Norwich, Mai 1147
»Es wäre alles einfacher, wir gingen nach Helmsby und Ihr ließet Euch dort von mir behandeln«, hatte Josua ben Isaac gesagt.
Aber Alan hatte das strikt abgelehnt. »Ich habe geschworen, nicht nach Helmsby zurückzukehren, ehe ich mein Gedächtnis wiedergefunden habe. Falls überhaupt.«
»Also schön. Das macht die Dinge komplizierter, aber es wird schon gehen. Wenn Ihr mir Euer Vertrauen schenkt. Ihr müsst tun, was ich sage, selbst wenn Ihr es nicht versteht. Kurz gesagt: Ihr müsst Euch vorbehaltlos in meine Hände begeben.«
»Das tue ich«, hatte er gelobt, und allmählich fing er an, es zu bereuen.
Meistens war er eingesperrt. Es war ein höchst komfortables Gefängnis in einem lichten, geräumigen Gemach, das für gewöhnlich Josuas Kräutervorräte beherbergte und wo es deswegen wundervoll duftete. Es lag am westlichen Ende des Hauses, hatte eine Verbindungstür zum Behandlungsraum, und eine zweite führte in einen winzigen, von einer Mauer geschützten Garten, wo Josua empfindliche Heilpflanzen aus fernen heißen Ländern züchtete, die keinen Frost vertrugen. Die Sonne war wieder zum Vorschein gekommen, und Josua drängte seinen Patienten, so viel Zeit wie möglich im Freien zu verbringen, was der bereitwillig tat.
Aber das Gefühl von Unfreiheit demütigte ihn und machte ihn rastlos.
»Es ist nicht ideal«, räumte Josua am zweiten Tag ein. »Aber Ihr wisst wohl, dass Ihr Euch das nur selbst zuzuschreiben habt und mir keine andere Wahl lasst.«
»Ja. Und ich kann kaum fassen, welche Mühen Ihr für mich auf Euch nehmt. Ich bin Euch wirklich dankbar, Josua.«
»Gut«, erwiderte der mit einem kleinen Lächeln. »Dann macht Euch diese Dankbarkeit zunutze, um Euch in Euer Schicksal, hier eingesperrt zu sein, zu ergeben. Denn je ausgeglichener Ihr seid, desto größer sind unsere Erfolgsaussichten.«
Alan nickte.
»Es macht Euch nichts aus, viel allein zu sein?«, vergewisserte der Arzt sich besorgt.
»Im Gegenteil.«
»Gut.«
»Und wann fangen wir an?«
»Ich denke, in drei Tagen.«
»In drei Tagen?« Auf Josuas strafenden Blick hin hob Alan begütigend die Hände. »Schon gut. In drei Tagen. Wir machen alles genau so, wie Ihr sagt. Wir reden nicht über Eure Tochter, und damit Ihr sie in Sicherheit wisst, begebe ich mich unbewaffnet in Eure Gefangenschaft. Ich gestatte Euch, alles mit mir anzustellen, was Euch beliebt, ich gelobe, alles zu schlucken, was Ihr mir gebt, jeden Schmerz zu ertragen, den Ihr mir zufügt, und zwar so lange, wie Ihr es für nötig haltet, ohne je Rache an Euch und den Euren zu nehmen. Und ganz gleich, wie die Sache ausgeht, am Ende stifte ich in Norwich ein Hospital zur Behandlung der Geisteskranken unter Eurer Leitung. Habe ich eine Eurer Bedingungen vergessen?«
Josua erfreute sich unverkennbar an Alans Verdruss. »Ich glaube nicht, nein.«
»Ihr habt also nicht zur Bedingung gemacht, dass ich keine Fragen stelle?«
»Ich fürchte, das habe ich vergessen.«
Alan lächelte grimmig. »Warum erst in drei Tagen?«
»Weil ich ein paar Dinge nachlesen muss, damit ich Euch nicht vergifte oder anderweitig umbringe. Und morgen ist Sabbat – da …«
»… tut Ihr gar nichts, ich weiß.«
»Oh doch. Es ist sogar gestattet, die Sabbatruhe zu brechen, um ein Leben zu retten. Aber in der Regel gehen wir in die Synagoge, wir beten, wir besinnen uns auf den Allmächtigen, und wir widmen uns der Familie. Auch Ihr werdet Euch während dieser drei Tage besinnen, und zwar auf Euch selbst. Ihr müsst Euch von allem befreien, was Euer Herz beschwert. Um das zu erreichen, werdet Ihr jeden Tag ein Bad nehmen.«
»Ein Bad?«
»Ganz recht. Und Ihr werdet eine strikte Diät einhalten, die, so fürchte ich, nur aus Grünzeug und Wasser bestehen wird.«
»Ich merke, Ihr trachtet mir in Wahrheit doch nach dem Leben … Wozu die Diät?«
»Um das Gleichgewicht Eurer Körpersäfte wiederherzustellen.«
»Meiner was?«
»Körpersäfte. Aus ihnen sind wir gemacht, mein ungebildeter junger Freund: Blut, Schleim, gelbe Galle und schwarze Galle.«
»Klingt entzückend …«
»Sind sie im Gleichgewicht, sind wir gesund. Wenn nicht, werden wir krank. Jede Krankheit des Geistes – und dazu zählt Euer Gedächtnisverlust – entsteht durch ein Übermaß an schwarzer Galle. Melancholia nennen wir diese Störung im Gleichgewicht der Körpersäfte. Die schwarze Galle steigt aus der Milz in den Magen auf, und ihre Dämpfe befallen das Gehirn.«
»Ich glaube nicht, dass ich die Einzelheiten wissen will«, wehrte Alan matt ab, dem ganz übel bei der Vorstellung von diesem schwarzen Zeug in seinem Magen wurde.
»Die Diät vermindert den Zustrom schwarzer Galle und ist der erste Schritt zu Eurer Genesung. Ansonsten solltet Ihr so viel wie möglich schlafen und ruhen. Werdet Ihr das tun?«
»Natürlich.«
»Und nicht grübeln.«
»Ich werde mich bemühen«, gelobte er feierlich.
Es waren nicht einmal unangenehme Tage. Er litt Hunger, weil die Diät aus weich gekochtem Gemüse und Wasser eher für einen kranken Säugling als für einen ausgewachsenen Mann bemessen schien, aber auf der Isle of Whitholm und vor allem nach ihrer Flucht von dort hatte er schlimmer gehungert. Er schlief, er saß in dem winzigen Garten in der Sonne, lauschte den Bienen und Vögeln und versuchte, an nichts zu denken. Einmal am Tag kam ein fröhlicher junger Jude, der anscheinend in Josuas Diensten stand, und bereitete ihm draußen im sonnigen Garten ein lauwarmes Bad, in dem er meist wieder einschlief. Es waren friedliche, beschauliche, sonnendurchflutete Tage.
Schlimm waren die Nächte. Der Traum von seinem Ritt durch die Wüste, der ihn in Helmsby verschont hatte, kam wieder, und wenn er keuchend und durstig daraus erwachte, konnte er nicht wieder einschlafen. Dann lag er da, starrte in die Dunkelheit und versuchte die Bilder zu verscheuchen, die auf ihn einstürzten: Henry und Susanna, die zertrümmerte Laute, Oswalds Gesicht, während King Edmund ihm schonend beizubringen versuchte, dass »Losian« fortgegangen war und ihn im Stich gelassen hatte … Er bemühte sich, diese Bilder abzuwehren, aber er wusste nicht, wie. Dass Josua ihm untersagt hatte, sich mit diesen Dingen zu befassen, schien sie nur noch aufdringlicher zu machen.
Bis er in der zweiten Nacht ein leises Klopfen an der Tür hörte.
Er richtete sich auf die Ellbogen auf und rief gedämpft: »Nur herein, falls Ihr den Schlüssel habt.«
»Leider nicht.«
Er sprang von seinem Strohlager auf und stürzte zur Tür. »Miriam!«
»Schsch. Wirst du wohl leise sein«, zischte sie eindringlich.
Alan lehnte die Stirn an die rauen Holzbohlen der Tür und kniff die Augen zu. »Miriam«, flüsterte er.
»Moses hat mir erzählt, dass du zurückgekommen bist«, kam die Stimme durch die Tür. Körperlos, aber dennoch durchrieselte ihn ein Glücksgefühl, dessen Heftigkeit ihm beinah Angst machte.
»Ja.«
»Und du hast deinen richtigen Namen herausgefunden. Das ist wunderbar.«
»Ich bin nicht sicher«, gestand er der Tür im Flüsterton. »In den letzten Wochen musste ich oft an die Dinge denken, die du zu mir gesagt hast. Vielleicht wäre es besser für mich und auch für meine Familie gewesen, wenn ich nie nach Helmsby zurückgekehrt wäre, sondern mich selbst erfunden hätte, wie du sagtest. Dann wäre uns allen mancher Kummer erspart geblieben.«
»Warum?«
»Weil ich nicht mehr der bin, der ich war. Und das enttäuscht die Menschen, die mich früher kannten.«
»Ich habe von Alan of Helmsby gehört«, eröffnete Miriam ihm unerwartet.
»Wirklich?« Er war erschrocken. Er stellte fest, dass er sich der Dinge schämte, die sie gehört hatte, obwohl er nicht wusste, was es war. Er schämte sich vor allem, weil er keine Kontrolle über seine Vergangenheit hatte. »Gewiss nicht viel Gutes.«
»Doch«, widersprach sie. »Er hat die Juden von Worcester vor der Plünderung bewahrt. Er ist ein Freund des jüdischen Volkes.«
Er atmete auf. »Endlich habe ich also etwas gefunden, was ich mit diesem Alan of Helmsby gemein habe.«
Er hörte ihr schönes, warmes Lachen, und mit einem Mal musste er die Arme um den Oberkörper schlingen, weil es unerträglich war, dass er Miriam nicht an sich ziehen konnte.
»Wie ist deine Schwägerin?«, fragte er.
»Sie … sie ist sehr klug und gütig. Vor allem zu Moses, und dafür bin ich dankbar. Er vermisst unsere Mutter so sehr. Esther tut alles, um sie ihm zu ersetzen.«
»Ich nehme an, das heißt, zu ihm ist sie honigsüß und dich lässt sie jeden Tag spüren, dass sie jetzt die Frau im Haus ist und du nur eine unverheiratete dumme Gans?«
Es war eine Weile still auf der anderen Seite der Tür. Dann schalt sie ihn: »Es ist sehr ungehörig, solche Dinge von der Frau meines Bruders zu sagen.« Er sah vor sich, wie sie den Kopf hob – unwissentlich die volle Länge ihres unglaublichen Schwanenhalses zur Geltung brachte – und die Tür mit ihrem königlichen Missfallen traktierte.
»Aber wahr?«, bohrte er unbeirrt weiter.
Auf der anderen Seite war es wieder einen Moment still. Dann sagte sie: »Ich muss jetzt gehen.« Aber es klang nicht verstimmt.
»Kommst du morgen Nacht wieder?«
»Wenn ich kann.« Er glaubte, leises Rascheln von Stoff zu vernehmen und den gedämpften Laut von nackten Füßen auf Holzdielen. Dann trat Stille ein.
In der darauffolgenden Nacht gestand sie ihm, dass er recht gehabt habe, und redete sich alles von der Seele, was sie hatte erdulden müssen, seit ihr Bruder David seine Frau ins Haus gebracht hatte. Vermutlich ging das nur wegen der verschlossenen Tür zwischen ihnen, nahm Alan an. Darum hingen viele Priester bei der Beichte ein Tuch zwischen sich und den Bußfertigen auf: Es war leichter, seine Bekenntnisse einer gesichtslosen Präsenz anzuvertrauen. Miriam weinte nicht, und sie gestattete sich auch nicht, hasserfüllt von ihrer Schwägerin zu sprechen, aber Alan gewann ein lebhaftes Bild von den kleinen Kränkungen und Nadelstichen, die natürlich nie vor Zeugen stattfanden. Von dem Verlust ihrer Stellung, von ihrer Einsamkeit, dem Gefühl, eine Gefangene zu sein.
»All das wird vorbei sein, wenn du heiratest«, zwang er sich zu sagen. »Es ist der einzige Ausweg.«
»Ich weiß.«
»Sprich mit deinem Vater«, riet er.
»Das ist nicht so leicht, wie es sich anhört. Er ist sehr kühl zu mir. Deinetwegen.«
»Das tut mir leid, Miriam …«
»Oh, sei nicht so zerknirscht.«
Er konnte kaum glauben, dass sie ihn neckte. »Du solltest ihm sagen, dass alles meine Schuld war.«
»So war es aber nicht.«
»Was spielt das für eine Rolle? Er ist so schlecht auf mich zu sprechen, dass es keinen Unterschied macht.«
»Für mich macht es einen Unterschied.« Es klang so trotzig, dass er verdutzt den Mund hielt, sodass sie fortfahren konnte: »Mein Vater liebt mich, das weiß ich, aber er versteht mich nicht. Er kann einfach nicht begreifen, dass ich unter einem guten Mann nicht unbedingt das Gleiche verstehe wie er, dass ich die Männer, die er in Betracht zieht, nicht heiraten kann. Nicht nach dem, was mit Gerschom geschehen ist, meinem Verlobten. Für ihn gibt es nur Juden und Nichtjuden. Dass man aber auch als Jude einem Land und seinen Menschen verbunden sein kann, will er nicht zulassen. Er nennt es gefährlich.«
Er verstand längst nicht alles, was sie da sagte, aber in dem letzten Punkt hatte Josua vermutlich recht, wenngleich Alan die Erkenntnis nicht gefiel: Dies war ein christliches Land, und die Christen begegneten den Juden mit zu viel Misstrauen. Darum waren die Juden sicherer, wenn sie unter sich blieben.
»Mein Onkel Ruben ist ganz anders«, eröffnete sie ihm zu seinem Erstaunen. »Er denkt so wie ich. Sie streiten manchmal deswegen.«
Dein Onkel Ruben ist von heute an mein bester Freund, dachte Alan. Mein allerallerbester, wie Oswald sagen würde. »Und wie wär’s mit mir?«, murmelte er in den Türspalt. »Würdest du mich heiraten?«
Sie schwieg einen Moment. Dann kam ein atemloses: »Was?«
»Würdest du mich heiraten?«
»Das fragst du, weil du deine Vergangenheit vergessen hast. Wüsstest du, wer du bist, käme die Vorstellung dir absurd vor.«
»Ich frage, weil ich gern die Antwort wüsste.« Alan presste das Ohr an den Türspalt und lauschte. Er glaubte, ihren Atem zu hören.
»Mein Vater erwähnte, du habest eine Gemahlin«, sagte sie schließlich.
»Oh ja. Ich wette, dass er sie erwähnt hat. Angenommen, es gäbe sie nicht. Angenommen, ich hätte mein Gedächtnis nicht verloren oder fände es wieder und könnte ein normaler Mann sein. Würdest du mich heiraten, obwohl ich kein Jude bin?«
»Oh, Alan.« Er hörte sie lächeln. »Das ist eine müßige, törichte, obendrein eitle Frage.«
»Ja oder nein?«
»Wozu willst du das wissen?«, konterte sie; es klang beinah ein wenig ärgerlich.
»Wenn ich dir das sage, und deine Antwort lautet ›Nein‹, stehe ich da wie ein Narr.«
»Und wenn ich ›Ja‹ sage, du aber nur meine Unerfahrenheit ausnutzen willst, um mich ins Unglück zu stürzen, wie mein Vater unterstellt, dann wäre ich die Närrin.«
»Ich bin vollkommen harmlos, solange eine versperrte Tür zwischen uns ist«, beteuerte er. »Im Übrigen werden wir mit unserer Unterhaltung nicht weiterkommen, wenn nicht einer von uns wagt, dem anderen zu vertrauen, obwohl er ein Ungläubiger ist.«
»Also dann, furchtloser Alan of Helmsby: Warum stellst du mir diese törichte Frage, wo es doch niemals möglich wäre?«
»Weil ich Himmel und Hölle bewegen würde, um es möglich zu machen, wenn du ›Ja‹ sagst.«
Er wartete lange, mit geschlossenen Augen, die Stirn an die Tür gelehnt. »Miriam?«, wisperte er schließlich.
Nichts.
»Miriam?«
Die Stille auf der anderen Seite hatte sich verändert. Es war eine leere Stille. Miriam war fort.
Josua kam spät am nächsten Vormittag. »Ich bedaure, dass ich Euch habe warten lassen. Aber die Sorge um meine Patienten muss weitergehen. Und sie duldet selten Aufschub.« Er war aufgeräumter, beinah übermütiger Stimmung.
Miriam hatte ihm also nichts von Alans unverschämtem Antrag gesagt. Immerhin. Wahrscheinlich hatte sie nur deswegen geschwiegen, weil sie selbst nicht gut vor ihrem Vater dagestanden hätte, wenn sie ihm gestehen musste, dass sie nachts vor der versperrten Tür gehockt und mit dem Ungläubigen gesprochen hatte. Aber so oder so, Alan war dankbar. Es erforderte mehr Mut, als er gedacht hätte, sich in die Hände eines Arztes zu begeben. Er war nicht sicher, ob er es fertiggebracht hätte, wenn der fragliche Arzt im Zorn zu ihm gekommen wäre.
»Also?«, fragte er. »Was geschieht nun?«
»Macht den Oberkörper frei und zieht die Schuhe aus.«
Alan streifte Stiefel und Kleider ab. Letztere faltete er sorgsam und legte sie ans Fußende seines Strohbetts.
Josua reichte ihm einen Becher. »Das müsst Ihr trinken.«
»Will ich wissen, was es ist?«, erkundigte Alan sich.
Josua lachte in sich hinein. »Eher nicht. Ich habe ausführlich über die Zusammenstellung nachgelesen, aber die Gelehrten sind sich leider nicht ganz einig. Darum müssen wir ausprobieren, welche Dosierung die richtige für Euch ist.«
Alan trank einen Schluck und verzog das Gesicht. »Es ist Euer heidnisches Zeug. Haschīsch.«
Josua nickte. »Und Mohn, ein paar Pilze und einiges mehr … Die Mischung hat es in sich. Der Sinn ist, Euch so, wie Ihr jetzt seid, ins Vergessen zu führen, und dort suchen wir nach dem Mann, der Ihr wart. Versteht Ihr?«
»Nein. Aber ich bin zufrieden, solange Ihr versteht, wovon Ihr redet.«
»Leert den Becher. Und dann muss ich Euch fesseln, fürchte ich. Denn es kann sein, dass Ihr gefährlicher werdet als Euer Reginald de Warenne.«
Alan wurde mulmig. »Werde ich … in eine Art Rausch fallen?«
»Oh ja. Aber macht Euch keine Sorgen. Ich weiß, der Gedanke, die Kontrolle zu verlieren, erschreckt Euch. Doch ich bin Euer Arzt. Was immer hier passiert, wird diese Wände niemals verlassen, und was immer Ihr sagt oder tut, wird mich nicht schockieren.«
Es sei denn, ich erzähle dir von letzter Nacht, dachte Alan unbehaglich. Jetzt war es indes zu spät, um noch umkehren zu wollen. Der Becher war fast leer. Alan trank den letzten Schluck, setzte sich im Schneidersitz mit dem Rücken zum Stützpfeiler und verschränkte die Hände hinter dem massiven Balken.
Josua umrundete ihn und band seine Handgelenke mit einem stabilen Lederriemen.
»Ich rate zur Sorgfalt«, murmelte Alan.
Josua legte ihm kurz die Hand auf die Schulter, kam wieder zum Vorschein und ging nach nebenan in seinen Behandlungsraum. Er kam mit Pergament, Feder und Tinte zurück.
»Möglich, dass ich mir ein paar Notizen machen muss«, erklärte er.
»Solange Ihr sie später verbrennt …«
»Ihr habt mein Wort. Spürt Ihr irgendetwas?«
»Nein.« Alan runzelte konzentriert die Stirn. »Meine Zähne fühlen sich merkwürdig an.«
Josua nickte. Er schien nicht überrascht. Er ging noch einmal nach nebenan, holte eine Decke, obwohl Alans Bettstatt schon reichlich damit ausgestattet war, eine Schüssel mit Wasser, Tücher, Wein, zwei seiner geheimnisvollen irdenen Krüge mit Arzneien. Dann schloss er die Tür, faltete die Decke zu einem Kissen und setzte sich darauf Alan gegenüber.
Dessen gebundene Hände hatten sichtlich zu zittern begonnen, und Schweiß bildete sich auf seiner nackten Brust.
»Lasst mich wissen, wenn Euch unwohl wird«, bat Josua.
»Es ist alles in Ordnung. Nur Schwindel.« Und er lallte, was ihm selbst dann nicht passierte, wenn er betrunken war. Aber das eigentümliche Gefühl im Mund hatte sich von den Zähnen auf die Zunge ausgeweitet, die ihm dick und schwer vorkam.
Josua beugte sich vor, legte zwei Finger an seinen Hals und fühlte seinen Puls. Dann zog er ein Lid nach oben und betrachtete Iris und Pupille. Alan stellte fest, dass seine Augen Mühe hatten, den Bewegungen des Arztes zu folgen. Sein Blick war langsam und wurde an den Rändern unscharf.
Josua ließ sich zurück gegen die Wand sinken. »Alan?«
»Ja.«
»Schließ die Augen, mein Sohn.«
Die Lider klappten zu.
»Wie fühlst du dich?«
»Sagenhaft …«
»Ich möchte, dass du so tief einatmest, wie du kannst, die Luft einen Moment anhältst, dann wieder ausatmest. So ist es gut. Noch einmal. Und jetzt noch einmal. Gut so. Und jetzt noch einmal von vorn. Einatmen. Anhalten. Ausatmen … Was siehst du?«
»Miriam.«
»Sie können wir hier im Moment leider nicht gebrauchen, denn sie ist die Gegenwart, nicht die Vergangenheit. Schick sie weg. Aber höflich, wenn ich bitten darf.«
Geh, meine wunderbare Miriam. Aber warte auf mich. Ich komme wieder …
»Was siehst du nun?«
Die Wüste.
»Gut.«
Josua ben Isaac, nicht der maskierte König von Jerusalem, stand auf der sandigen Anhöhe, und er kam zu dem dürstenden Wanderer herab und legte ihm freundschaftlich die Hand auf den Arm. Sanft drehte er ihn um. Gar nicht weit entfernt stand ein Palmenhain.
Was ist das, Palmen?
»Bäume mit hohen, schlanken, sacht gebogenen Stämmen und einer Krone aus dicken Blättern wie übergroße Farnwedel. Sie wachsen in heißen Ländern und bringen wunderbare Früchte hervor, Datteln zum Beispiel.«
Josua führte ihn in den Palmenhain, und eine angenehme, schattige Kühle umfing sie. Nicht weit entfernt hörte man Wasser rieseln. Ein schmaler, weicher, sandiger Pfad führte abwärts, und sie folgten ihm, immer tiefer zwischen die fremdartigen Bäume, immer weiter hinab, bis sie eine kleine Senke mit einer felsigen Grotte erreichten. Wasser plätscherte sacht in einen klaren See. Am Ufer setzten sie sich auf den sonnenwarmen, hellen Fels und tranken. Das Wasser war süß und wohlschmeckend. Libellen flirrten über der blauen Oberfläche.
»Wie gefällt dir dieser Ort?«
Er ist wunderschön. So warm und still und verborgen.
»Man fühlt sich gut aufgehoben hier, nicht wahr?«
Wie in Abrahams Schoß.
»Dann verweile ein wenig, mein Sohn.«
Und so saß Alan an diesem verwunschenen Ort, ließ die Füße im klaren Wasser baumeln und erging sich in schläfrigem Wohlbehagen, bis sein Cousin Haimon aus dem Schatten der fremdartigen Bäume trat. Es war eine kleine Ausgabe von Haimon, vielleicht zehn Jahre alt, das Gesicht mit den dunklen Augen war blass und schmal, umrahmt von hübschen braunen Locken. Unter dem Arm trug er einen verschrammten Lederball. Er blutete aus einer Platzwunde über der Augenbraue, und Zornestränen liefen ihm über die Wangen.
Tut mir leid, Haimon. Ich hab’s nicht mit Absicht getan.
Das hast du wohl! Du tust es immer mit Absicht! Vor Großmutter gibst du vor, du könntest keiner Fliege etwas zuleide tun, aber sobald sie wegschaut, lässt du keine Gelegenheit aus, mir eins auszuwischen.
Das ist nicht wahr …
Es ist wahr. Du kommst dir ja so großartig vor, weil du jünger bist als ich und trotzdem stärker. Und weil Helmsby dir gehört und mir nicht. Du meinst, du stehst so hoch, du kannst dir alles erlauben. Dabei hast du deine Eltern auf dem Gewissen, alle beide. Deine Mutter hast du bei deiner Geburt umgebracht, und dein Vater ist ertrunken, weil er es nicht abwarten konnte, zu ihr zurückzukehren, denn er wusste, dass du bald kommen würdest. Du bist ein Mörder, Alan. Und dafür kommst du in die Hölle … Da, siehst du?
Die versteckte Oase verschwamm wie nasse Tinte auf Pergament, und als das Bild wieder klar wurde, hatte es sich vollkommen verändert. Aus der sonnenbetupften Grotte war eine finstere Höhle geworden. Eine riesenhafte, abscheuliche Kreatur kam aus der gähnenden Öffnung gekrochen, halb Drache, halb Wurm, mit schuppiger Haut und drei grauenvollen Hörnern auf dem Kopf. Sie öffnete ihr gefräßiges Maul, entblößte zwei Reihen Zähne, die wie Schwerter aussahen, die krumm und schief aus den Kiefern ragten, und was sie spie, war kein Feuer, sondern irgendein widerliches schwarzes Zeug.
Galle, wusste er. Das war schwarze Galle.
Er wollte sich abwenden und fliehen, aber es ging nicht, denn er war gefesselt, und ganz gleich, wie er sich aufbäumte und zerrte, er konnte sich nicht befreien.
Dann streckte der Höllenwurm seinen langen Hals aus, und die unbeschreiblich widerwärtige zähe Galle ergoss sich über den Kopf des Gefesselten, als habe jemand einen Eimer über ihm geleert. Er fing an zu würgen, und als die Schwerterzähne niederfuhren, fing er an zu schreien. Aber es half ihm nichts. Der Schlund der Hölle verschlang ihn, und er ertrank in Schwärze.
Als er zu sich kam, fand er sich in dem hölzernen Badezuber draußen im Kräutergärtlein. Seine Glieder zitterten so heftig, dass das Wasser kleine Wellen schlug, und ihm war übel.
Josua ben Isaac hockte an seiner Seite, tauchte einen Schwamm ein, drückte ihn gegen Alans Stirn und ließ ihm das Wasser über Gesicht und Hals rinnen. »Habt Ihr Kopfweh?«
Alan nickte.
»Schlimm?«
»Wie ein Mordskater.«
»Genau das ist es auch. Morgen verändern wir die Dosis. Dann sind die Nachwirkungen vielleicht nicht so heftig.«
Alan schloss die Augen wieder und ergab sich einen Moment dem wohltuenden Wasser, das ihn umschmeichelte und über den hämmernden Kopf rann. »Ich glaube nicht … dass ich das noch mal tun kann.«
»Doch, doch.« Josua tätschelte ihm aufmunternd den Oberarm. »Ihr könnt. Denn es hat funktioniert. Woran erinnert ihr Euch?«
Statt zu antworten, richtete Alan sich auf, lehnte sich an der anderen Seite über den Wannenrand, würgte und spuckte ein bisschen dünne Flüssigkeit aus. »Entschuldigung …«
»Oh, das macht nichts. Es ist auch nicht das erste Mal, mein Junge.«
»Großartig …« Er spülte sich den Mund aus, spuckte zielsicher ins Mohnbeet und sank zurück in das tröstliche Bad. Dann berichtete er Josua, was er gehört und gesehen hatte.
»Also der kleine Haimon hat Euch bezichtigt, ein Vater- und Muttermörder zu sein, hat die Bestie der Hölle entfesselt, und die hat Euch verschlungen. Das ist alles?«
»Reicht das nicht?«
Josua war sichtlich enttäuscht. Aber er gestattete Alan nur einen Lidschlag lang, diese Enttäuschung zu sehen, dann sagte er lächelnd: »Nun, es ist ein guter Anfang. Eine Erinnerung! Und zwar eine echte, nicht wie der Ritt durch die Wüste, die nur geborgt war.«
»Ja, ich nehme an, es ist passiert. Dass Haimon und ich beim Ballspiel gestritten haben und er diese Dinge zu mir gesagt hat. Aber ich erinnere mich nicht daran. Ich weiß es, weil ich es im Rausch gesehen habe. Es ist fast so, als hätte mir jemand die Geschichte erzählt. Aber das ist anders als erinnern, oder?«
»Geduld, mein junger normannischer Heißsporn. Wir brauchen beide mehr Geduld. Es beweist, dass die Behandlung Wirkung zeigt.«
»Kann ich jetzt hier raus und mich anziehen? Ich bin doch kein Fisch …«
»Schsch. Bleibt noch ein Weilchen liegen. Das tut Euch gut. Die Zutaten meines Tranks sind nicht sehr rücksichtsvoll zum Körper eines Menschen, fürchte ich. Ihr müsst Euch Zeit lassen, die Nachwirkungen zu überwinden.«
»Wieso wisst Ihr, was ich gesehen habe?«
»Ich habe Euch gefragt, und Ihr habt es mir erzählt.«
»Und ich habe mehr gesehen als das, was ich jetzt noch weiß?«
Josua nickte.
»Was?«
»Ich bin mir im Moment nicht schlüssig, ob es richtig ist, Euch das zu sagen. Der Höllenwurm scheint mir eine Art Gleichnis zu sein für das, was Ihr wirklich gesehen habt. Und es ist kein Wunder, dass Euer Geist beschlossen hat, es zu vergessen. Bei Eurem eigentlichen Gedächtnisverlust, meine ich, und heute wieder. Es ist eine Bürde, die kein Mensch zu tragen haben sollte.«
»Jetzt spannt Ihr mich auf die Folter, Josua«, protestierte Alan. Und er fürchtete sich. Aber das hatte der Arzt ja vorhergesagt, und die diffuse Furcht, die er verspürte, war nichts im Vergleich zu dem Entsetzen, das der Wurm ihm eingeflößt hatte.
Josua rang noch einen Moment mit sich. Was er sich schließlich zu sagen entschloss, war: »Ihr habt geglaubt, was Haimon damals im Zorn zu Euch gesagt hat. Ihr wart acht Jahre alt, die Anschuldigungen ergaben für Euren kindlichen Verstand einen Sinn, also habt Ihr ihm natürlich geglaubt. Und diese Überzeugung, Eure Eltern auf dem Gewissen zu haben, war Euch unerträglich, darum habt Ihr sie tief in Eurem Innern verborgen, bis Ihr sie fast vergessen hattet. Doch als der Krieg ausbrach, kam sie zurück, in abgewandelter Form. Der kleine Alan, den Ihr immer noch in Euch tragt, glaubte, er sei verantwortlich für den Tod seines Vaters. Und wäre der Prinz nicht ertrunken, wäre es nie zu diesem Krieg gekommen. Daraus ergab sich für den erwachsenen Alan der Schluss, dass er auch für den Krieg die Verantwortung trägt. Und zwar er ganz allein. Ihr habt jedes Opfer dieses Krieges Eurer Seele aufgebürdet, so wie man eine schwere Last auf die Schultern nimmt. Aber es wurden immer mehr. Die Last wurde zu groß. Also hat Eure Seele sie abgestreift, und darum habt Ihr alles vergessen.«
Alan betrachtete ihn kopfschüttelnd. »Bei allem Respekt, Josua, aber das klingt wie …«
»Ja?«
Ein Haufen Kuhscheiße, würde mein Cousin Henry sagen. »Welcher vernünftige Mann könnte glauben, allein die Verantwortung für einen Krieg zu tragen? Kaiserin Maud und Stephen und der König von Schottland haben ihn begonnen. Die Lords, die ihren Treueid an Maud gebrochen haben – zu denen auch Stephen zählte −, haben ihn verschuldet. Nicht ich.« Das Hämmern hinter der Stirn hatte sich verschlimmert, und er hob die Linke aus dem Wasser, um sich einen Moment die Schläfe zu massieren.
»Ich habe nicht gesagt, dass es so ist, sondern dass es das ist, was Alan of Helmsby tief in seinem Herzen glaubt.«
»Welch ein eingebildeter, eitler Schwachkopf, dass er denkt, er könnte solche Macht besitzen.«
»Was immer er sonst sein mag, er ist keinesfalls ein Schwachkopf.« Josua nahm seinen Arm. »Genug gebadet. Ihr müsst Euch hinlegen und schlafen. Morgen kehren wir zurück in den Palmenhain und sehen, welche Geheimnisse wir Alan of Helmsby noch entlocken können.«
Furcht legte sich auf Alans Herz wie die sachte Berührung eines eiskalten Fingers. »Ich kann’s kaum erwarten.«