahr? Darum wollt Ihr es mir nicht sagen.«

Josua schüttelte den Kopf, untypisch geduldig. »Ihr habt furchtbare Dinge erlebt

»Aber sagt mir, wieso sollte ich in Bristol wiederfinden, was ich nicht einmal zu Hause in Helmsby zurückerlangen konnte?«

»Weil man immer dort anfangen sollte zu suchen, wo man eine Sache verloren hat, denkt Ihr nicht?«

Bei Dämmerung hatte der fröhliche junge Bursche ihm das Essen gebracht, aber Alan verspürte keinen Appetit. Ganz gleich, was Josua sagte; die Behandlung war gescheitert. Gewiss konnte Alan nach Bristol reiten, um dort nach seinem Gedächtnis zu suchen. Er hätte auch vor den glühenden Stahlstiften nicht zurückgeschreckt, obwohl er sich natürlich davor fürchtete. Er war so weit, dass ihm jedes Mittel recht schien. Aber Tatsache blieb: Die Methode, auf die Josua seine größten Hoffnungen gesetzt hatte, hatte versagt.

Lustlos schob Alan sich einen Löffel in den Mund, kaute und schluckte. Dann schenkte er dem Inhalt der Schale seine ungeteilte Aufmerksamkeit und leerte sie mit Genuss. Kein Zweifel, die Juden verstanden sich auf gutes Essen. Sie hatten Speisegesetze, die unglaublich kompliziert waren und ihm teilweise völlig absurd erschienen, aber er musste zugeben, aus dem Wenigen, was sie essen durften, zauberten Miriam und ihre Schwägerin die schmackhaftesten Gerichte. Heute Abend zum Beispiel hatte er einen Eintopf aus Kohl und Lamm bekommen, gewürzt mit fremden, wohlschmeckenden und, so argwöhnte er, sündhaft teuren Gewürzen, die dem Mahl ein völlig unbekanntes Aroma verliehen, und dazu ein Stück Fladenbrot. Es wurde ohne Milch hergestellt, wusste er, denn Milch und Fleisch zusammen zu verzehren war aus irgendwelchen sonderbaren Gründen verboten, aber er liebte dieses Brot. Und heute war das letzte Mal, dass er es aß.

Nachdem er sein Mahl vertilgt hatte, stieg er auf den Vorsprung in der Mauer und spähte durch sein geheimes Guckloch. Wie erwartet versammelte die Familie sich gerade erst zum Essen. Sie hatten einen langen Tisch mit Bänken auf den Rasen gestellt, und nachdem alle Schalen, Becher und Krüge aufgetragen waren, setzten auch Miriam, ihre Schwägerin Esther und die junge Magd sich an den Tisch. Die Unterhaltung verstummte, als Josua ein Stück Brot ergriff und ein Gebet sprach. Es war zu weit weg, als dass Alan ihn hätte verstehen können, und obendrein war es Hebräisch, aber er hatte herausbekommen, was es hieß: Gepriesen seiest du, o Herr, Schöpfer der Welt, der du uns Brot aus der Erde spendest.

Der Hausherr wiederholte den Segen mit dem Wein. Dann begann die Familie zu essen. Alan beobachtete, wie Josua sich mit dem kleinen Moses unterhielt, Ruben mit Miriam und David und Esther verstohlene, verliebte Blicke tauschten. Eine unerwartet heftige Sehnsucht überkam ihn, dazuzugehören. Sie hatten ihre Sorgen und Streitereien wie andere auch, wusste er, aber dies waren gute Menschen. Eine starke Familie. Wenn es ihm nun nicht gelang, Alan of Helmsby zu sein, warum zum Henker konnte er dann kein Jude werden?

Aber sogleich rief er sich zur Ordnung. Es war sinnlos, sich zu bemitleiden und nach Dingen zu sehnen, die nicht sein konnten. Es schadete nur, weil es einen Mann schwach machte. Josua hatte recht: Er musste weiterziehen und sich auf die Suche nach seinem verlorenen Selbst machen. Morgen bei Sonnenaufgang würde er gehen. Und gerade weil er wusste, dass es das letzte Mal war, blieb er auf seinem Lauerposten und beobachtete Josua und die Seinen ohne alle Scham, bis es dunkelte und die Tafel aufgehoben wurde.

Das vertraute Knarren der Tür weckte ihn, und wie immer war Alan sofort hellwach. Aber er schreckte nicht hoch, die Hand am Dolch, noch ehe er die Augen ganz geöffnet hatte, wie er es in der Wildnis und auch in Helmsby getan hatte.

Er schlug lediglich die Lider auf, und sein Blick fiel auf eine Gestalt im Türrahmen. Ein Strahl silbriges Mondlicht, der durchs Fenster des Behandlungsraumes schien, beleuchtete sie von hinten und zeigte sie als Schattenriss.

»Woher hast du den Schlüssel?«, fragte er leise.

Sie schien für einen Moment zu erstarren. »Du bist wach«, wisperte sie. Es klang eine Spur erschrocken.

Langsam, um sie nicht zu verscheuchen, setzte er sich auf. »Komm trotzdem herein«, bat er.

Miriam trat über die Schwelle. Lautlos zog sie die Tür hinter sich zu. »Ich habe meinem Vater den Schlüssel gestohlen«, bekannte sie unbehaglich. »Er hatte ihn ziemlich gut versteckt, aber Moses wusste, wo. Es gibt einfach kein Geheimnis, das vor Moses sicher ist.«

Alan gab keinen Kommentar ab.

Sie trat näher und blieb vor ihm stehen. »Ich wollte dich noch einmal sehen, ehe du fortgehst.«

Er hatte kühl und distanziert sein wollen, denn er fürchtete sich davor, ihr noch einmal ins offene Messer zu laufen. Aber es erwies sich als unmöglich, als sie ihm plötzlich so nahe war. Mit einer blitzschnellen Bewegung ergriff er ihre Hand und drückte sie einen Augenblick an die Stirn. Die Hand war rau, filigran, warm und trocken. Und sie duftete nach Rosmarin – ein Geruch, der ihm ausnahmsweise bekannt war. Statt sie loszulassen, was eigentlich seine Absicht gewesen war, zog er Miriam zu sich herunter, bis sie neben ihm auf dem weichen Strohlager saß. Die Tür zum Kräutergarten stand offen, und auch wenn der volle Mond auf der Vorderseite des Hauses schien, machte er die Nacht doch hell. Jetzt, da sie einander so nahe waren, konnten sie sich erkennen. Miriam betrachtete ihn einen Moment mit unbewegter Miene, dann hob sie die Arme, verschränkte sie in seinem Nacken und presste die Lippen auf seine.

Das war das Letzte, womit Alan gerechnet hatte. Er riss die Augen auf, dann umfasste er Miriam, zog sie enger an sich, bis sie auf seinem Schoß saß, legte den linken Arm um ihren Leib und küsste sie mit Hingabe, während seine rechte Hand verstohlen aufwärtswanderte und ihre Brust fand. Durch die dünnen Tuchlagen von Ober- und Untergewand fühlte er eine apfelrunde, feste Mädchenbrust, die ihn mit solcher Begierde erfüllte, dass er einen Moment lang fürchtete, er könne nicht mehr atmen.

Miriam zog scharf die Luft ein, als sie seine Hand fühlte, doch sie löste sich nicht von ihm, im Gegenteil, ihr Kuss wurde wagemutiger. Ihre Zunge war unerfahren, aber gelehrig. Die kleinen rauen Hände glitten neugierig über Alans Schultern und seine Arme hinab, dann zu seiner nackten Brust.

Er beugte sich über sie, beinah unmerklich und immer nur ein kleines Stückchen, sodass ihr Oberkörper weiter und weiter nach hinten gebogen wurde, und unterdessen raffte seine Hand ihren Rock. Sie machte das ausgesprochen geschickt, diese Hand, geradezu unauffällig, und todsicher nicht zum ersten Mal. Kein Zweifel, seine Hand wusste, wie man einer Jungfrau unter den Rock kroch.

Die Erkenntnis traf ihn unvorbereitet − wie ein tückischer Schlag, den man nicht kommen sehen konnte. Sie änderte nichts an seiner Gier, dem schmerzhaft prallen Glied, dem Gefühl, dass nichts und niemand in der Welt ihn jetzt noch aufhalten konnte. Aber sie brachte ihn aus dem Konzept. Die Hand hielt inne, und die andere, die behutsam die knospende Brust streichelte, kam aus dem Rhythmus.

Miriam spürte die Veränderung augenblicklich. Sie erwachte aus ihrem tranceartigen Zustand, öffnete die Augen und löste die Lippen von seinen. »Was ist denn?«, flüsterte sie.

Alan sah ihr verwirrtes, vertrauensvolles Lächeln. Abrupt ließ er sie los, stieß sie beinah roh von sich, stand so eilig vom Bett auf, dass er über eine Decke stolperte, und brachte ein paar Schritte Abstand zwischen sie. Dann stand er schwer atmend mit dem Rücken zu ihr, eine Hand am Stützbalken, als wünsche er, er wäre wieder daran gefesselt wie so häufig in den vergangenen Tagen. »Vergib mir, Miriam.« Es klang heiser. Die Stimme eines Fremden. Aber genau das war er ja: sich selbst fremd.

»Was soll ich dir vergeben?«, fragte sie verständnislos.

Er hörte das Rascheln von Stroh und hob warnend eine Hand, ohne sich umzuwenden. »Bleib, wo du bist. Nur noch einen Moment, sei so gut.« Denn mir ist nicht zu trauen. Wenn auch nur dein kleiner Finger mich berührt, ist alles zu spät.

Sie befolgte seine Bitte, fragte aber: »Habe ich etwas falsch gemacht? Bist du mir böse?«

Ihre naive Besorgnis rührte ihn, und er biss sich auf die Unterlippe, um nicht zu lachen. »Du hast nichts falsch gemacht«, versicherte er mit einem kurzen Blick über die Schulter. Miriam saß auf seinem Strohlager, die Beine untergeschlagen, die Hände im Schoß − vollkommen ungeziert und doch von königlicher Grazie. Er sah lieber wieder weg. »Weißt du, wozu es führt, wenn ein Mann und eine Frau allein im Dunkeln sind und sich küssen so wie wir gerade eben?«, fragte er.

»Natürlich. Aber anständige Männer tun es nur, wenn sie mit der Frau verheiratet sind, hat Gerschom gesagt, darum weiß ich, dass ich von dir nichts zu befürchten habe.«

Standhafter Gerschom, dachte Alan grimmig. Du hast offenbar über weit mehr Selbstbeherrschung verfügt als ich, wer immer du gewesen sein magst … »Was bringt dich auf den Gedanken, ich könnte ein anständiger Mann sein? Bin ich nicht ein Ungläubiger? Ein Goj, wie Moses sagt?«

»Das eine schließt das andere nicht aus«, entgegnete sie entschieden. »Ich weiß es, weil du Dinge tust, auf die Gott mit Wohlgefallen blickt – Goj oder nicht. Du hast meinen Bruder vor diesen fürchterlichen Gassenjungen gerettet und Geduld mit ihm gehabt, als er geweint hat. Und du beschützt deine Gefährten und sorgst für sie, obwohl sie sicher oft eine große Bürde sind. Das ist eine Art von Anstand, der in der Welt rar geworden ist, sagt mein Vater.«

»Sieh an …« Alan fiel aus allen Wolken. Und er erkannte, dass das Urteil dieses Juden ihm mehr bedeutete, als er für möglich gehalten hätte. Sein Mund war staubtrocken. Immer noch sang das Blut in seinen Ohren. Aber er hatte sich wieder unter Kontrolle. Langsam drehte er sich zu ihr um, lehnte sich an den Stützbalken und verschränkte die Arme. »Erzähl mir von Gerschom«, bat er sie. »Was ist passiert?«

Miriam senkte den Kopf. Die Finger der Rechten zupften einen Strohhalm von der wollenen Decke, auf der sie saß, und sie wickelte ihn um den Zeigefinger der Linken. Es war lange still. Aber Alan wartete geduldig. Er war vollauf damit zufrieden, sie anzusehen, die Rundung ihrer Schulter zu betrachten, den Ansatz des Schlüsselbeins, den der Ausschnitt ihres Kleides freiließ. Hätte sie nackt und mit offenem Haar vor ihm im Stroh gelegen und ihm einladend die Schenkel geöffnet, hätte er kaum verrückter nach ihr sein können. Es stand unverändert schlimm um ihn. Aber jetzt würde er es nicht mehr tun, wusste er. Er bückte sich, hob seinen Bliaut vom Fußende auf und streifte ihn über. Eine unzureichende Brünne gegen Miriams verführerischen Liebreiz, aber besser als nichts. Und immerhin verdeckte das Gewand halbwegs, was sich in seinen Hosen abspielte.

»Er kam aus York«, begann Miriam, ohne den Blick von ihrem Strohhalm abzuwenden. »Unsere Familien kennen sich seit vielen Generationen, und die Ehe wurde vermittelt, als ich acht oder neun war. So ist es bei uns üblich.«

»Bei uns auch.«

Miriam nickte. »Gerschoms Familie handelt mit Edelsteinen, und ihre Hauptniederlassung ist in Konstantinopel. Dort sollten wir nach unserer Hochzeit hinziehen. Aber ich wollte nicht.«

»Konstantinopel …«, murmelte Alan verwundert. »Eine gefährliche Reise, nehme ich an.«

»Das war nicht der Grund, warum ich mich gesträubt habe«, stellte sie klar. »Aber es ist … so furchtbar weit fort. Von England, von Norwich, von meiner Familie und allen Menschen, die mir vertraut sind. Gerschom war ein ehrenwerter und zuverlässiger Mann, aber ich habe mich davor gefürchtet, mit ihm allein in die Fremde zu ziehen. Also … habe ich mich geweigert.«

Und das konntest du einfach so?, fragte er sich erstaunt. Muss eine jüdische Frau denn nicht tun, was ihr Gemahl befiehlt?

Sie antwortete ihm, als hätte er es laut ausgesprochen: »Unser Gesetz sagt, ein Mann muss seiner Frau nach der Hochzeit mindestens ein so gutes Leben bieten, wie sie es zuvor kannte, und er darf sie nicht zwingen, mit ihm an einen Ort zu gehen, der ihr nicht gefällt. Auf dieses Gesetz habe ich mich berufen. Mein Vater war wütend, denn er ist ein weit gereister Mann und konnte meine Furcht vor der Fremde nicht verstehen. Aber ich bin stur geblieben, und mein Onkel Ruben hat mir den Rücken gestärkt, denn er liebt England, genau wie ich. Also schön, hat Vater gesagt, dann heirate Gerschom, lass ihn allein nach Konstantinopel gehen und bleib hier, bis seine Geschäfte erledigt sind und er zurückkommt. Aber das wollte ich auch nicht …« Sie unterbrach sich, und endlich schaute sie auf. »Ich weiß, wie sich das anhört. Du musst mich für eine widerspenstige Kratzbürste halten.« Es klang mutlos.

Alan hob mit einem kleinen Lächeln die Schultern. »Es gibt Schlimmeres, nehme ich an. Warum wolltest du nicht?«

»Viele Männer sterben auf ihren Handelsreisen. Ihr Schiff kentert im Sturm, sie werden von Räubern erschlagen, was weiß ich. Viele kehren nie zurück. Wenn es aber keine Zeugen gibt, die ihren Tod mitangesehen haben, müssen ihre Frauen bis ans Ende ihrer Tage allein bleiben, weil es ja sein könnte, dass der Verschollene doch noch lebt und plötzlich wieder auftaucht. Es ist ein schreckliches Schicksal. Und weil unser Gesetz genau aus diesem Grund auch sagt, dass eine Frau ihrem Mann die Zustimmung zu einer Reise in die Ferne verweigern kann, habe ich abgelehnt. Der arme Gerschom. Er war so geduldig und verständnisvoll. Und er wollte mich immer noch, obwohl ich so … schwierig war. Er blieb viel länger hier als beabsichtigt, und darum war er in Norwich, als im November die Pocken ausbrachen.« Sie verstummte abrupt, konnte nicht weitersprechen, weil sie verbissen um Haltung rang.

Mit zwei Schritten hatte Alan sie erreicht, setzte sich neben sie und ergriff ihre Hände. »Es war nicht deine Schuld, Miriam. Sieh mich an.« Es dauerte eine Weile, aber schließlich wandte sie ihm das Gesicht zu und schaute ihm in die Augen. Die ihren schimmerten verdächtig, aber es gelang ihr, die Tränen zurückzuhalten. »Du hast Gerschom nichts Übles gewünscht, und du hattest keine Macht über die Pocken.« So wenig wie Alan of Helmsby über den Krieg, fuhr es ihm durch den Kopf. »Es ist dumm, vermessen sogar, sich für Dinge verantwortlich zu fühlen, die man nicht kontrollieren kann.«

»Aber wenn ich meinem Vater gehorcht und mit Gerschom nach Konstantinopel gegangen wäre, würde er noch leben«, wandte sie ein.

»Wer weiß. Du hast eben selbst gesagt, wie gefährlich das Reisen ist. Vielleicht war seine Zeit einfach abgelaufen. Und hätten ihn nicht in Norwich die Pocken geholt, dann wäre es auf der Reise passiert und du wärst jetzt eine der unglücklichen Witwen, die niemals Gewissheit erlangen, oder allein und verlassen irgendwo in der Fremde. Ich weiß nicht viel über das, was Juden glauben, aber wenn wir wirklich zu demselben Gott beten, dann musst du doch wissen, dass diese Dinge in seiner Hand liegen, nicht in unserer.«

Sie hatte ihm aufmerksam gelauscht, die Stirn leicht gefurcht. »Das hat mein Vater auch gesagt. Aber es klang, als wolle er nur Ausflüchte für mich finden. Und wie dem auch sein mag, Gott straft mich für meine Halsstarrigkeit. Seit Gerschom gestorben ist, hat keine ehrbare jüdische Familie mehr bei meinem Vater um mich angefragt. Niemand will so ein störrisches Weibsbild wie mich zur Frau oder Schwiegertochter, auch wenn ich nur das Recht geltend gemacht habe, welches das Gesetz mir zusichert. Der einzige Mann, der mich noch heiraten will, ist ein Goj, der kein Gedächtnis, dafür aber eine Ehefrau hat.« Sie sagte es mit einem gewissen Maß an Bitterkeit, aber auch, stellte er erstaunt fest, mit einem Funken Humor. »Das wird mein Vater niemals, niemals zulassen, und darum werde ich bis ans Ende meiner Tage die gönnerhafte Herablassung meiner Schwägerin ertragen müssen.«

»Mein Angebot steht dennoch«, erwiderte er. »Selbst nachdem du weggelaufen bist, ohne mir eine Antwort zu geben.«

»Ein Vorgeschmack auf das, was dich erwarten würde.« Sie schlug beschämt die Augen nieder. »Ich musste nachdenken, Alan.«

»Und?«

Sie sah ihn wieder an und nickte. »Ja. Ich würde dich heiraten, wenn es nicht unmöglich wäre.«

Er ließ einen zu lang angehaltenen Atem entweichen und schloss für einen Moment die Lider. Etwas Warmes, wunderbar Wohliges durchrieselte ihn. Sie wollte ihn. Nicht Alan of Helmsby, wie er einmal gewesen sein mochte, sondern ihn, so wie er war. Zum ersten Mal, seit die Sturmflut gekommen war und die Palisaden eingerissen hatte, die ihn gefangen hielten, war er dankbar für seine Freiheit. Und zuversichtlich. Dafür gab es weiß Gott keinen einzigen vernünftigen Grund, und dennoch war es so.

Vorsichtig, fast schüchtern nahm er Miriams Hände, weil er sich nicht traute. Weil er fürchtete, die gewissenlose Gier, die er mit Mühe im Zaum hielt, könne ihn doch noch ins Straucheln bringen. Ihn verleiten, der Frau, mit der er sein Leben teilen wollte, die Ehre zu stehlen, ohne zu wissen, ob er ihr je eine Zukunft würde bieten können. Ihr womöglich einen Bastard zu machen, so wie Prinz William es mit seiner Mutter getan hatte. Ihren Vater, der so viel für ihn getan und ihm solche Güte erwiesen hatte, schändlich zu verraten. So tief zu sinken wie Henry Plantagenet, dieser verfluchte Hurensohn …

Er küsste Miriam auf die Stirn, hüllte sich für einen Augenblick in ihre Wärme und ihren Duft, und dann ließ er sie los. »Morgen muss ich fort und tun, was dein Vater mir geraten hat.«

»Glaubst du, es wird etwas nützen?«

»Nein«, gestand er. »Aber er wird mich für einen Feigling halten, wenn ich es nicht tue, und das will ich nicht. Ich weiß nicht, wie lange es dauert, aber ich komme wieder, Miriam. Also warte auf mich.«

»Oh, sei unbesorgt«, gab sie trocken zurück. »Wie ich schon sagte, niemand steht Schlange, um mich zu heiraten.«

»Niemand außer mir.«

»Aber du bist verheiratet.«

»Ja, das war eine böse Überraschung«, räumte er ein.

»Manche Edelleute in England halten sich Zweitfrauen, behauptet Esther«, sagte Miriam. Es klang unsicher, als wisse sie nicht, was sie davon halten oder ob sie es auch nur glauben sollte.

Doch es stimmte. Es war eine Sitte aus längst vergangenen heidnischen Tagen, die sich hartnäckig hielt. Alan schüttelte entschieden den Kopf. »Das kommt nicht infrage. Die Kirche verweigert einer solchen Verbindung den Segen.«

»Deine Kirche wird einer Verbindung zwischen dir und mir so oder so den Segen verweigern«, gab sie zu bedenken.

Er fürchtete, sie könnte recht haben. »Das werden wir ja sehen. Eine Ehe ist jedenfalls kein unüberwindliches Hindernis. Man kann sie auflösen. Gibt es das bei euch nicht?«

»Doch. Unter bestimmten Voraussetzungen.«

»Sie sind erfüllt«, erklärte er knapp.

Er konnte nicht sagen, ob sie ahnte, was das bedeutete. Einen Moment sah sie ihn forschend an, ehe sie auf das größte Hindernis zurückkam, das ihrer Verbindung im Wege stand. »Aber mein Vater, Alan …«

Er seufzte. »Ja, ich weiß. Wir müssen uns etwas einfallen lassen. Es kann sicher nicht schaden, um ein Wunder zu beten.«

Alan reiste schnell. Conan war ein ausdauerndes, hervorragend geschultes Pferd, und er selbst anscheinend ein geübter Reiter. Er hatte keine Erinnerungen an frühere Reisen durch England, und oft musste er nach dem Weg fragen, aber das Wetter hielt, die Straßen waren in erträglichem Zustand, und am Mittag des zweiten Tages erreichte er Luton, wo die Straße nach Oxford abzweigte. Im Gasthaus erzählte der Wirt ihm von zwei zusammengewachsenen Angelsachsen, die hier vor ein paar Wochen mit einem jungen Normannen durchgekommen seien, und Alan verspürte einen freudigen Stich, von seinen Gefährten zu hören. Sie fehlten ihm, stellte er fest. Nicht weil er einsam war, denn das Alleinsein bekümmerte ihn nicht, aber dennoch vermisste er sie. Er betete, dass Gott Simon und die Zwillinge sicher zurück nach Helmsby geleitet haben möge und es ihnen allen dort wohlerging. Dass die Rabauken im Dorf Oswald und Luke nicht zusetzten. King Edmund nicht mit den Fäusten auf Bruder Elias losging. Simon keinen Anfall vor dem versammelten Haushalt in der großen Halle erlitt. Regy niemandem die Kehle durchbiss – kurzum, er betete, dass sie alle einigermaßen zurechtkamen.

Er beschloss, die Nacht in Luton zu verbringen, bat den Wirt, ihm alles über die Zwillinge und ihren normannischen Freund zu erzählen, zahlte für sein Essen und sein Bett mit dem Geld, das Josua ihm zu allem Überfluss geliehen hatte, und hörte am nächsten Morgen in der hübschen Holzkirche zu Luton endlich, endlich wieder einmal die Messe.

Je weiter er nach Südwesten vordrang, umso deutlicher wurden die Spuren des Krieges. Alan fand verwaiste Gehöfte, niedergebrannte Dörfer, unbestellte Felder und Wiesen, wo die Toten der letzten bedeutungslosen Scharmützel unbegraben und vergessen lagen und Scharen von Krähen anzogen. Er bekreuzigte sich, wenn er vorbeiritt, aber er war weder erschrocken noch verwundert. Diese Bilder sah er nicht zum ersten Mal, erkannte er.

Bei Einbruch der Dämmerung holte er in einem Waldstück eine kleine Schar Frauen und Greise ein, die vor ihm zwischen die Bäume flohen. Nur eine junge Frau mit einem Säugling im Arm war auf der Straße stehen geblieben und sah ihm entgegen. Er ließ Conan in Schritt fallen, als er sie passierte, und sie lächelte ihm zu. Es sollte das geschäftsmäßige, kokette Lächeln einer Hure sein, aber sie hatte noch nicht viel Übung darin, und es wirkte zu eifrig, zu plump.

Alan saß ab, fischte einen Penny aus seinem Beutel und reichte ihn ihr.

Sie nickte, führte ihn ein Stück weg von der Straße, und während er Conan an einen Ast band, legte sie ihr schlafendes Kind ins Gras und streckte sich einen Schritt weiter links auf dem Rücken aus.

Er kniete sich zwischen ihre Beine, schnürte seine Hosen auf und schloss die Augen, ehe er eindrang. Er wusste, sie verkaufte sich, weil sie alles verloren hatte und ihr Kind durchbringen wollte. Und er wusste auch, dass er sich schämen sollte, ihr das Geld nicht einfach zu geben, ohne eine Gegenleistung zu verlangen. Doch er wusste auch dies: Er konnte dieses Mädchen nicht retten. Und er brauchte dringend eine Frau, denn die Erinnerung an Miriams Lippen und das Gefühl ihrer festen Mädchenbrust unter dem seidenglatten Stoff ihres Kleides brachte ihn fast um den Verstand.

Also verschaffte er sich Erleichterung bei dieser Fremden, versuchte, wenigstens nicht grob zu ihr zu sein, und als er fertig war, gab er ihr noch einen Penny. Dieses Mal erreichte das Lächeln auch ihre Augen. Hübsche, haselnussbraune Augen, bemerkte er jetzt. Dann hob sie ihr Kind auf und ging.

Sie hatten kein Wort gesprochen.

Alan führte Conan zurück auf die Straße, saß auf und hörte ein gutes Stück entfernt den gedämpften Jubel der Frauen und Greise. Vermutlich war ihre Gefährtin zu ihnen zurückgekehrt und hatte ihnen das Geld gezeigt: Sie durften fürs Erste weiterleben …

Er wusste, er war nicht mehr weit von Bristol entfernt, als er am übernächsten Vormittag über die Kuppe eines Hügels kam und im Tal vor sich ein Dorf liegen sah. Rauch stieg in den klaren Sommerhimmel auf, und die leichte Brise wehte bitteren Brandgeruch zu ihm herüber.

Alan zügelte sein Pferd, verschränkte die Hände auf dem Sattelknauf und blickte mit verengten Augen auf das Dorf hinab. Mindestens vier der Strohdächer brannten lichterloh. Eine Gestalt – ein junger Mann oder halbwüchsiger Knabe − floh über ein leeres braunes Feld, wurde von einem Reiter verfolgt, eingeholt und niedergemacht. Der Reiter wendete sein Pferd und galoppierte zurück zu den brennenden Katen.

Das Klügste wäre gewesen, zu warten, bis die Reiter getan hatten, wozu sie hergekommen waren, und wieder verschwanden, wusste Alan. Wer konnte ahnen, was sie herführte und wer sie geschickt hatte. Falls irgendwer sie geschickt hatte. Waren es Soldaten des Earl of Gloucester, die die Bauern bestraften, weil sie der Kaiserin Maud in irgendeiner Weise den geschuldeten Gehorsam verweigert hatten? Waren es König Stephens Männer, die einen Verräter suchten? Oder einfach nur räuberisches, mordendes Gesindel?

Er wusste es nicht, und im Grunde war es auch gleich. Er hatte vergessen, wie es war, in diesem verworrenen, sinnlosen Krieg zu kämpfen und für das Recht irgendeiner Kaiserin Blut zu vergießen. Das Blut ihrer Feinde, das Blut wehrloser Bauern, die in irgendeiner Weise zwischen die Fronten geraten waren wie zwischen Hammer und Amboss, sein eigenes Blut. All das hatte er getan, wusste er. Aber nichts von dem hatte mehr irgendeine Bedeutung, und es drängte ihn, kehrtzumachen und einen Weg zu suchen, der ihn weit fort von dem Dorf dort unten im Tal führte.

Stattdessen stieß er Conan sacht die Fersen in die Seiten und trabte den Hügel hinab, ohne so recht zu begreifen, wieso er das tat. Weil er ankommen wollte? Weil er sich beweisen wollte, dass er sich vor so einem belanglosen kleinen Blutbad wie dem dort unten nicht fürchtete? Oder weil er dem Krieg, der angeblich sein Lebensinhalt gewesen war, endlich von Angesicht zu Angesicht begegnen wollte?

Hundert Yards vor den ersten Häusern galoppierte er an und zog sein Schwert. Kaum hatte er das Dorf erreicht, hüllten der Qualm, der Gestank der Angst von Mensch und Tier, Waffenklirren und Schreie ihn ein. Das ganze Dorf stand in Flammen, auch die Kirche war nicht verschont geblieben. Conan scheute, als eine Bö Funken und brennende Strohhalme von ihrem Dach vor seine Hufe wehte, wieherte angstvoll und stieg.

»Hoh«, machte Alan beschwichtigend. Es klang, als sei er die Ruhe selbst, dabei war sein Mund trocken, und sein Herzschlag hatte sich beschleunigt.

Er saß ab, sah sich rasch um und entdeckte niemanden auf dem kleinen Dorfplatz mit dem Brunnen. Er wickelte die Zügel um den Sattelknauf, damit sein Pferd nicht darüber stolperte, band es aber nicht an. »Warte hier, wenn du kannst«, raunte er ihm zu. »Lauf weg, wenn du musst.«

Dann wandte er sich nach links, von wo die Schreie kamen und wo die Feuersbrunst am schlimmsten zu wüten schien. Zwei Männer in halbärmeligen Kettenpanzern kamen aus einer der Katen, der eine hielt in jedem Arm ein Fass, der andere hatte einen Kornsack geschultert. Achtlos gingen sie an Alan vorbei − vermutlich glaubten sie, er sei einer der Ihren –, und er hörte den Größeren sagen: »Ich hoffe, zwei Karren sind genug, um all das Zeug hier abzufahren. Diese verdammten Bauern sind doch alle gleich: Sie jammern dir die Ohren voll, aber ihre Vorratskammern bersten …«

Aus dem nächsten Haus kam eine schreiende Frau gerannt, deren Haar in Flammen stand. Der Ritter mit den Fässern stellte seine Beute hastig ab, lief zu ihr und schlug die Flammen aus. Immer noch schreiend wich sie vor ihm zurück, machte kehrt und floh, aber noch ehe sie hinter der brennenden Kirche verschwand, schnitten zwei Berittene ihr den Weg ab und drängten sie nach rechts, wo sie aus Alans Blickfeld verschwanden.

Er folgte, ohne zu wissen, was er vorhatte. Seine Hände waren feucht, der Qualm brannte ihm in den Augen, und er wusste nicht, ob es der Rauch oder das aufsteigende Grauen war, was ihm das Atmen erschwerte.

Auf der Nordseite des hölzernen Kirchleins war es stiller, das Prasseln der Brände und der Kampfeslärm drangen nur gedämpft hierher, und niemand war zu entdecken. Suchend, das Schwert locker in der Rechten, schaute Alan sich um. Die plötzliche Stille hatte etwas Trügerisches. Und dann erhob sich ein Schrei. Es war ein lang gezogener, schriller Laut puren Entsetzens. Alan blieb stehen, hob den Kopf und wandte ihn langsam in die Richtung, aus der der beinah unmenschliche Laut kam. Kein Zweifel, es war die Stimme eines Kindes.

Sein Blickfeld trübte sich und nahm eine eigentümlich rötliche Färbung an. Alan vergaß, wo er sich befand, er vergaß seinen Namen und die Tatsache, dass er vergessen hatte, wer er war. Die Stimme des schreienden Kindes hatte jedes bewusste Denken zum völligen Stillstand gebracht, und als er losrannte, nahm er nicht wahr, wie weich seine Knie waren. Er fühlte nicht einmal seine Füße die staubige Erde berühren.

Sie waren hinter einer Lehmhütte am Rand des Friedhofs. Das kleine Mädchen war vielleicht sechs Jahre alt, und die drei Soldaten, die sich seiner bemächtigt hatten, hatten ihm den Kittel vom Leib gerissen. Einer hielt die Kleine von hinten an den Oberarmen gepackt, hatte sie hochgehoben und lachte, der zweite starrte auf den kleinen Leib und nestelte unter seinem Kettenhemd. Das Mädchen wand sich und schrie, aber Alan schrie lauter. Wie ein Dämon fiel er über die Kinderschänder her, hieb dem vorderen, der mit dem Rücken zu ihm stand und sich an seiner Rüstung zu schaffen machte, den Kopf mit einem beidhändigen Streich vom Rumpf. Dem nächsten, der einen Schritt zur Rechten stand, den verklärten Blick starr auf das nackte Kind gerichtet und sein steifes Glied in der Hand hielt, stieß er die Klinge seitlich in die Kehle. Da ließ der dritte sein kleines Opfer achtlos in den Staub fallen, wich einen Schritt zurück und legte die Hand ans Heft. Grauen stand in seinen Augen, denn er wusste, er war zu langsam. Ehe die matte Klinge auch nur zur Hälfte aus der Scheide war, spaltete Alan ihm den unbehelmten Schädel. Knirschend befreite er sein Schwert mit einem Ruck und fuhr herum, um Gott weiß was zu tun. Die Erschlagenen in Stücke zu hacken, vielleicht. Die Klinge wieder und wieder in ihr Fleisch zu stoßen, weil sie einfach nicht tot genug sein konnten. Er war kaum weniger außer sich als das kleine Mädchen, das sich auf der Erde zusammengerollt, den Kopf in den Armen vergraben hatte und heulte und schrie.

Der Anblick des Kindes brachte ihn nicht wirklich zu sich, aber er berührte irgendetwas in ihm. Die Kleine hatte genug gesehen, wusste er. Obwohl er gerade noch rechtzeitig gekommen war, hatte er doch nicht verhindern können, dass sie für ihr Leben gezeichnet sein würde. Vermutlich würde sie vergessen, was geschehen war, aber nichts würde je wieder so sein wie vor dem Tag, da die Soldaten in ihr Dorf gekommen waren. Also ließ Alan die Klinge fallen, statt den grauenvollen Bildern, die sie als dunkle Träume bis ans Ende ihrer Tage verfolgen würden, noch ein paar von verstümmelten Leichen hinzuzufügen. Er fiel vor ihr auf die Knie. Er schrie nicht mehr, aber sein Atem ging stoßweise und keuchend, und der rötliche Schleier vor seinen Augen hatte sich nicht gelichtet. Seine Hände zitterten so schlimm und der Schock hatte seine Finger so taub gemacht, dass er drei Anläufe brauchte, ehe er ihren zerfetzten Kittel aufheben und sie damit bedecken konnte. Nicht anfassen. Nur nicht anfassen. Wie ein Irrlicht schwirrte der Gedanke durch seinen Kopf, ohne dass Alan in der Lage gewesen wäre, den Sinn zu erfassen.

Dann hörte er hinter sich eine Stimme: »Und was haben wir hier? Einen wahren Kinderfreund?«

Ehe er sich umwenden konnte, traf ihn ein mörderischer Schlag auf den Hinterkopf, und er war von seinem Entsetzen erlöst.

Das Gehör kam als Erstes zurück, wie immer.

»Ich verstehe nur nicht, was er hier tut.« Es war der Mann, der ihn niedergeschlagen hatte, erkannte Alan.

»Ich schätze, er ist auf dem Weg zu Eurem Vater«, antwortete eine zweite Stimme, älter, gelassener.

»Einfach so?«, ereiferte sich der Erste. »Drei verdammte Jahre lang ist er wie vom Erdboden verschluckt und taucht dann ausgerechnet mitten in den gottverlassenen Grenzmarken wieder auf, um mit einem Haufen verlotterter Marodeure wehrlose Bauern abzuschlachten?«

Du ziehst wie üblich die falschen Schlüsse, William, dachte Alan.

Und dann erstarrte er.

Das, was auf ihn einstürzte, ließ die Sturmflut auf der Isle of Whitholm wie ein Rinnsal erscheinen. Die Bilder und Gerüche, die Namen und Erinnerungen, die Geschichten und die Worte waren wie ein Mahlstrom, und Alan wurde mitgerissen und fortgespült, vollkommen ausgeliefert. Er rollte sich auf die Seite und vergrub den Kopf in den Armen, so wie das kleine Mädchen es getan hatte, und ein eigentümlicher Laut entrang sich seiner Kehle, halb ein schmerzliches Stöhnen, halb ein ungläubiges Lachen. Er fühlte weder Freude noch Schrecken über die Rückkehr zu sich selbst. Sie war zu gewaltig, um überhaupt etwas zu empfinden.

Alan of Helmsby. Ich bin Alan of Helmsby.

Das wusste er ja bereits, aber erst jetzt glaubte er es und verstand, was es bedeutete.

Eine Hand fiel schwer auf seine Schulter. »Alan? Alles in Ordnung?« Die Hand verharrte einen Moment, ehe sie ihn zaghaft rüttelte. »Alan? Verflucht, sag, dass ich dir nicht den Schädel eingeschlagen hab, Cousin.«

»William …«

»Hier bin ich.«

William of Gloucester. Seite an Seite hatten sie den Ritterschlag empfangen, waren gegen die Waliser gezogen und im Winter in den walisischen Bergen fast erfroren. Aus dem belagerten Shrewsbury waren sie entkommen, nur Stunden bevor König Stephen es überrannte und jeden Mann der Garnison aufhängen ließ. Sie hatten in der großen Schlacht bei Lincoln gekämpft und triumphiert, bis eine Streitaxt knirschend durch Alans Kettenhemd gefahren war … Und Williams Vater hatte ihn vom Schlachtfeld getragen: Robert, der mächtige Earl of Gloucester, der diesen verdammten Krieg hätte verhindern und König werden können, wäre er nur kein Bastard gewesen. Aber das war er, ein Bastard von königlichem Geblüt genau wie Alan, und womöglich war dieses gemeinsame Schicksal der Grund, warum Earl Robert Alan – seinen Neffen – immer mehr geliebt hatte als jeden seiner Söhne.

William hatte sich so bemüht, Alan das nicht übel zu nehmen. Aber ihr Verhältnis war immer kompliziert gewesen. Alan erinnerte sich, dass er seinem Cousin stets mit Nachsicht begegnet war, denn er verstand dessen gelegentliche Anflüge von Bitterkeit. Und mit der erschütternden Klarheit, die die dreijährige Abstinenz von seiner Identität ihm beschert hatte, erkannte Alan, dass seine Nachsicht in Wahrheit gönnerhafte Herablassung gewesen war …

»William«, murmelte er wieder, die Augen immer noch fest geschlossen.

»Was?«, fragte sein Cousin. Es klang halb ungeduldig, halb furchtsam.

Es tut mir leid, wollte er sagen. Ich bedaure, dass ich dir die Liebe deines Vaters gestohlen habe. Aber er sprach es nicht aus. Nicht allein, weil es undenkbar war, so etwas zu sagen, sondern weil seine Gedanken längst weitergerast waren, so schnell, dass ihm schwindlig davon wurde. Eine diffuse Übelkeit begleitete diesen Schwindel.

Alan richtete sich ungeschickt auf Hände und Knie auf, kam auf die Füße und torkelte davon, ohne seinen Cousin auch nur einmal anzuschauen.

»Alan!«, rief der ihm nach. »Was ist denn los mit dir? Komm zurück!«

»Lasst ihn lieber«, beschwichtigte die ältere Stimme. »Vermutlich ist ihm schlecht oder so was.«

Aber das war nicht der Grund, warum er floh. Er konnte jetzt nicht sprechen, nicht mit William oder sonst irgendwem. Er hatte keine Zeit. Er musste sich selbst wiederentdecken.

Er gelangte zurück auf den Dorfplatz mit dem Brunnen. Die Kirche und die umliegenden Hütten waren geschwärzte Ruinen, aus denen immer noch Rauch aufstieg, und nirgendwo war ein Mensch zu sehen. Er kam in einen kleinen Garten mit ein paar Obstbäumen und ließ sich in deren Schatten ins duftende Gras sinken. Dann verschränkte er die Arme auf den angezogenen Knien, bettete den hämmernden Kopf darauf und rang darum, die Oberhand über sein zurückgekehrtes Selbst zu gewinnen. Den Alan, der er einst gewesen war, mit dem in Einklang zu bringen, der er heute war. Es erschien ihm so unmöglich, als versuche man, zwei Männer in ein einzelnes Kettenhemd zu zwängen – es ging einfach nicht. Es war einer zu viel. Der Mann, der mit einer Schar Narren und Krüppel in einer verfallenen Inselfestung eingesperrt gewesen und mit ihnen von dort geflohen war, wehrte sich gegen den Fremden, der von ihm Besitz ergriff. Und es war keine allmähliche Unterwanderung, sondern eine totale Invasion.

Einer Panik nahe, suchte er nach der Nahtstelle, die es zwischen den beiden geben musste, und es dauerte nicht lange, bis er fündig wurde. Seine Erinnerungen waren ein aufgewühltes Meer, ein unbeherrschbares Chaos, aber diese eine, die er wollte, stieg plötzlich aus der Flut empor wie eine unverhoffte rettende Insel: Drei Tage hatte er Jagd auf Geoffrey de Mandeville gemacht, den abtrünnigen Earl, der Ely eingenommen und die Kriegswirren genutzt hatte, um seine Schreckensherrschaft über ganz East Anglia zu errichten. Drei Tage lang hatte Alan ihn gesucht und nie gefunden. Am späten Nachmittag des dritten Tages schließlich war er zu einem einsamen Dorf in den Fens gekommen. Torfstecher lebten dort, arme Leute, aber trotzdem hatte Mandeville seine Finstermänner hingeschickt, es zu brandschatzen. Sie hatten die Frauen geschändet und auch die Kinder nicht verschont. Jetzt wusste Alan auch, woher die Schreie rührten, die er immer hörte, wenn die Finsternis über ihn kam. Es war eine Erinnerung an jenen Tag, an jenes Dorf. An das kleine Mädchen, das Mandevilles Männer sich hatten vornehmen wollen. Und anders als heute hatte er es damals nicht verhindern können, wusste er, denn jemand hatte ihn von hinten niedergeschlagen, ehe er die schaurige Szene erreichte. Und das Nächste, woran er sich klar erinnerte, war der Exorzismus im Kloster St. Pancras.

Wie in aller Welt war er von Norfolk nach Yorkshire gekommen?

Und was hatte es mit dem Kreuzfahrermantel auf sich?

Er wusste es nicht. Aber das spielte im Augenblick auch keine große Rolle. Der Kreis war geschlossen, und das verschaffte ihm ein Mindestmaß an Klarheit.

Er hatte sein Gedächtnis wiedergefunden, weil er das Gleiche noch einmal erlebt hatte wie bei seinem Gedächtnisverlust: das wehrlose, schreiende Mädchen, die Kinderschänder, der Schlag auf den Kopf.

Bei der Erinnerung an den Vorfall von damals spürte er einen Nachhall seines Entsetzens und des hilflosen Zorns, und er erkannte, dass Josua ben Isaacs Theorie nicht so abwegig war, wie Alan bislang geglaubt hatte: Er hatte sich verantwortlich gefühlt für das Schicksal des Kindes. Obwohl sein Verstand sehr wohl wusste, dass er keine Macht besaß, um solche Gräueltaten, wie jeder Krieg sie hervorbrachte, zu verhindern, hatte er sich dennoch schuldig gefühlt.

Weil mein Vater ertrunken ist, statt England ein guter, starker König zu werden, der seinen Frieden wahrt?

Wer weiß.

Jedenfalls hatte es ihn genug gequält, um seinen Geist zu verdunkeln. Womöglich hatte auch der Schlag auf den Kopf das erledigt. Oder beides zusammen. So oder so: Josua hatte auch in diesem Punkt recht behalten: Kehr nach Bristol zurück und suche da, wo du dich verloren hast. Kehr in den Krieg zurück, hatte er wohl gemeint.

Es hatte schneller und gründlicher funktioniert, als vermutlich selbst Josua für möglich gehalten hätte.

Und Alan musste nun zusehen, wie er damit fertig wurde …

Die Sonne stand wie eine geschmolzene Messingscheibe am westlichen Himmel, als William ihn unter den Obstbäumen fand. »Gott sei Dank«, sagte er mit einem unsicheren Lächeln. »Ich fürchtete schon, du hättest dich hier zusammengerollt und seiest verreckt, diskret und in aller Stille, wie es deine Art ist.«

Alan kam auf die Füße, ehe sein Vetter vor ihm anhielt. »Dafür hättest du ein bisschen härter zuschlagen müssen«, erwiderte er, fuhr sich mit der Linken über den Hinterkopf und zuckte leicht zusammen. »Na ja. Ordentlich gesessen hat es auf jeden Fall.«

Sie lachten verlegen, sahen sich kurz, beinah verstohlen in die Augen und schlossen sich halbherzig in die Arme.

»Es tut mir wirklich leid«, beteuerte William, der genauso alt war wie Alan, dessen widerspenstiger brauner Schopf ihm jedoch in Verbindung mit seinen großen dunklen Augen, die immer wie vor Staunen geweitet schienen, etwas Jungenhaftes verlieh. »Ich habe dich nicht erkannt. Und ich dachte, du wolltest …« Er räusperte sich und schlug die Augen nieder. »Ich habe die Situation falsch gedeutet.«

Alan nickte. »Ich kann mir schon vorstellen, wonach es aussah.«

»Wie kommst du hierher? Wo warst du? Ich meine …« William brach unsicher ab.

Alan legte ihm für einen Augenblick die Hand auf den Unterarm und wandte sich dann ab. »Das ist eine lange, nicht sehr erbauliche Geschichte«, sagte er, während sie Seite an Seite Richtung Kirchhof zurückschlenderten. »Ich bin auf dem Weg nach Bristol zu deinem Vater.«

Eine Erinnerung sprang ihn an, während er das sagte. Seine letzte Begegnung mit dem Earl of Gloucester, Williams Vater, war nicht einvernehmlich verlaufen. Wenn du das je wieder tust, wirst du aus meinen Diensten scheiden müssen, hatte Gloucester ihm gedroht. Mit donnernder Stimme – er hatte ein beachtliches Organ. Gloucester war es also gewesen, der sich in dem Traum hinter der Maske des Königs von Jerusalem verborgen hatte. Noch ein gelöstes Rätsel …

»… nicht sicher, wie das alles weitergehen soll«, drang die Stimme seines Cousins zu ihm vor.

»Entschuldige. Was sagtest du?«

William warf ihm einen verstohlenen Seitenblick zu, der halb befremdet und halb besorgt war.

Solche Blicke erschütterten Alan nicht mehr, denn er hatte sich daran gewöhnt. Trotzdem sagte er: »Tut mir leid, wenn ich mich ein wenig sonderbar benehme. Das ist kein Wunder, weißt du. Ich bin sonderbar.«

»Vater hat einen Brief von deiner Großmutter bekommen, der ihn sehr beunruhigt hat«, berichtete William.

Alan unterdrückte ein Seufzen. »Gott allein mag wissen, was sie sich davon versprochen hat. Wie geht es ihm? Sie sagte mir, er sei krank?«

William hob kurz die Schultern. »Du kennst ihn ja. Er verliert nie ein Wort darüber. Und mein Vater ist krank immer noch gefährlicher und lebendiger als König Stephen gesund. Trotzdem. Irgendetwas stimmt nicht mit ihm. Das war es, was ich dir gerade erzählen wollte. Ich mache mir Sorgen. Er verliert an Rückhalt. Die Bischöfe halten es natürlich mit Stephen, und die Lords machen, was sie wollen. Ihnen ist es allmählich gleich, wer die Krone trägt. Ich habe das Gefühl, dass uns alles entgleitet.« Plötzlich breitete sich ein Lächeln auf seinem Gesicht aus. »Es ist so gut, dass du zurück bist, Alan.«

»Ich glaube kaum, dass ich in der Lage sein werde, das Ruder herumzureißen«, warnte der.

»Wieso nicht? Das konntest du doch seit jeher.«

Konnte ich das wirklich?, fragte er sich. Er wusste es nicht genau. Vieles war noch verschwommen. »Ich habe mich verändert, schätze ich.«

»Ja. Das merkt man.« Es war unmöglich zu sagen, was William von dieser Erkenntnis hielt. »Willst du mir nicht verraten, wo du warst? In Gefangenschaft, glauben die meisten.«

»In gewisser Weise.«

»Nun, wie dem auch sei. Jetzt bist du wieder da. Und deine Rückkehr wird den Männern den Glauben an unsere Sache zurückgeben.«

»Wieso denkst du das?«

»Weil es immer dein Krieg war. Mehr als der meines Vaters, sogar mehr als Mauds oder Stephens. Niemand hat so unverrückbar daran geglaubt, das Richtige zu tun, wie du. Darum war es immer leicht, dir zu folgen.«

Gott steh mir bei, dachte Alan. Was hab ich getan?