Dritter Teil
Simon

Angers, März 1152

»Das gefällt mir nicht«, murmelte Godric. »Er müsste längst hier sein.«

»Er kommt«, sagte Simon zuversichtlich. »Er hat gar keine andere Wahl. Sei unbesorgt.« Er zog den bodenlangen dunklen Mantel fester um sich und lehnte sich an die verfallene Bruchsteinmauer der Klause. Der Tag war sonnig und frühlingshaft gewesen, aber die sternklare Nacht war eisig.

»Tja, wenn du es sagst, wird es so sein«, bemerkte Wulfric.

»Seid still und sperrt die Ohren auf«, riet Simon. »Damit wir hören, ob er tatsächlich allein ist.«

Die Zwillinge nickten und zogen sich in den Schatten des eingesunkenen Daches zurück. Simon wandte das Gesicht zum Fluss und lauschte. Der Mond war nur eine schmale Sichel im Osten; es war sehr dunkel. Aber das machte ihm keine Sorgen. Er hatte gelernt, seinem Gehör ebenso zu vertrauen wie seinen Instinkten. Der böige, kalte Wind flüsterte in den Zweigen der Bäume. Der Fluss leckte plätschernd am Ufer, und irgendwo ganz in der Nähe war ein verstohlenes Rascheln zu vernehmen, gefolgt von leisem Fiepen: Ratten hatten die Klause erobert, seit der Eremit, der sie erbaut hatte, im vorletzten Winter gestorben war. Die Leute von Angers munkelten, er schlafe unruhig und kehre in dunklen Nächten zu seiner Bruchsteinhütte und dem winzigen Kapellchen zurück, um zu sehen, ob ein Nachfolger eingezogen sei. Darum kam niemand gern hierher.

Auch die Zwillinge waren nicht glücklich über die Wahl des Treffpunkts, wusste Simon. Bei jedem Laut, jedem Tier, das vorbeihuschte, spürte er mehr, als er sah, wie seine beiden Freunde im Schatten sich regten, die Hand ans Heft legten.

Simon hingegen war die Ruhe selbst. Er stand vollkommen reglos, den Kopf leicht gesenkt, und wartete. Er hatte Zeit.

Wieder strich etwas durchs Gras, aber es war größer als eine Ratte. Simon hörte Leder knarren, und im selben Moment trug die Brise vom Fluss den Geruch nach Schweiß und unlängst verzehrten Zwiebeln zu ihm herüber.

Lautlos stieß er sich von der Mauer ab. »Ihr kommt spät, Herbinger.«

Ein zischendes Keuchen verriet ihm den exakten Standort des Ankömmlings. »Verflucht, de Clare … Wollt Ihr mich zu Tode erschrecken?«

»Nicht bevor ich gehört habe, was Ihr mir zu sagen habt«, gab Simon lächelnd zurück.

Er trat noch einen Schritt näher, stand plötzlich keine Handbreit vor dem jungen Mann, der unwillkürlich zurückwich.

»Jesus … ist das gruselig hier. Ein unheimlicherer Ort ist Euch nicht eingefallen, nein?«

»Hier sind wir ungestört«, gab Simon zurück. »Was Euren Interessen ebenso dient wie den meinen.«

»Da habt Ihr verdammt recht. Ich kann nicht glauben, dass ich hier stehe und mit Euch rede. Wenn das jemals herauskommt …«

»Schsch. Seid beruhigt. Ihr tut nichts Unrechtes, und darüber hinaus sind wir allein. Es besteht also kein Grund, warum es herauskommen sollte, es sei denn, Ihr selbst lasst es an Diskretion mangeln.«

»Allein?«, wiederholte der Knappe und lachte humorlos. »Soll ich glauben, Ihr wäret ohne Eure beiden Schatten hier?«

»Ihr könnt glauben, was Euch gefällt«, entgegnete Simon kühl. »Ich habe Verständnis für Eure Bedenken – innerhalb vernünftiger Grenzen –, aber Ihr seid hergekommen. Das heißt, Ihr wollt auf mein Angebot eingehen. Also warum sparen wir uns das müßige Vorgeplänkel nicht einfach? Je eher wir uns wieder trennen, desto sicherer ist Euer Geheimnis.«

Herbinger schluckte und nickte unglücklich. Er war in Simons Alter, aber er wirkte noch jungenhaft mit seinen blonden Kinderlocken und dem spärlichen Bartwuchs. Er war auch kein sehr versierter Fechter und wartete bislang vergebens auf seinen Ritterschlag. Aber sein Dienstherr, Henrys jüngerer Bruder Geoffrey, liebte ihn innig, hatte Simon beobachtet. Und darum hatte er ihn auserkoren.

»Also?«, fragte Simon freundlich.

Herbinger streifte die Handschuhe ab, steckte sie an den Gürtel und rieb sich die Hände. Beinah sah es aus, als ringe er sie. »Ihr müsst ihn verstehen, de Clare, er ist es satt, auf Anjou zu warten und immer mit leeren Hände dazustehen, während sein Bruder Herzog der Normandie und Graf von Anjou ist. Henry täte das Gleiche, er ist auch nicht gerade ein Muster an Geduld.«

»Nein, ich weiß.« Simon legte dem Knappen beschwichtigend die Hand auf die Schulter. »Glaubt mir, ich weiß das genau. Und ich kann Geoffreys Beweggründe verstehen. Darüber hinaus ist mir bewusst, dass er seinen Bruder liebt und bewundert und niemals gegen ihn rebellieren würde. Seid Ihr beruhigt?«

Herbinger war alles andere, genau wie Simon beabsichtigt hatte. »Na ja … Ich würde nicht sagen, er rebelliert, aber … Wie gesagt. Er ist des Wartens müde. Er will Land und Macht wie sein Bruder, und wenn der sie ihm nicht gibt, muss er sie eben heiraten.«

Simons Herz schlug mit einem Mal schneller. »Und das bedeutet?«

Der Knappe senkte die Stimme zu einem heiseren Flüstern. »Er will ihr auflauern, bevor sie Poitiers erreicht.«

»Wo genau?«

»Das weiß ich nicht. Er hat es mir gestern Abend gesagt, als ich ihm nach der Jagd aus den Stiefeln half. Er hatte den Entschluss gerade erst gefasst und war ganz aufgeregt. Er hat es mir erzählt, weil es einfach heraus musste und weil er mir traut … Jesus Christus, was tu ich nur.« Herbinger raufte sich die Locken.

Simon klopfte ihm tröstend die Schulter. Er wusste, mehr war dem Mann nicht zu entlocken, doch das spielte keine Rolle. Er hatte, was er wollte. »Ihr erweist ihm einen Dienst, seid versichert. Ihr erweist genau genommen ganz Frankreich einen Dienst, denn wenn Geoffrey das täte, gäbe es Krieg zwischen ihm und seinem Bruder. Das wisst Ihr doch, oder? Sie gönnen einander nicht die Luftbläschen im Cidre. Und sie sind beide jähzornig und streitlustig. Ihr habt das Richtige getan.«

Herbinger, der eben noch mit den Tränen gekämpft hatte, atmete tief durch und nickte. Er war getröstet. Das war Simon immer ein Anliegen. Wenn möglich, entließ er seine Informanten mit dem Gefühl, etwas Nobles getan zu haben. Denn zufriedene Spitzel ließen sich wiederverwenden …

Simon trat einen Schritt zurück. »Habt Dank, Herbinger. Wegen unseres Geheimhaltungsabkommens kann ich Euch Henry nicht offen empfehlen, aber ich sorge dafür, dass Ihr diesen Schritt nicht bereut.«

Herbinger hing an seinen Lippen und wartete auf mehr. Denn der Handel, den sie vereinbart hatten, lautete auf Informationsaustausch. Simon ließ ihn noch einen Moment zappeln. Dann fuhr er fort: »Was die gewisse junge Dame betrifft, deren Vater Euch eine Heirat anbietet …«

»Ja?«, fragte Herbinger eifrig.

»Sie hat vorletzten Winter in einem abgelegenen Kloster in Nordengland einen Bastard zur Welt gebracht. Vermutlich war der Erzbischof von Rouen der Vater. Keine keusche Jungfrau also, als die ihr alter Herr sie feilbietet, aber eine hinreißende junge Dame, deren Fruchtbarkeit außer Zweifel steht. Wir alle haben gerade erlebt, wie wichtig dieser Punkt für das Lebensglück eines Ehepaares sein kann, nicht wahr?«

»Ihr denkt … Ihr meint, ich soll sie trotzdem heiraten? Obwohl sie unkeusch ist und ihr Vater mich betrügen wollte?«

»Betrügen ist ein sehr hartes Wort. Er hat nur getan, was jeder Vater täte. Das Geheimnis ist wohlgehütet. Es war nicht leicht, es herauszufinden, auch für mich nicht, obwohl ich bessere Beziehungen in England habe als die meisten hier. Ihr bräuchtet also keinen Skandal zu fürchten. Aber wenn ihr bei dem besorgten Vater anklingen lasst, dass Ihr die Wahrheit kennt, wird er die Mitgift vermutlich erhöhen.«

Herbinger strahlte wie ein beschenktes Kind, bedankte sich überschwänglich und verabschiedete sich – sehr viel fröhlicher als bei seiner Ankunft.

Godric und Wulfric warteten, bis seine Schritte verklungen waren. Dann traten sie aus der Tintenschwärze des Schattens in die Sternennacht. »Puh«, machte Godric leise. »Du spielst mit ihnen wie ein Gaukler auf seiner Flöte. Manchmal bist du richtig unheimlich, Mann.«

Simon seufzte leise. »Fängst du jetzt auch noch an? Reicht es nicht, dass alle anderen das sagen?«

»Ach, hör schon auf«, warf Wulfric mit gutmütigem Spott ein. »Du genießt deinen Ruf.«

Während sie nebeneinander zum Ufer zurückgingen, sann Simon darüber nach, ob das stimmte. Ganz gewiss hatte er die Rolle nicht gesucht, die ihm zugefallen war. Es war einfach passiert: Er war der Mann an Henrys Hof, der alle Geheimnisse kannte. Er wusste, es lag eigentlich nur daran, dass er lieber zuhörte als redete. Und es fiel ihm auch nicht schwer, das Vertrauen der Menschen zu wecken, weil er als eher sanftmütig galt und weil er ein Außenseiter war. Er gehörte zu keiner der Fraktionen, die es an jedem Hof gab. Und weil er diskret war und sein Wort niemals brach, wenn er jemandem Verschwiegenheit zusicherte, ganz gleich, was Henry ihm manchmal versprach oder gar androhte. Simon tat nichts, was nicht auch jeder andere gekonnt hätte. Und doch munkelten die Leute, er habe übernatürliche Kräfte und könne die Gedanken der Menschen erraten. Und er könne Briefe und Urkunden lesen, selbst wenn sie gefaltet oder gerollt und versiegelt waren. Das war natürlich Unsinn, aber weil er Henry beim Studium mit den gelehrten Brüdern jahrelang gegenübergesessen hatte, konnte Simon ein Schriftstück besser auf dem Kopf lesen als richtig herum, und er schrieb von rechts nach links. Als Henrys Vater im vergangenen Sommer aus heiterem Himmel und mit nicht einmal vierzig Jahren gestorben war, hatten die Nachlassverwalter seinen Söhnen eine höchst ungewöhnliche Verfügung verkündet: Der Herzog der Normandie und Graf von Anjou habe befohlen, sein Leib müsse so lange unbegraben bleiben, bis sein ältester Sohn öffentlich schwor, das Testament anzuerkennen und zu befolgen. In Unkenntnis des Inhalts.

Henry war erschüttert gewesen über den Verlust seines Vaters, aber auch fuchsteufelswild über diesen schlauen Winkelzug. »Was in aller Welt soll ich tun?«, hatte er den Kreis seiner engsten Vertrauten gefragt. »Wie kann ich dulden, dass die sterbliche Hülle meines Vaters unbeerdigt bleibt? Aber wie soll ich sein Testament anerkennen, ohne zu wissen, was er meinem raffgierigen und machthungrigen Bruder Geoffrey zugeschrieben hat?«

»Die Burgen von Chinon, Loudun und Mirebeau. Und Anjou und das Maine an dem Tag, da du König von England wirst«, hatte Simon in die ratlose Stille geantwortet.

Die Männer in Henrys Gemach hatten ihn angestarrt, wie Kinder auf dem Jahrmarkt einen Feuerschlucker bestaunten: mit einer Mischung aus Ehrfurcht und Grauen. Auch Henry. »Woher weißt du das?«, hatte der ihn gefragt.

»Was willst du hören?«, hatte Simon achselzuckend erwidert. »Ich weiß es eben. Man könnte vielleicht sagen, ich mache es mir zur Aufgabe, solche Dinge zu wissen.«

Der Bischof von Angers, der Henry mit sichtlicher Befriedigung und Hochnäsigkeit über die Verfügungen seines Vaters in Kenntnis gesetzt hatte, hatte das Testament vor sich auf dem Tisch liegen gehabt, und Simon, der ihm gegenüber an Henrys Seite stand, hatte es gelesen, während Henry und der Bischof stritten.

Henry hatte Simon mit einem ungläubigen Kopfschütteln betrachtet und dann an seine Brust gedrückt. »Du bist einfach unglaublich, de Clare. Aus was für einer abscheulichen Klemme du mich befreist. Sagt den Pfaffen, sie können meinen Vater begraben. Ich akzeptiere sein Testament. Oder zumindest gebe ich das vor. Die Burgen soll Geoffrey von mir aus haben, solange er sich benimmt. Anjou und Maine werde ich niemals hergeben, aber das muss der ehrwürdige Bischof ja nicht erfahren, richtig? Leider bin ich ja immer noch nicht König von England. Simon, lass dich in Gold aufwiegen …«

Wulfric hatte in gewisser Weise recht, musste er nun einräumen, als er an diese Episode zurückdachte. »Ich glaube, es ist nicht der Ruf, den ich genieße, sondern der Einfluss.«

»Na ja, das ist kein Wunder«, räumte Wulfric ein, während er und sein Bruder das kleine Ruderboot ins Wasser schoben und hineinsprangen. »Simon de Clare, das fallsüchtige Bübchen, das von seinem Onkel, seinem König und von der halben Welt herumgeschubst worden ist, ist auf einmal ein einflussreicher Mann. Auge und Ohr und Beichtvater des mächtigsten Mannes in Frankreich. Nicht schlecht.«

Simon sprang leichtfüßig ins Boot und setzte sich auf die kleine Bank im Heck, während die Zwillinge die Riemen aufnahmen. Sie waren alle drei erfahrene Segler und Ruderer geworden, denn wohin es den rastlosen Henry auch trieb, reisten Simon, Godric und Wulfric nach Möglichkeit zu Wasser, weil die Zwillinge nicht reiten konnten. »Nicht schlecht«, stimmte Simon lächelnd zu. »Aber noch lange nicht gut genug, Wulfric.«

In der Halle ging es hoch her. Ritter und Knappen saßen an den langen Tischen und feierten weinselig Abschied, während Diener von hier nach dort hasteten und Truhen packten, denn der Haushalt war im Begriff, nach Lisieux aufzubrechen, wo Henry – seit dem Tod seines Vaters Herzog der Normandie und Graf von Anjou – sich mit einigen seiner Vasallen treffen wollte, um ihr militärisches Vorgehen in England und Frankreich zu beraten. Godric und Wulfric traten zu ihren Frauen, den schönen Zwillingsschwestern aus Chinon, um ihnen einen Becher Cidre abzuschwatzen und vorzugeben, sich nützlich zu machen.

Der junge Herzog selbst hatte sich bereits in seine Gemächer zurückgezogen. Simon nickte den Wachen vor der Tür zu, die ihn passieren ließen, ohne Fragen zu stellen. Sie waren es gewöhnt, dass der junge Engländer ihren Herrn zu jeder Tages- und Nachtzeit aufsuchte.

Simon klopfte, und eine barsche Frauenstimme rief ihn herein.

Einer der Wachsoldaten grinste. »Unsere Kaiserin schläft niemals«, bemerkte er trocken. »Viel Vergnügen, Monseigneur.«

Simon betrat den großzügigen Raum, der tagsüber dank seiner hellen Sandsteinmauern und der zwei Fenster licht und freundlich wirkte. Jetzt bei Nacht waren ein Kohlebecken und drei Fackeln in schmiedeeisernen, mannshohen Ständern die einzigen Lichtquellen, und ihr Flackern schien die Ritter und Damen in den wundervoll gearbeiteten Wandteppichen zum Leben zu erwecken.

Henry saß auf der Kante seines ausladenden Bettes, die Beine vor sich ausgestreckt, die Arme vor der Brust gefaltet. Als er die Tür hörte, sprang er auf – wie üblich dankbar, nicht länger still sitzen zu müssen. »Ah! Da kommt Merlin mit geheimnisvollen Botschaften.«

»Ich wünschte, du würdest aufhören, mich so zu nennen«, entgegnete Simon seufzend.

»Aber warum nur? Es ist ein Kompliment«, entgegnete Henry lachend.

Zwei Wochen lag sein neunzehnter Geburtstag zurück, und Henry war genau das geworden, was er vor fünf Jahren schon versprochen hatte: ein äußerst stattlicher junger Mann von mittlerer Größe, mit dem breiten Kreuz und den großen, kräftigen Händen, die so typisch für seine Familie waren. Eher untypisch war das rote Haar, das er nach französischer Mode kurz geschnitten trug, und einzigartig die Vitalität, die er ausstrahlte – selbst jetzt, am Ende eines langen Tages.

Seine Mutter, die Kaiserin, welche nach dem Tod ihres Bruders Gloucester endgültig aus England zurückgekehrt war und meist im Haushalt ihres Ältesten lebte, war der Ruhepol inmitten der Unrast, die Henry verbreitete. Kerzengerade und wie üblich äußerst elegant saß sie in einem brokatbezogenen Sessel. Wenn Henry Feuer war, so war Kaiserin Maud Erde, hatte Simon schon manches Mal gedacht, und er war froh, dass sie sie hatten. Simon de Clare war einer der wenigen Menschen an diesem Hof, die die Kaiserin nicht fürchteten, sondern er schätzte sie, obwohl sie ihn nie vergessen ließ, dass seine ganze Familie es mit König Stephen hielt.

Er verneigte sich formvollendet vor ihr, und auf Henrys einladenden Wink hin zog er sich einen Schemel heran. »Ich bringe Neuigkeiten«, sagte er.

»Unerfreuliche?«, fragte Henry.

»Nicht unbedingt. Es hängt davon ab, was wir damit tun.«

»Also?«

Simon sah ihm einen Moment in die Augen. »Dein Bruder Geoffrey hat sich kurzfristig entschlossen, in den Hafen der Ehe zu segeln. Mit der frisch geschiedenen Aliénor von Aquitanien. Sie weiß allerdings noch nichts von ihrem bevorstehenden Glück. Er gedenkt, ihr aufzulauern und sie zu entführen.«

Niemand fragte, ob das sicher sei oder woher er es wisse.

»Du meine Güte. Erst Theobald von Blois, jetzt unser Geoffrey. Nie hatte eine Dame mehr eifrige Freier«, bemerkte die Kaiserin stattdessen. »Dabei sollte man doch meinen, dass kein Edelmann der Christenheit sie nach dieser anstößigen Scheidung mehr haben wolle.«

Henry schnalzte. »Du wirst mir doch hoffentlich nicht plötzlich bigott, Mutter? Wen kümmert es, dass die Braut geschieden ist, wenn sie halb Frankreich mit in die Ehe bringt?«

»Du wirst es unterlassen, meine Urteilskraft oder Motive infrage zu stellen«, wies Maud ihren Sohn zurecht, aber man hörte, dass sie es allmählich müde wurde, Respekt von ihm einzufordern. »Ich bin nicht bigott, sondern irritiert.«

Die Auflösung der Ehe von König Louis von Frankreich und seiner Königin, Aliénor von Aquitanien, war ein erdstoßartiger Skandal, der das ganze Land erschütterte, und Simon ahnte, dass sie die Nachbeben noch lange spüren würden. Der offizielle Scheidungsgrund war der übliche, den auch Alan damals bemüht hatte: In den Augen der Kirche seien König Louis und Königin Aliénor zu nah verwandt, hatte der Erzbischof von Sens auf einer Bischofssynode in Beaugency verkündet, also sei die Ehe null und nichtig. Der wahre Grund war wohl, dass Aliénor nur zwei Töchter bekommen hatte, Louis aber dringend einen Sohn und Erben brauchte. Oder vielleicht stimmten auch die Gerüchte, welche besagten, der König und die Königin von Frankreich hätten sich auf ihrem glücklosen Kreuzzug vor einigen Jahren hoffnungslos entzweit, und die verruchte Aliénor habe ein Verhältnis mit ihrem Onkel Raymond, dem Fürsten von Antiochia, gehabt. Aber so recht konnte niemand begreifen, was den frommen Louis besessen hatte, gegen das ausdrückliche Verbot des Papstes zu verstoßen und seine Ehe aufzulösen.

Henry rieb sich über die Oberschenkel. »Auf keinen Fall können wir zulassen, dass Geoffrey sie bekommt. Gott, wie kann er nur? Weiß er denn nicht, dass sie’s mit Vater getrieben hat damals in Poitiers, als er dort Seneschall war?«

Seine Mutter stützte die Hände auf die Sessellehnen und lehnte sich leicht vor. »Woher willst du das wissen?«

»Oh, komm schon, ma mère. Ich kann kaum glauben, dass dir das neu ist. Er war dir doch nicht einmal treu, als ihr noch zusammengelebt habt.«

»Dein Vater und ich haben niemals zusammengelebt – der Herr sei gepriesen für diese kleine Gnade –, und ich habe auf seine Treue keinerlei Wert gelegt. Aber Aliénor von Aquitanien? Bist du sicher?«

»Nein«, räumte ihr Sohn achselzuckend ein, verschränkte die Arme und begann, vor ihr auf und ab zu gehen. »Aber als ich letzten Sommer in Paris mein Glück bei ihr versuchen wollte, war er auf einmal voller moralischer Entrüstung und hat mir die fürchterlichsten Dinge angedroht, wenn ich es tue.«

»Was vielleicht daran lag, dass sie die Königin von Frankreich war und dein Vater und du eigens nach Paris gereist wart, um einen offenen Krieg mit König Louis zu vermeiden«, warf Simon ein.

»Wer weiß. Oder lag es daran, dass mein Vater befürchtete, ich könnte mich des Inzests schuldig machen, wenn ich mit derselben Frau schlafe wie er? Oder womöglich war er einfach nur eifersüchtig. Ihr könnt euch nicht vorstellen, wie er sie angesehen hat. Fehlte nur, dass er anfing zu sabbern …«

»Henry«, wies seine Mutter ihn scharf zurecht. »Ich gestatte nicht, dass du so von deinem Vater und der Königin von Frankreich sprichst. Es ist … politisch unklug.«

»Wieso?«

Die Kaiserin wechselte einen Blick mit Simon, und als der nickte, bat sie: »Sagt Ihr es ihm, de Clare.«

Simon wandte sich an Henry. »Du musst Aliénor von Aquitanien heiraten. Es ist der einzige Weg, um zu verhindern, dass dein Bruder oder irgendein anderer Glücksritter sie bekommt, der mit der Macht Aquitaniens im Rücken deine Pläne durchkreuzen könnte.«

»Um Himmels willen, Simon …« Henry trat zu einem seiner Wandteppiche und begann, die Fransen miteinander zu verknoten. »Das kann nicht dein Ernst sein. Sie ist mindestens zehn Jahre älter als ich. Sieh dir meine Eltern an, dann weißt du, wozu das führt.«

»Du sollst keine provençalische Liebesromanze nachspielen, sondern deine politische Zukunft sichern«, warf seine Mutter ein.

»Indem ich eine Frau heirate, die, wie du nicht zu Unrecht sagst, eigentlich keinem christlichen Edelmann mehr zuzumuten und deren Fruchtbarkeit zweifelhaft ist? Was für eine rosige Zukunft soll das sein?«

»Sie hat zwei Töchter bekommen«, entgegnete Simon.

»Aber keinen Sohn.«

»Was vermutlich mehr mit Louis’ frommer Enthaltsamkeit zu tun hat als mit Aliénors Fruchtbarkeit. Aber das ist im Augenblick zweitrangig. Sollten deine Befürchtungen sich bewahrheiten, kannst du den gleichen Weg beschreiten wie König Louis, denn du bist genauso ihr Cousin vierten Grades wie er. Wichtig ist im Moment nur dies: Mit ihrer Macht und ihrem märchenhaften Reichtum könntest du deine Stellung hier in Frankreich nachhaltig sichern und hättest endlich das nötige Geld, um deinen Anspruch in England geltend zu machen.«

Henry winkte ungeduldig ab. »Louis wird so wütend auf mich sein, wenn ich seine Frau heirate, dass er alles tun wird, um mir Steine in den Weg zu legen. Sie sagen, er vergöttert sie nach wie vor und heult seit der Scheidung jede Nacht sein Kissen nass.« Mit einem unfreiwilligen Grinsen fügte er hinzu: »Ich muss allerdings gestehen, die Vorstellung, Louis von Frankreich wütend zu machen, hat ihre Reize.«

»Er tut schon jetzt alles, um dir Steine in den Weg zu legen, und macht gemeinsame Sache mit Stephens widerwärtigem englischen Kronprinz«, gab die Kaiserin zu bedenken. »An der Front würde sich also nichts ändern. Aber wie de Clare sagt: Du hättest endlich die Macht, ihnen etwas entgegenzusetzen.«

»Henry von England, König von Aliénors Gnaden?«, fragte ihr Sohn zweifelnd. »Also, ich weiß nicht …«

»Es ist allemal besser als ›Henry, der gern König von England geworden wäre‹«, befand Maud.

Einen Moment schwiegen alle, und schließlich sagte Simon: »Ich verstehe deine Bedenken. Aber stell es dir nur einmal für einen Moment vor, Henry: Wenn du die Normandie, Anjou und das Maine mit Aquitanien vereinigst, herrschst du praktisch über Frankreich. Louis wäre von deinen Herrschaftsgebieten förmlich umzingelt. Du willst das Vexin? Bitte, nimm es dir, denn er wird keine Macht haben, dich zu hindern. Und wenn wir in England Erfolg haben und du König wirst, dann bist du ihm vor Gott ebenbürtig, und er kann keine Vasallendienste mehr von dir verlangen. Dein Reich wird sich von der schottischen Grenze bis zu den Pyrenäen erstrecken. Selbst der Papst wird sich zweimal überlegen, ob er dir Vorschriften macht, denn schätzungsweise fünfzig Bischöfe werden dir lehnspflichtig sein. Alles wäre möglich, Henry.« Simon breitete vielsagend die Hände aus. »Alles, was du willst.«

Henry hatte ihm aufmerksam gelauscht. »Alles, was ich will …«, murmelte er versonnen und begann, die Knoten in den Fransen wieder zu lösen. »Wieso wird mir auf einmal so mulmig bei der Vorstellung? Warum finde ich mich an die Stelle in der Bibel erinnert, wo der Teufel Jesus Christus versucht? Alle diese Macht will ich dir geben und ihre Herrlichkeit, wenn du mich anbetest. Oder so ähnlich.«

Simon lächelte ihn an. »Wenn dir mulmig wird, dann höchstens, weil du zu viel vom Hirschbraten gegessen hast. Macht hat dir noch nie Angst eingeflößt. Und ich bin kein teuflischer Verführer. Ich zähle lediglich Fakten auf.«

»Woher weißt du so was eigentlich immer?«, fragte der junge Herzog anklagend. »Mutter, hättest du aus dem Stegreif gewusst, wie viele Bischöfe es in England und Frankreich zusammengenommen gibt?«

»Nein«, räumte sie ein.

Simon winkte ab. »Du weichst mir aus. Aber du musst dich schnell entscheiden, ehe dein Bruder dir zuvorkommt. Was immer du tust, tu es jetzt.«

Henry dachte etwa so lange nach, wie es dauerte, ein Ave Maria zu beten – gründlich für seine Verhältnisse. Dann fragte er: »Weißt du, wo sie steckt?«

»In Tours.«

»Dann sei so gut, reise nach Tours, suche meine über alles geliebte Cousine Aliénor von Aquitanien auf und fühl ihr auf den Zahn, ob sie eventuell geneigt wäre, Königin von England zu werden. Und wenn du schon mal da bist, lass dir irgendetwas einfallen, damit mein Bruder sie nicht entführen und mir vor der Nase wegschnappen kann.«

Simon stand auf. »Wir brechen morgen früh auf und treffen dich anschließend in Lisieux.«

»Einverstanden.«

Simon verneigte sich zum Abschied vor der Kaiserin.

Sie nickte huldvoll. »Ihr seid ausgesprochen brauchbar für einen de Clare.«

»Ich werde verfügen, dass man das auf meinen Grabstein meißelt, Madame. Gute Nacht.«

Als er die Tür schon fast erreicht hatte, fiel plötzlich eine große Hand auf seine Schulter und wirbelte ihn herum. Ehe Simon das Gleichgewicht noch wiedererlangt hatte, schloss Henry ihn in die Arme und brach ihm fast die Rippen. »Danke, Simon. Das hätte ich fast vergessen. Danke, dass du das herausgefunden hast und mir wieder einmal aus der Misere hilfst.«

Der junge de Clare zog die Brauen hoch, wie immer amüsiert über Henrys Gefühlausbruch. »Keine Ursache, Euer Gnaden. Du weißt doch, es macht mir Spaß.«

»Dafür sei Gott gedankt.«

Mit einer Fackel, die er von der Wand im Korridor stibitzte, stieg Simon die Treppe hinab, durchquerte die Halle, wo allmählich Ruhe einkehrte, und verließ das Hauptgebäude der Burg. An einer der Holzhütten im Hof fiel noch Licht durch die Ritzen an Tür und Laden.

Simon klopfte.

»Was gibt’s denn?«, rief Godric, und im nächsten Moment öffnete sich die Tür. Eine hochschwangere junge Frau stand auf der Schwelle.

Simon nickte ihr zu. »Jeanne.« Sie war Godrics Frau. Normalerweise konnte Simon die beiden Schwestern aus Chinon nicht voneinander unterscheiden, aber wenn eine ein Kind erwartete, hatte er es leicht.

»Tretet ein, Monseigneur«, erwiderte sie höflich, aber ohne Wärme.

»Nein, vielen Dank.« Er sah über ihre Schulter hinweg in den Raum hinein. Auf Burgen herrschte immer Platzmangel, darum waren die Hütten, die Gesinde und Wachen beherbergten, bescheiden. An der Wand links von der Tür stand ein Tisch mit zwei Schemeln und einer schmalen Bank für Godric und Wulfric. In der gegenüberliegenden Ecke das breite Bett, auf dem Simons Freunde saßen, jeder einen Becher in der Hand. Marie, Wulfrics Frau, saß auf der Bettkante, die Hand ihres Mannes lag auf ihrem Oberschenkel. Drei kleine Kinder und ein Hund schliefen auf Strohlagern zu Füßen des Bettes. Einen Herd gab es nicht, denn alle Burgbewohner nahmen ihre Mahlzeiten in der großen Halle ein.

»Morgen früh bei Sonnenaufgang«, teilte Simon seinen Freuden sparsam mit.

Godric und Wulfric tauschten ein Grinsen. »Wohin?«, wollte Ersterer wissen.

»Die Loire hinauf«, antwortete er ausweichend.

Sie fragten nicht weiter. Sie waren es gewöhnt, dass Simon sie kurzfristig mit auf eine seiner geheimnisvollen Missionen nahm und ihnen erst unterwegs sagte, was das Ziel ihrer Reise war. Es gab dem Leben Würze, wie Wulfric gern ausführte. Die Zwillinge waren so abenteuerlustig wie eh und je.

Jeanne und Marie hingegen waren alles andere als glücklich darüber, wie oft Simon ihre Männer mit unbekanntem Ziel verschleppte, und sie gaben sich keine große Mühe, ihre Gefühle zu verbergen.

Vermutlich sollte ich mehr Verständnis für sie haben, befand Simon wohl zum tausendsten Mal, als er sein eigenes Quartier aufsuchte. Aber es war normal, dass Männer in die Ferne zogen und die Frauen zurückblieben und sich sorgten. Meist zogen sie sogar in den Krieg, und dorthin führte Simon seine Freunde nur, wenn es sich nicht umgehen ließ. Eigentlich hätten Jeanne und Marie ihm also dankbar sein müssen. Doch das waren sie nicht, und das hatte zur Folge, dass Simon von ihrem häuslichen Leben ausgeschlossen blieb.

Er mochte sein Quartier in Angers. Es war eine Kammer gleich über der Kapelle in einem der steinernen Nebengebäude der großen Anlage. Das Gemach war winzig, aber das machte ihm nichts aus. Seine Ansprüche waren bescheiden, und er stellte lediglich eine einzige Bedingung: Wo Henrys Hof auch immer weilte, verlangte Simon einen Raum für sich allein. Das war ungewöhnlich, bereitete dem Quartiermeister oft Kopfzerbrechen und trug zu Simons Ruf als Sonderling und Einzelgänger bei, aber er brauchte einen Rückzugsort, wo er unbelauert war und nach einem Anfall ausruhen konnte.

Sein einziger Nachbar war Vater Bertram, Henrys Kaplan und Beichtvater, der ihn niemals störte und ihm bereitwillig seine Bücher lieh, aber auch Vater Bertram blieb auf Distanz.

Simon entzündete die Kerze auf dem Tisch und löschte die Fackel. Dann schenkte er sich einen Becher Wein ein und setzte sich. Es war kalt in der unbeheizten Kammer. Das Bett mit den dunkelgrünen Vorhängen an der gegenüberliegenden Wand verhieß Wärme und Geborgenheit. Aber Simon wusste, er würde so bald keinen Schlaf finden. Wenn er sich jetzt niederlegte, würde er doch nur in die Dunkelheit starren und sich einsam fühlen, und das Heimweh nach England würde ihm zu Leibe rücken mit den Bildern von sonnengelbem Weizen auf den hügeligen Feldern von Lincolnshire, von schattigen Wäldern, von seiner Halle in Woodknoll, der Kirche von Helmsby und dem weiten Himmel über den Fens von East Anglia. In seinem Heimweh-England gab es keinen Krieg, keine niedergebrannten Dörfer oder zertrampelten Äcker, und es regnete auch nie.

Trotzdem war es ein gefährlicher Ort. Und um nicht dorthin verschlagen zu werden, zog er die Kerze näher und schlug das Buch auf, das vor ihm auf dem Tisch lag. Es waren lateinische Gedichte über den Heiligen Krieg. Simon interessierte sich nicht sonderlich für Kreuzzugslyrik, aber ihm war immer daran gelegen, sein Latein zu verbessern. Konzentriert folgten seine Augen den Zeilen von rechts nach links, von unten nach oben.