Devizes, Oktober 1147

Mit dem Herbst war die Nachricht nach Helmsby gekommen, dass der Gesundheitszustand des Earl of Gloucester sich rapide verschlechtert hatte. Alan war an einem nasskalten, stürmischen Tag aufgebrochen, und das Wetter hatte sich während der ganzen Reise nicht gebessert. Trotzdem hatte er weder sich noch sein Pferd geschont. Er wusste, er musste sich beeilen.

Auf schlammigen Straßen gelangte er über Oxford nach Wiltshire und kam am fünften Tag bei Sonnenuntergang in den kleinen Marktflecken Devizes, dessen schäbige Häuschen sich im Schatten der gewaltigen grauen Burg auf der Motte zu ducken schienen. Kein Mensch war auf der Straße zu sehen, und einige der Häuser wirkten dunkel und verlassen. Wegen der strategischen Bedeutung seiner Festung hatte Devizes in den beinah neun Jahren Krieg furchtbar gelitten, war mal von König Stephen, mal von den Truppen der Kaiserin Maud belagert, eingenommen und geplündert worden. Letztere hatten es schließlich behalten, und seit fünf Jahren hatte besagte Kaiserin sich hinter den dicken Mauern verschanzt und sie, so wurde gemunkelt, kein einziges Mal verlassen.

Die Zugbrücke war erwartungsgemäß geschlossen. Alan hielt am Rand des Grabens, nahm den Helm ab und ließ sich einen Moment den Regen auf den Kopf prasseln. Es machte nichts. Er war so oder so bis auf die Knochen durchnässt, und das Wasser erfrischte ihn. Er klopfte Conan den Hals und sagte: »Vierzig Meilen pro Tag. Wir waren gar nicht schlecht, bedenkt man das Wetter.«

»Wer da?«, brüllte eine Stimme aus der Wachkammer des Torhauses.

»Alan of Helmsby«, rief er hinüber.

Das hätte natürlich jeder behaupten können, aber die Zugbrücke begann sich unter vernehmlichem Kettenrasseln zu senken. Noch war es hell genug, um den Wachen zu zeigen, dass der Reiter allein gekommen war. Im Umkreis von zwei Meilen war jeder Baum gefällt worden, um der Gefahr eines Überraschungsangriffs zu begegnen. Die Kaiserin hatte sich in Devizes selbst zur Gefangenen gemacht, aber sie hatte alle Vorkehrungen getroffen, um keine Gefangene ihres verhassten Cousins Stephen zu werden.

Als Alan über die Brücke ins Torhaus ritt, erwarteten ihn zwei gerüstete und bis an die Zähne bewaffnete Wachen, die blanken Klingen in Händen. Einer hielt in der Linken eine Fackel und reckte sie hoch, bis sie das Gesicht des Ankömmlings beleuchtete. »Jesus in der Krippe … Ihr seid es wirklich.«

Alan nickte und saß ab. »Guy de Belfort. Ich habe Euch seit der Schlacht von Lincoln nicht mehr gesehen, glaube ich.« Er wusste, der vierschrötige Normanne zählte seit jeher zu den treuesten Leibwächtern der Kaiserin, was ihn indes nie gehindert hatte, mit deren Bruder in die Schlacht zu ziehen, wenn sie ihn entbehren konnte.

De Belfort winkte seufzend ab. »Das waren noch Zeiten. Da passierte wenigstens noch was. Ihr wollt zu ihr, nehme ich an?«

»So schnell wie möglich.«

Der Leibwächter steckte sein Schwert ein und trug seinem Gefährten auf: »Lass die Brücke wieder einziehen, Pierre, und jemand soll den Gaul versorgen. Kommt mit mir, Monseigneur. Sie empfängt heutzutage so gut wie niemanden mehr, aber ich schätze, für Euch wird sie eine Ausnahme machen.«

Aus dem Torhaus kamen sie zurück in den prasselnden Regen, und ihre Stiefel spritzten Schlamm auf, als sie durch den Innenhof zum steinernen Bergfried eilten. Belfort führte Alan die Außentreppe hinauf in die Halle. Dort war es still. Vielleicht ein Dutzend Soldaten hockten an den Tischen und aßen das Nachtmahl, aber kein anderweitiges Gefolge.

»Ein kleiner Hof für eine Kaiserin«, bemerkte Alan. Er sagte es spöttisch, um seine Beklommenheit zu verbergen.

Belfort nahm einer vorbeihastenden Magd das Tuch und den dampfenden Becher ab, die sie trug, und reichte Alan beide. »Wir hausen hier seit fünf Jahren. Das halten nicht viele aus. Und Ihr wisst ja, wie sie ist. Es fällt ihr nicht leicht, Ergebenheit in den Menschen zu wecken.«

Alan trank dankbar einen Schluck heißen Wein, trocknete sich mit dem Tuch das Gesicht ab und fuhr sich damit über das blonde Haar. Ohne großen Erfolg; es tröpfelte weiterhin auf seine Schultern. »Was nicht für Euch gilt«, bemerkte er und legte das Tuch auf dem Tisch ab.

»Nein«, stimmte der Normanne zu, und es klang grimmig. Belfort war ein Haudegen vom alten Schlag. Früher hatte Alan sich gern über Männer wie ihn lustig gemacht, die sich, ohne zu zögern, von einer Klippe gestürzt hätten, um der Kaiserin oder deren Bruder ihre Treue zu beweisen. Heute ertappte er sich dabei, dass er Belfort für seine Loyalität schätzte und um die Schlichtheit seiner Seele beneidete.

»Wartet hier einen Moment und esst etwas, Monseigneur«, schlug der Leibwächter vor. »Ihr seht nicht so aus, als hättet Ihr unterwegs gerastet.«

»Ich würde lieber rasiert als gefüttert zu ihr gehen«, bekannte Alan, denn es galt als ausgesprochen schlechtes Benehmen, anders als in untadeliger Erscheinung vor ein Mitglied der königlichen Familie zu treten.

De Belfort lächelte flüchtig. »Auch das lässt sich einrichten.« Er pfiff durch die Zähne und winkte einen Pagen heran.

Alan hätte Zeit für ein ausgiebiges Bad und ein mehrgängiges Festmahl gehabt, und seine Kleider waren fast trocken, bis es der Kaiserin endlich gefiel, nach ihm zu schicken. Inzwischen war es Nacht geworden, und er hatte allein mit Belfort in der Halle gesessen und gewartet, als ein weiterer Ritter erschien und sich formvollendet verneigte. »Seid so gut und folgt mir, Mylord.«

Er führte Alan eine Wendeltreppe hinauf zu den Privatgemächern der Kaiserin, klopfte an, öffnete und hieß ihn mit einer Geste eintreten.

Alan nahm den spärlich beleuchteten Raum mit den teppichverhangenen Wänden nur aus dem Augenwinkel wahr, denn sein Blick war auf die dunkel gekleidete schlanke Frauengestalt gerichtet, die reglos wie eine Statue auf halbem Weg zwischen Tisch und Bett stand. Zwei Schritte vor ihr blieb er stehen und kniete nieder. »Majesté.«

»Welch unerwartete Freude. Unser berühmtester Ritter hat nur fünf Jahre gebraucht, um den Weg hierher zu Uns zu finden.« Sie hatte eine irreführend warme Stimme, die niemals schrill klang, niemals zornig.

Er blickte unverwandt auf ihre golddurchwirkten Seidenschühchen. Jedes Mal, wenn er sie sah, verwunderte es ihn, dass eine so große Frau so kleine Füße haben konnte. »Ich bin überzeugt, Ihr habt inzwischen gehört, wo ich war.« Denn sie erfuhr immer alles. »Also warum sparen wir uns die Beteuerungen nicht? Ihr wüsstet ja doch, dass jedes Wort gelogen wäre.«

Diese war ihre dritte Begegnung. Da Alan immer an vorderster Front in ihrem Krieg gekämpft hatte, sie aus dem Hintergrund die Fäden zog, hatte sich nicht häufig die Gelegenheit ergeben, und weder er noch sie hatte sie gesucht.

Maud vollführte eine winzige Geste, die sich auf Zeige- und Mittelfinger der Linken beschränkte. »Erhebe dich, liebster Bastardneffe. Wir wissen, wie du es hasst, vor Uns zu knien.«

Er kam der Aufforderung sofort nach und widersprach ihr nicht. Endlich sahen sie sich in die Augen. Die ihren waren nussbraun und groß, umgeben von einem dichten Kranz dezent gefärbter Wimpern. Maud war eine höchst elegante Frau und viel zu würdevoll, um das Alter ihrer pergamentweißen Haut mit Schminke zu übertünchen. Es waren bewegte und oft schwere fünfundvierzig Jahre gewesen, die das Leben ihr beschert hatte, und die Kaiserin trug sie wie alles andere: mit Stolz.

»Und was mag der Anlass für diesen Besuch sein? Wir nehmen an, Gloucester schickt dich?«

Alan war erschrocken. »Ihr habt es noch nicht gehört?«

»Was sollen Wir gehört haben? Untersteh dich, Uns auf die Folter zu spannen.«

»Er liegt im Sterben.« Er sagte es leise, damit wenigstens seine Stimme behutsam war, wenn schon nicht seine Worte, und er senkte den Blick, denn er wollte nicht, dass sie sich belauert fühlte, während er ihr einen so hässlichen Schock versetzte. »Ich bin hier, um Euch zu ihm zu bringen. Falls es Euer Wunsch ist. Es wird ein höllischer Ritt durch grässliches Wetter, aber es sind nur dreißig Meilen bis nach Bristol. Wenn Ihr mir ein frisches Pferd borgt und wir sofort aufbrechen, kommen wir noch im Schutz der Dunkelheit an.«

Es war so lange still, dass ihm unbehaglich wurde, und schließlich murmelte er: »Ich warte draußen, bis Ihr Euch entschieden habt, Madame.«

»Nein, bleib nur«, bat sie unerwartet und streckte die Hand nach ihm aus. Es war eine zögerliche Geste – ganz und gar untypisch. »Mein Bruder Gloucester … liegt im Sterben«, wiederholte sie leise. Ungläubig. »Ich wusste, dass er krank ist. Aber ich hätte niemals gedacht, dass er geht, bevor unser Werk getan ist.«

»Ich bin sicher, es ist nicht sein Wunsch. Aber ich habe viele Männer sterben sehen, die noch große Pläne hatten. Es passiert.«

Zuerst glaubte er, sie werde nicht antworten. Es war gewiss nur der Schrecken, der sie für einen Augenblick bewogen hatte, die Maske zu senken. Für gewöhnlich wäre sie im Traum nicht darauf gekommen, ein persönliches Wort an ihn zu richten. Denn er war ein Nichts in ihren Augen, ein Bastard, allenfalls ein nützliches Werkzeug, aber nicht mehr wert als der Staub unter ihrem Seidenschuh. Sie war eine vom Papst gekrönte Kaisern. Vermutlich war sie der einzige Mensch auf der Welt, für den die englische Krone nicht wirklich gut genug war …

»Oh ja. Das weiß ich nur zu gut«, antwortete sie unerwartet. »Bei meinem ersten Gemahl war es genauso. Aber Gloucester kam mir immer stärker vor als gewöhnliche Sterbliche.«

Alan nickte. »Wir haben uns getäuscht, Madame.«

Abrupt sah sie ihn wieder an, und eher versehentlich erwiderte er ihren Blick.

»Du trauerst«, bemerkte sie überrascht.

Er biss die Zähne zusammen.

»Natürlich«, ging ihr auf. »Er war für dich das, was einem Vater am nächsten kommt, nicht wahr?«

»Könntet Ihr gütigst damit aufhören?«, knurrte er. »Oder ist Euch so daran gelegen, mich heulen zu sehen?«

»Lieber du als ich«, konterte sie. »Wenn du die Fassung verlierst, werde ich meine behalten, und daran wäre mir in der Tat sehr gelegen.«

Seine Augen brannten, und mit einem Mal spürte er Erschöpfung wie einen schweren, nassen Wollmantel auf den Schultern. »Wollt Ihr zu ihm?«

Die Kaiserin nickte, ohne ihn aus den Augen zu lassen. »Warum tust du das?«

»Was?«

»Kommst hierher und bietest mir dein Geleit an? Unaufgefordert. Ich kann mich nicht entsinnen, je ein freundliches Wort zu dir gesagt oder dir für all das gedankt zu haben, was du für meine Sache getan hast. Also, warum?«

»Ich tu’s für ihn«, erklärte er kurz angebunden.

Sie verzog höhnisch die Mundwinkel. »Du weißt genau, dass ich der letzte Mensch bin, den er sich an sein Sterbebett wünscht, denn ich habe immer zwischen ihm und der Krone gestanden, nach der er sich insgeheim sehnte. Also, sag mir die Wahrheit.«

»Hätte ich gewusst, dass Ihr mich diesem Verhör unterzieht, wäre ich gewiss nicht gekommen«, antwortete er bissig. »Was spielt es für eine Rolle?«

Sie sah ihn unverwandt an, so als hätten sie alle Zeit der Welt.

Alan verdrehte ungeduldig die Augen. »Na schön«, grollte er dann. »Es erschien mir richtig, das ist alles. Ihr solltet an seiner Seite sein, denn Ihr seid seine Schwester. Und ich dachte, vielleicht sollte ich derjenige sein, der Euch zu ihm bringt, weil es an der Zeit ist, dass ich einmal wirklich etwas für Euch tue. Alles, was ich in Eurem Krieg vollbracht habe − was immer es wert sein mag −, habe ich aus Zorn über den Tod meines Vaters getan. Für ihn oder womöglich für mich, nie für Euch, meine rechtmäßige Königin. Und ich dachte, dies hier sei möglicherweise meine letzte Gelegenheit, das nachzuholen.«

Mit einem Mal war die Kaiserin diejenige, die um Haltung rang. Ohne Hast ging sie zum Tisch, wandte Alan den kerzengeraden Rücken zu und trank einen kleinen Schluck Wein. Es dauerte einen Moment, bis sie den Pokal zurückstellte. Dann sah sie Alan wieder an. »Weißt du, ich kannte in meinem Leben nur einen Menschen, der in der Lage gewesen wäre, etwas so Törichtes zu sagen und zu tun, und das war dein Vater. Du bist ihm so ähnlich, Alan.«

Er lächelte. Er wusste, er könnte hundert Jahre warten und würde doch niemals ihr Eingeständnis hören, dass sie ihn immer gehasst hatte, weil sie ihn für den Tod seines Vaters – ihres über alles geliebten kleinen Bruders – verantwortlich machte. Aber er stellte fest, dass er ihr das nicht mehr übel nahm, nachdem er erkannt hatte, dass er selbst in dieselbe Falle getappt war. »Madame, ist es das Wetter, das Ihr scheut?«, fragte er. »Denn wenn wir nicht bald losreiten, wird es Tag, eh wir ankommen, und wir werden Stephens Schlächtern in die Hände fallen.«

»Worauf wartest du dann? Hol mir den Mantel, du Flegel.«

Sie gelangten unbehelligt nach Bristol, als die nachtschwarzen Wolken sich im Osten gerade dunkelgrau verfärbten.

Eine gedämpfte Betriebsamkeit herrschte auf der Burg, Menschen eilten geschäftig bald hierhin, bald dorthin, aber sie sprachen mit leisen Stimmen, und man hörte niemanden lachen. Bristol Castle war bereits ein Trauerhaus.

Alan hatte die Kaiserin sicher an der Tür zu Gloucesters Privatgemächern abgeliefert, saß allein in dem kalten, unwirtlichen Vorraum und wartete, als Gloucesters Sohn William die Treppe heraufkam.

»Alan! Die Wache sagte mir, dass du gekommen bist.«

Alan nickte ihm zu. »Wie steht es?«

Sein Cousin schüttelte seufzend den Kopf. »Es wird nicht mehr lange dauern, sagt der Arzt.«

Alan lehnte sich mit den Schultern an die kalte Mauer und schaute zu ihm hoch. »Dann wird es auch nicht mehr lange dauern, bis du Earl of Gloucester wirst.«

Der schlaksige William mit den wilden Locken und den großen, staunenden Augen wirkte wie ein verlorenes Lamm in einem Platzregen. »Daran darf ich gar nicht denken«, gestand er.

»Du wirst es schon gut machen«, sagte Alan beschwichtigend.

William sank neben ihm auf die Bank. »Aber was werden wir nur tun, Alan? Was können wir tun, wenn mein Vater nicht mehr da ist?«

»Kein Mensch ist unersetzlich. Aber auf jeden Fall werden wir uns zusammensetzen und überlegen müssen, wo wir stehen. Was genau wir eigentlich wollen. Die Kaiserin wird uns ihre Wünsche mitteilen, da bin ich sicher, und dann müssen wir entscheiden, wie wir weiter vorgehen wollen.«

»Wenn ich dir die Wahrheit sagen soll, Alan: Mir wär’s das Liebste, wir würden Frieden mit Stephen schließen. Sind wir doch mal ehrlich, er ist im Grunde kein so übler Kerl. Und er hat die Nase vorn. Ich bin diesen Krieg satt

»Wer ist das nicht«, stimmte Alan zu, aber gleichzeitig dachte er beklommen: Du bist ein Feigling, William. Das warst du immer schon. Deine Gründe, warum du diesem Krieg ein Ende machen willst, sind die falschen. Er ist dir unbequem, und du fürchtest dich, Risiken einzugehen. Dein Vater war der Pfeiler, auf dem die Macht der Kaiserin ruhte. Du bist ein Strohhalm. »Wir dürfen jetzt nicht aufgeben, William. Der Verlust deines Vaters ist ein schwerer Schlag für unsere Sache, daran kann es keinen Zweifel geben, aber wir müssen durchhalten, bis der junge Henry Plantagenet alt genug ist, um herzukommen und seinen Anspruch durchzusetzen.«

»Aber wieso?«, fragte William verständnislos. »Was kümmert uns sein Anspruch? Er ist Franzose. Was geht England ihn überhaupt an?«

»Wieso?«, wiederholte Alan fassungslos. »Weil er unser Cousin ist. Und weil das Lebenswerk deines Vaters verschwendet wäre, wenn wir es nicht tun.«

William seufzte tief und nickte unwillig. »Du hast natürlich recht. Nur gut, dass du wieder da bist.« Er lächelte ihn kläglich an. »Ich werde deine Hilfe brauchen, schätze ich.«

Dann lass uns hoffen, dass du sie auch annimmst, wenn es hart auf hart kommt, dachte Alan.

Es war schon Abend, als er endlich zu seinem Onkel gerufen wurde.

Die kostbaren Brokatvorhänge des Bettes waren zurückgeschoben. Drei Kerzen standen auf der Truhe daneben und flackerten in der Zugluft. Robert of Gloucester lag mit geschlossenen Augen auf dem Rücken. In den drei Monaten, die seit Alans Besuch vergangen waren, war er bis auf die Knochen abgemagert, und der Kopf wirkte eigentümlich klein, das dicke Kissen geradezu lächerlich riesig im Vergleich.

Die Lider öffneten sich, als Gloucester den leisen Schritt hörte. »Alan.«

»Mylord.«

Die knochige alte Hand, die auf der Decke lag, schob sich in Alans Richtung. Er setzte sich auf die Bettkante und umschloss sie mit seinen beiden.

»Heute Nacht besteige ich endlich das White Ship, mein Junge.«

»Möge es Euch an glückliche Ufer tragen.«

»Es war eigentlich meins, wusstest du das?«

Alan schüttelte den Kopf. Er konnte seiner Stimme nicht trauen.

Gloucester schloss einen Moment die Augen. »Der König hatte es mir geschenkt. Und ich war … so stolz. Aber dann hat er es vergessen, und als William … als dein Vater ihn fragte, ob er es für die Heimreise haben könne, hat der König eingewilligt. Und wieder einmal … hatte der Thronfolger gewonnen und der Bastard das Nachsehen. Ich war so zornig deswegen. Es waren bittere Worte, die ich meinem Bruder mit auf seine letzte Reise gegeben habe …«

»Quält Euch nicht damit, Mylord. Ihr wart jung. Eure Enttäuschung nur verständlich. Ihr konntet nicht wissen, was passieren würde.«

»Nein. Aber die Tatsache bleibt: Eigentlich hätte ich ertrinken sollen. Nicht er.«

»Das lag in Gottes Hand. Er hat beschlossen, ihn zu sich zu rufen und Euch hierzulassen.«

Gloucester lächelte matt. »Das war es … was ich von dir hören wollte. Denn es gilt für dich ebenso wie für mich. Es war … weder deine Schuld noch meine, sondern Gottes Plan. Vergiss das nicht.«

Alan schluckte mühsam. »Nein.«

»Ich wünschte nur, ich hätte noch erlebt, dass es ein Ende nimmt«, vertraute Gloucester ihm flüsternd an. »Dass dieses verfluchte Schiff endlich aufhört, unschuldige Menschen in den Tod zu reißen. Denn es sinkt … immer noch.«

Alan nickte.

»Ich hätte es … so gern wiedergutgemacht.«

»Ihr habt getan, was Ihr konntet.«

»Den Rest wirst du tun müssen.«

»Ihr habt mein Wort.«

Gloucester atmete tief aus. »Dann … kann ich also beruhigt an Bord gehen.« Er ließ seine Hand los.

Alan stand auf, beugte sich über den Sterbenden und küsste ihm die Stirn. »Geht mit Gott, Mylord.«

Robert of Gloucester starb am Abend des einunddreißigsten Oktober, in der Nacht vor Allerheiligen. Es sei eine gefährliche Nacht für jede Seele, die gerade erst ihre sterbliche Hülle verlassen habe, bekundete Gloucesters Sohn Roger, der Priester war, denn in dieser Nacht wanderten die Geister der Toten. Darum ordnete er an, den Verstorbenen umgehend in die Kapelle zu tragen. »Mutter ist bereits dort«, fügte er hinzu.

William nickte. »Dann sollten wir gehen und ihm die Totenwache halten. Kommst du, Alan?«

Er schüttelte den Kopf. »Ich kann nicht.«

»Was? Wieso nicht?«, fragte William entgeistert.

Alan zögerte einen Moment zu lange und gab Roger damit Gelegenheit, das Wort zu ergreifen. »Weil er exkommuniziert ist«, erklärte der junge Geistliche verächtlich.

William zog erschrocken die Luft ein und wich einen halben Schritt zurück. »Was? Oh mein Gott, Alan … Ist das wahr?«

Alan fühlte sich dumpf vor Trauer. Er wollte seine Ruhe, und mehr als alles andere sehnte er sich nach der tröstlichen Stille einer Kirche. Es machte ihm zu schaffen, dass sie ihm versagt bleiben musste, und so war dies hier das Letzte, was ihm gefehlt hatte. Er musste sich räuspern. »Es ist wahr.«

»Aber wieso?«, fragte William. »Was hast du getan?«

»Ich habe eine jüdische Frau geheiratet.«

»Oh …« Es war ein unsicherer Laut. William schien unschlüssig, was er davon halten sollte, aber seine Miene verriet, dass er das Vergehen nicht so furchtbar schwer fand.

»Und das ist nicht alles«, stellte Roger klar. »Er hat sich mit jüdischen Wucherern verschworen und den Subprior von Norwich mit der Waffe bedroht. Das wollen wir nicht vergessen, nicht wahr, Cousin? Oder willst du es leugnen?«

Alan sah ihn an, und er konnte kaum glauben, welche Feindseligkeit in den dunklen Augen stand. Roger war ein paar Jahre jünger als er und William, war ein Knirps gewesen, als Alan in den Haushalt seines Onkels gekommen war, und hatte eine große Vorliebe dafür gehabt, auf Alans Knie zu reiten …

»Stehe ich hier vor Gericht, Roger?«, fragte er kühl.

»Fürs Erste nicht. Aber ich bin sicher, der Earl of Gloucester hätte gern eine Antwort.«

Alan stieß verächtlich die Luft aus. »Gott, dein Vater ist noch nicht einmal kalt, und da kommst du daher und …«

»Er hat trotzdem recht, Alan«, fiel William ihm ins Wort – untypisch schneidend. »Ich hätte gern eine Antwort.«

Alan sah ihn an. Das hielt William nicht lange aus. Als er den Blick niederschlug, sagte Alan leise: »Es gab keine Verschwörung. Aber ich habe den Subprior mit dem Schwert bedroht, das ist richtig.«

William fragte nicht nach den Gründen. Kopfschüttelnd brachte er noch einen weiteren Schritt Abstand zwischen sie und sagte dann: »Ich fürchte, in dem Fall muss ich dich bitten, uns zu verlassen.«

»Du … du schließt mich von der Beerdigung deines Vaters aus?«

William sah ihn unglücklich an. »Alan, ich …«

»Ja. Das tut er«, unterbrach Roger entschieden. »Es ist ein heiliger Ritus, bei dem du nichts verloren hast. Es würde das Andenken unseres Vaters besudeln, dich dort zu dulden.«

Zorn und brennende Scham drohten Alan aus der Fassung zu bringen. Er war es nicht gewohnt, sich so demütigen lassen zu müssen. Er wandte sich zur Tür. »Sagt der Kaiserin, ich steige in der Stadt im Gasthaus ab. Sie soll mir Nachricht schicken, wenn sie zurückwill«, sagte er über die Schulter.

»William wird sie zurück nach Devizes geleiten«, widersprach Roger.

Alan blieb noch einmal stehen. Ohne sich umzuwenden, gab er zurück: »William wird die Flucht ergreifen, sobald er unterwegs einen fremden Reiter sichtet, und sie ihrem Schicksal überlassen. Ich habe sie hergebracht. Ich bringe sie zurück.«

»Du wirst Bristol und meine Grafschaft auf der Stelle verlassen«, entgegnete William wütend. »Oder ich verhafte dich und sperre dich ein.«

Alan sah lächelnd über die Schulter. »Ich fürchte, das wird nicht so einfach, wie du dir vorstellst. In Bristol wird sich kaum jemand finden, der gewillt wäre, Hand an mich zu legen.«

»Sei nicht so sicher«, sagte Roger ungerührt. »Du weißt es vielleicht noch nicht, aber du wirst staunen, wie unpopulär eine Exkommunikation einen Mann machen kann, sogar einen Helden wie dich. Im Handumdrehen, Alan. Darum rate ich dir: Schick deine jüdische Frau fort und krieche auf Knien zum Bischof nach Norwich. Bereue deine Freveltaten und tu Buße. Dann nimmt er dich vielleicht wieder auf.«

Wortlos ging Alan hinaus.

Er hatte Williams Befehl so lange missachtet, wie er brauchte, um die Kaiserin ausfindig zu machen und ihr zu erklären, dass er aus Bristol verbannt sei und warum und sie entweder jetzt gleich oder gar nicht zurück nach Devizes begleiten könne. Unerwartet willigte sie ein. Es sei ohnehin zu gefährlich für sie, der Beisetzung ihres Bruders beizuwohnen, und, erklärte sie unverblümt, sie besitze auch nicht das erforderliche Maß an Mut oder Torheit, um sich dem Schutz ihres jämmerlichen Neffen William anzuvertrauen.

Es war Balsam für Alans gekränkten Stolz.

Die Nacht war kalt und windig, aber trocken, und ein halber Mond erhellte ihren Weg. Die Kaiserin zeigte sich ungewohnt huldvoll. Offenbar war sie ihm tatsächlich dankbar, dass er ihr ermöglicht hatte, sich von ihrem Bruder zu verabschieden. Sie sprachen indessen nicht viel. Alan hielt Augen und Ohren offen, denn das Mondlicht machte ihren Ritt riskant. Aber nichts rührte sich, kein Mensch begegnete ihnen, und die Geister behelligten sie auch nicht, sodass er Maud bei Tagesanbruch sicher am Torhaus abliefern konnte.

Als sie über die Zugbrücke ritten, drehte sie sich im Sattel um und schaute zurück. »Ein trauriger Anlass, aber ein willkommener Ausflug aus meinem Gefängnis.«

»Ich hoffe, Ihr werdet nicht mehr lange hier ausharren müssen.«

»Hm.« Er klang halb amüsiert, halb verächtlich. »Das hat Gloucester vor fünf Jahren auch gesagt. Aber wenn du die Wahrheit wissen willst: Ich habe das Gefühl, dass meine Tage in England gezählt sind. Ich denke, es wird Zeit, die Fackel meinem Sohn zu übergeben.«

Alan nickte. »Ich bin sicher, er brennt darauf.«

Sie lächelte schmallippig über sein wenig geistreiches Wortspiel. »Ganz gewiss. Er ist genauso ehrgeizig und ungestüm wie sein Vater, dieser fürchterliche Mensch.«

Alan unterdrückte ein Grinsen. Zu seiner Überraschung musste er feststellen, dass die Kaiserin gar kein so übler Kerl war. Er verneigte sich im Sattel. »Lebt wohl, Majesté

»Oh nein. Du wirst schön hierbleiben. Du hast zwei Nächte nicht geschlafen und kannst schwerlich an einem Kloster haltmachen, nicht wahr?« Sie ritt ins Torhaus, und ohne sich nach ihm umzuschauen, fuhr sie fort: »Ich erwarte dich zur Mittagsstunde in meinen Gemächern, dann machen wir Pläne. Sei ausgeruht und untersteh dich, zu spät zu kommen.«

Seufzend folgte Alan ihr in die Burg. »Man kann merken, dass Ihr eine Enkelin des Eroberers seid, Madame.«

»Woran?«

»Am Ton.«

Sie gab ein kurzes, höhnisches Lachen von sich. »Jedem das Seine. Du hast seinen Schwertarm geerbt, heißt es. Der hätte mir nichts genützt. So blieben nur der Ton und der Wille zur Macht. Bonne nuit, Bastardneffe.«