Norwich, Oktober 1152
»Tu es, Josua«, drängte Alan leise. »Es ist doch sinnlos, länger zu warten.«
»Nein.« Wulfric schüttelte wütend den Kopf. »Es würde ihn umbringen.«
Dein Bruder stirbt so oder so, dachte Alan, aber er sagte es nicht. Sie führten diese Debatte nicht zum ersten Mal.
Es war schon ein kleines Wunder, dass Godric noch lebend in Norwich angekommen war, denn sie hatten über eine Woche gebraucht. Mehr als zwanzig Meilen pro Tag waren bei dem schauderhaften Wetter auf schlammigen Straßen mit dem Karren einfach nicht zu schaffen gewesen. Während der ganzen Reise war Godric kein einziges Mal zu sich gekommen, aber sein Herz schlug noch.
Alan und Simon hatten die Zwillinge ins Hospital gebracht, damit Josua nicht wieder in die Verlegenheit geriet, nicht jüdische Patienten unter seinem Dach beherbergen zu müssen. In einer hellen, warmen Kammer im Obergeschoss des Hauptgebäudes lagen Godric und Wulfric seither in einem Bett mit sauberen Laken, und Josua hatte für sie getan, was er konnte. Die Striemen und Wunden waren gut abgeheilt. Aber Godrics Bewusstlosigkeit schien von Tag zu Tag tiefer zu werden. Irgendwann auf der Reise hatte er Fieber bekommen, das sich einen Tag später auch bei seinem Bruder einstellte. Seither stieg und fiel es wie die Flut des Meeres, und beide Zwillinge wurden zusehends schwächer.
»Ich fürchte, dein Bruder hat den Schädel gebrochen, Wulfric«, hatte Josua ihm eröffnet.
»Man kann sich den Schädel brechen? So wie ein Bein?«, hatte Wulfric erstaunt gefragt.
»So ähnlich, ja.«
»Und … kann er nicht wieder heilen? Wie ein gebrochenes Bein?«
Josua hatte zögernd genickt. »Es kommt vor. Aber ich fürchte, Godric ist zu geschwächt.«
»Wie sind seine Chancen?«
»Sehr gering. Wenn … wenn du mir erlauben würdest, euch zu trennen, bestünde wenigstens für dich Hoffnung.«
»Kommt nicht infrage. Nicht, solange er noch atmet.«
»Aber auch du wirst schwächer vom Fieber. Wir können nicht mehr lange warten, verstehst du.«
»Nicht, solange mein Bruder noch atmet.«
Und dabei war es geblieben.
Simon und Alan wachten abwechselnd mit Josuas Söhnen bei den Zwillingen und flößten Godric tropfenweise Wasser ein, damit er nicht verdurstete. Mehr konnten sie nicht tun.
»Wäre ich doch nur einen Tag eher zu Stephen geritten«, murmelte Alan.
Simon betrachtete ihn kopfschüttelnd. »Es ist Unsinn, dass du dir Vorwürfe machst. Es war unsere Entscheidung, Wallingford mit neuen Vorräten zu versorgen. Du hattest im Grunde doch gar nichts damit zu tun. Versteh mich nicht falsch, ich bin froh, dass du gekommen bist. Aber eigentlich brauchen wir kein Kindermädchen.«
Sie saßen auf der Bettkante, Simon auf Wulfrics Seite, Alan auf Godrics, und sie sprachen leise, denn Wulfric war eingeschlafen. Er sah kaum besser aus als sein Bruder, bleich, die unrasierten Wangen eingefallen.
»Ich kann kaum fassen, welches Risiko du für uns eingegangen bist«, fuhr Simon fort. »König Stephen hat dich geächtet. Wenn irgendwer an seinem Hof dich erkannt hätte, wäre die Reise in Westminster für dich vorbei gewesen.«
Alan zeigte ein kleines, grimmiges Lächeln und antwortete nicht. Er tauchte den Zipfel eines sauberen Leintuchs in die Wasserschale und benetzte Godric damit die Lippen. Die Knöchel seiner rechten Hand waren abgeschürft. Alan ließ sich kein Wort über seinen gefährlichen Botengang zu König Stephen entlocken, aber reibungslos war er nicht verlaufen, so viel stand fest.
»Du solltest zu Henry zurückkehren«, sagte Alan. »Er muss erfahren, was hier vorgeht.«
»Ja, ich weiß«, gestand Simon. »Aber ich kann nicht gehen, eh ich weiß, was aus Godric und Wulfric wird.«
Alan warf ihm einen Blick zu, der so viel sagte wie: Wir wissen doch beide, was aus ihnen wird.
»Sie haben Frauen«, rief Simon ihm mit unterdrückter Heftigkeit in Erinnerung. »Godric hat zwei Söhne, Wulfric eine kleine Tochter. Was soll ich ihnen sagen?«
»Ich weiß es nicht. Ich habe so oft vor den Witwen und Waisen der Männer gestanden, deren Leben dieser Krieg gefordert hatte, aber ich habe die richtigen Worte nie gefunden. Vermutlich gibt es sie einfach nicht.«
»Wäre es doch nur der Krieg gewesen, der sie das Leben gekostet hat. Das wäre wenigstens ehrenhaft.«
»Aber es war Haimon, ich weiß. Mein Cousin. Der Rache an ihnen genommen hat, weil sie und du damals die Wahrheit aus ihm herausgeholt habt. Für mich. Also erzähl mir nicht, diese Sache ginge mich nichts an.«
Simon schüttelte den Kopf. »Ich sag dir, warum sie jetzt so daliegen, Alan: weil sie zusammengewachsen sind. Missgebildet. Wäre das nicht der Fall, hätte Haimon sie einfach erschlagen oder aufgehängt. Aber so hat er sie an den Pranger gestellt, sie zu einer … Jahrmarktsattraktion gemacht und zu seinen Männer gesagt: Na los, lasst eure üble Laune an ihnen aus. Ihr dürft tun, was ihr wollt, ohne ein schlechtes Gewissen haben zu müssen, denn sie sind nicht wie wir. Sie sind wertlos.«
»Du täuschst dich«, widersprach Alan. »Haimon hätte genau das Gleiche getan, wenn sie nicht zusammengewachsen wären. Weil sie zwei angelsächsische Bauern sind, die es gewagt haben, einen normannischen Edelmann zu demütigen. Es hatte viel mehr mit Stand zu tun als mit Missbildung. Du unterteilst die Welt nur in Kranke und Gesunde, Simon, und immer läufst du Gefahr, dem Unterschied zu viel Bedeutung beizumessen. Darum räumst du der Fallsucht mehr Macht über dein Leben ein, als sie eigentlich besitzen sollte. Dabei sind die Gesunden doch ebenso wenig Herr über ihr Schicksal, haben ebensolche Schwächen und Selbstzweifel. Gerade du, der so viele finstere Geheimnisse kennt, müsstest das doch eigentlich wissen.«
Simon erinnerte sich, dass Philippa etwas ganz Ähnliches zu ihm gesagt hatte. Die Fallsucht sei bedeutungslos, hatte sie behauptet. Ihr habt beide keine Ahnung, wovon ihr redet, wollte er einwenden, aber schon in seinem Kopf hörten die Worte sich schwächlich und wehleidig an, also hielt er lieber den Mund. Er legte im Übrigen keinen Wert darauf, sich nach Philippa auch noch mit Alan zu überwerfen.
Der hatte das Tuch wieder eingetaucht und kühlte Godric die Stirn. Ohne aufzuschauen, fragte er: »Wie ist Haimon gestorben?«
»Viel zu schnell und zu leicht. Ich habe mein Messer aus dem Stiefel gezogen und ihm ins Herz gerammt.«
Alan nickte wortlos.
Simon betrachtete ihn eingehend. »Zürnst du mir?«, fragte er dann. »Scheusal oder nicht, er war dein Cousin.«
»Im Gegenteil. Ich bin erleichtert, dass du es getan hast, denn ich habe immer befürchtet, ihn eines Tages selbst töten zu müssen. Seit er mir die Wahrheit über den Kreuzfahrermantel gestanden hat, ist das Band zwischen uns zerschnitten, und ich habe aufgehört, den Cousin meiner Kindheit zu vermissen. Sein Tod … berührt mich nicht.«
»Wieso habe ich dann das Gefühl, dass er dir zu schaffen macht?«, hakte Simon nach. »Ist es … Susanna?« Er sah Alan scharf an, und obwohl der alles daransetzte, nichts preiszugeben, kam Simon ihm auf die Schliche. »Der Gedanke an ihren Kummer erfüllt dich mit Genugtuung«, sagte er langsam. »Und das macht dir zu schaffen, weil es kein besonders netter Zug ist.«
Alan wandte ihm den Rücken zu, tauchte das Tuch in die Schale und wrang es aus, als wolle er ihm die Gurgel umdrehen. »Manchmal bist du wirklich unheimlich«, knurrte er. »Kein Wunder, dass sie dich Merlin nennen.«
»Oh, wärmsten Dank. Ich hasse es, wenn sie mich so nennen.«
»Ich weiß.«
»Sag mir lieber, was wir mit Eustache de Boulogne tun. Denn verglichen mit Eustache war Haimon ein Schoßhündchen.«
Alan fuhr fort, Godric die Stirn zu kühlen und Wasser einzuträufeln. »Denkst du, dass König Stephen seinen Sohn kontrollieren kann?«, fragte er nach einer Weile.
»Derzeit ja. Aber ich weiß nicht, wie lange noch. Ungeduld und Rebellion brodeln in Eustache. Er hält sich für tapferer und gescheiter als sein Vater – vermutlich ist er beides – und ist es müde, an der kurzen Leine gehalten zu werden.«
»Das ist gut.«
»Du meinst, Zwietracht zwischen König und Kronprinz schwächt sie und stärkt Henry?«
»Natürlich.«
»Trotzdem ist mir nicht wohl bei dem Gedanken, der Kronprinz könnte sich der Kontrolle durch seinen Vater entziehen. Er ist … fürchterlich, Alan.«
»In den Fens sagen die Leute, er sei schlimmer als Geoffrey de Mandeville.«
»Mich erinnerte er an Regy.«
»Was hatte er mit dir vor?«, fragte Alan nicht zum ersten Mal.
Aber wie jedes Mal zuvor schüttelte Simon den Kopf und schwieg.
»Blei«, murmelte Godric undeutlich, und seine Lider flackerten.
Wulfric riss die Augen auf. »Godric?«
»Gebt ihm … einen Becher Blei zu saufen …«
Simon und Alan wechselten einen fassungslosen Blick. Dann legte Alan dem Erwachten behutsam die Hand auf die Brust. »Still, Godric. Es hat dich ziemlich erwischt, du darfst dich nicht bewegen.«
Godric schlug die Augen auf. Sie waren blutunterlaufen, aber nach einer Weile wurde der Blick klarer. Seine linke Hand tastete, bis er die Rechte seines Bruders fand. Er schaute Alan an, dann Simon. »Ein Becher Blei. Es war Haimons Idee. Ich hab gesagt … ich hab gesagt, das sei allemal besser als ein Kreuzfahrermantel und drei Jahre auf der Insel. Und da hat er …« Er blinzelte. »Er hat …«
»Er hat das Stemmeisen genommen, das in der Nähe lag, und dir mit aller Kraft damit eins über den Schädel gezogen«, half Wulfric ihm auf die Sprünge, richtete sich vorsichtig ein Stück auf und beugte sich über ihn. »Mach dir nichts draus, Bruder, blöder kannst du davon auch nicht mehr werden. Und jetzt tu, was Alan sagt, halt den Mund und lieg still. Du warst zwei verdammte Wochen lang bewusstlos, und ich kann dir gar nicht sagen, wie gründlich ich die Schnauze davon voll hab, hier neben dir zu liegen und drauf zu warten, dass wir krepieren.«
Godric schenkte ihm ein strahlendes Lächeln, schloss die Lider und schlief ein.
Alan ging zur Tür. »Ich hole Josua.«
Simon wartete, bis er mit den Zwillingen allein war, ehe er fragte: »Es war Haimons Idee?«
Wulfric nickte.
»Dann hab ich wohl doch den Richtigen erwischt.«
»Keine Frage. Aber um Eustache wär’s auch nicht schade gewesen. Er hat gesagt, er würde es mit dir ausprobieren, und wenn das Ergebnis ihn zufriedenstelle, wolle er den zweiten Becher gleich für Henry Plantagenet warmstellen.«
Simon schnaubte. »Den müsste er erst einmal kriegen.«
»Genau das könnte passieren, wenn Henry nach England kommt. Du hast gesehen, wie viele Männer Eustache allein in Wallingford hatte. König Stephens Rückhalt in England ist stark.«
Simon nickte. »Stärker, als ich gedacht hätte, wenn ich dir die Wahrheit sagen soll. Bleibt zu hoffen, dass die Lords die richtige Entscheidung treffen, wenn sie feststellen, dass sie die Wahl zwischen Eustache und Henry haben.«
Alan war in Norwich geblieben, bis er selbst glauben konnte, was Josua ihm schon seit Tagen gesagt hatte: Godric war auf dem Wege der Besserung und würde genesen. Dann hatte Alan mit Simon, den Zwillingen und Luke ein kleines Abschiedsfest gefeiert und war aufgebrochen.
An einem scheußlichen nasskalten Herbsttag kam er bei Dämmerung nach Helmsby zurück. Er gab Conan in Edwys Obhut, und als er mit eiligen Schritten den Burghof durchquerte, entdeckte er Oswald und King Edmund am Eingang des Viehstalls.
»Losian! Da bist du ja wieder.«
»Oswald, King Edmund. Alles wohlauf in Helmsby?«
Seine beiden Gefährten nickten.
»Was treibt ihr hier draußen in der Kälte?«, fragte Alan.
»Wir wollten gerade zurück in die Halle, aber unser junger Kuhhirte hier hätte keinen Bissen herunterbekommen, bevor er mir zeigen durfte, wie fachmännisch er einem deiner Kälber das Bein verbunden hat.« Edmund betrachtete Oswald mit einem wohlwollenden Lächeln, ehe er Alan fragte: »Und wie ist es dir ergangen?«
»Abwechslungsreich.«
Gemeinsam gingen sie zum oberen Tor, und unterwegs berichtete er ihnen, was sie wissen mussten. »Sie bleiben im Hospital, bis Josua ben Isaac sagt, dass die Zwillinge reisen können«, schloss er. »Dann segeln sie in die Normandie, und mit Gottes Hilfe werden sie bald mit Henry und seiner Armee nach England zurückkehren.«
King Edmund bekreuzigte sich. »Dann fängt der Krieg wieder an.«
»Der Krieg hat niemals aufgehört«, widersprach Alan. »Frag Simon, Godric und Wulfric. Frag die Garnison in Wallingford. Wir hier in Helmsby hatten nur das Glück, in den letzten Jahren nicht viel davon zu bemerken.«
»Was ist mit Simons Gut in Woodknoll?«, fragte Edmund. »Wird dieser Eustache es ihm nicht wegnehmen?«
Alan hob die Schultern. »Eigentlich darf er das nicht, denn es ist ein Lehen des Bischofs von Lincoln, nicht der Krone. Aber ich bin trotzdem hingeritten und habe Roger berichtet, was passiert ist, damit er vorbereitet ist.« Roger fitzNigel, Alans Cousin und einstiger Ritter, hatte Edivia geheiratet und lebte seit Jahren als Steward in Woodknoll.
Die drei Gefährten stiegen den überdachten Gang zum Burgturm hinauf und die Treppe zum Eingang.
Das Nachtmahl in der Halle hatte bereits begonnen. Alan trat zu seiner Frau und dachte wohl zum tausendsten Mal, dass sie wie eine Königin aussah, wie sie da kerzengerade in ihrem Sessel an seiner Tafel saß. Sein Herz machte diesen vertrauten kleinen Satz, den es immer tat, wenn er sie nach einer Trennung wiedersah – ganz gleich wie kurz diese Trennung auch gewesen sein mochte. Er konnte sich immer noch daran berauschen, dass diese Frau die Seine war, und auch wenn es sich nicht immer so anfühlte und er es nicht immer zu schätzen wusste, war ihm doch bewusst, dass er ein glücklicher Mann war. Lächelnd beugte er sich zu ihr herunter, küsste sie wegen der vielen Zeugen nur sittsam auf die Stirn und nahm neben ihr Platz. Edmund und Oswald gesellten sich zu ihnen. Wenn sie mit in der Halle aßen, taten sie es an Alans Tafel, denn er betrachtete sie als Teil seiner Familie.
Während Emma ihnen die Schale zum Händewaschen reichte, Alan von dem koscheren Fisch und Edmund und Oswald den Kohl mit Speck auftrug, den der restliche Haushalt aß, setzte er auch Miriam über die Ereignisse ins Bild. »Dein Vater hat wieder einmal ein Wunder gewirkt«, schloss er. »Als ich sie sah, hatte ich nicht einen Funken Hoffnung für die Zwillinge.«
King Edmund bekreuzigte sich schon wieder. »Ich werde mir Mühe geben, für Haimons Seele zu beten, aber leichtfallen wird es mir nicht«, gestand er.
»Spar dir die Mühe«, gab Alan zurück. »Was er mit Simon tun wollte, wird Gott ihm nicht vergeben, und da er es nicht gebeichtet hat, eh er diese Welt verließ, nehme ich an, dass er in der Hölle schmort.« Es ließ nicht erkennen, was er bei dieser Vorstellung empfand.
Oswald legte den vollen Löffel zurück in die Schale und klemmte die Hände zwischen die Knie. »Ob er da mit Regy zusammen ist?«, fragte er furchtsam.
Alan musste sich auf die Zunge beißen, um ernst zu bleiben, denn der Gedanke hatte eine köstliche Ironie. »Könnte sein«, antwortete er. »Verdient hätten sie es, sich dort wiederzubegegnen. Alle beide.«
»Iss weiter, Oswald«, forderte Edmund ihren jungen Freund auf. »Wie oft muss ich dir sagen, dass du die Hölle nicht zu fürchten brauchst? Du bist so ein guter Junge.«
»Aber ein Schwachkopf«, konterte Oswald.
»Sagt wer?«, fragte Alan ärgerlich.
Oswald zuckte die runden Schultern. »Is’ doch egal. Du weißt doch, dass es stimmt.«
»Es ist ein hässliches Wort«, widersprach Miriam. »Dein Kopf ist gut so, wie er ist, Oswald.«
»Und Jesus liebt dich so, wie du bist«, bekräftigte Edmund. »Beati pauperes spiritu: quoniam ipsorum est regnum caelorum.«
»Selig sind die Armen im Geiste, denn ihrer ist das Himmelreich?«, übersetzte Miriam unsicher.
Edmund nickte.
Alan konnte förmlich sehen, was in Miriams Kopf vorging: Im letzten Moment hielt sie sich davon ab, ihre Zustimmung und Bewunderung zum Ausdruck zu bringen, denn sie war nicht erpicht auf einen von King Edmunds missionarischen Vorträgen. Schon wieder musste Alan sich ein Lächeln verbeißen, und er sagte zu Oswald: »Da hast du’s. Ganz gleich, was du anstellst, Jesus hält dir einen Platz an seiner Tafel frei.«
Oswald war ebenso verlegen wie erleichtert. »Ich bin nicht sehr traurig, wenn ich Regy und Haimon nicht wiedersehen muss«, gestand er.
Ein guter Grund, die ewige Verdammnis zu meiden, fuhr es Alan durch den Kopf. Doch ich werde sie wiedersehen, wenn ich sterbe, bevor meine Verbannung aus der Kirche aufgehoben ist …
»Aber Alan, was wird nun aus Susanna und ihren Kindern?«, fragte Miriam schließlich.
Er hob in vorgetäuschtem Gleichmut die Schultern. »Ich weiß es nicht.«
»Tu nicht so, als ginge es dich nichts an«, wies King Edmund ihn streng zurecht. »Du bist ihr Vormund.«
»Alan ist der Vormund ihrer Kinder?«, fragte Miriam ungläubig.
»Und Susannas ebenso«, antwortete Edmund. »Oder gibt es einen näheren männlichen Verwandten?«
Alan antwortete nicht sofort. Schließlich schüttelte er den Kopf.
»Alan, du musst …«
»Ich werde nicht hinreiten, Edmund«, unterbrach er ihn schroff. »Das kannst du dir aus dem Kopf schlagen. Susanna und ihre Brut werden schon nicht verhungern – Fenwick ist ein einträgliches Lehen, selbst wenn es Haimon nie gut genug war. Sie würde mich nicht einmal über die Zugbrücke lassen. Nein, vielen Dank.«
»Wüsste ich es nicht besser, käme mir der Verdacht, du fürchtest dich ein wenig vor deiner einstigen Gemahlin, mein Sohn.«
Alan aß verdrossen einen Löffel voll. Wovor er sich fürchtete, war, Susanna in ihrem Kummer zu sehen und zu bedauern. Das war ihm zu heikel, und das hatte sie auch nicht verdient. »Wenn du so in Sorge um sie bist, dann reite du doch hin«, entgegnete er. »Hat sie dir nicht damals ständig ihr steinernes Herz ausgeschüttet, als ich ohne Gedächtnis heimgekommen bin, worüber sie maßlos beleidigt war?«
Edmund betrachtete ihn versonnen. Dann nickte er. »Darauf wäre ich nicht gekommen. Aber ich denke, du hast recht. Genau das sollte ich tun.«
Alan seufzte. »Das war kein ernst gemeinter Vorschlag, Edmund.«
»Nun, dafür war es ein guter Vorschlag«, gab ihr Heiliger ungerührt zurück. »Ich breche morgen früh auf.«
»Sei bloß vorsichtig. In East Anglia wimmelt es von Gesindel.«
»Und wenn schon. Ich habe keine Angst, mein eigenes Land zu durchwandern. Das Gesindel hier kann heutzutage kaum schlimmer sein als die dänischen Schlächter von einst.«
Alan hob hastig den Becher an die Lippen. »Du hast natürlich recht, King Edmund.«
Edmund ging und kehrte mit dem ersten Schnee des Winters zurück. Alan war erleichtert, ihn wohlbehalten zu sehen. Weit weniger erleichtert war er über die Neuigkeiten, die Edmund brachte: Susannas Leben war genau das Jammertal, das sie ihm angedroht hatte, als er sie fortschickte. Haimon hatte Fenwick für den Bau seiner Burg und den Unterhalt seiner Truppen verschuldet und beinah völlig ruiniert. Susanna und ihre Kinder litten Not. Und das mittlere, ein kleines Mädchen, war offenkundig schwachsinnig.
Alan saß in der Halle am Feuer, die Laute auf den Knien, und hatte dem Bericht schweigend gelauscht. »Denkst du … es ist Gottes Strafe für die Blutschande, in der ihre Kinder gezeugt sind?«, fragte er Edmund schließlich.
Der hob die mageren Schultern. »Oder für den Hochmut, mit dem sie Oswald und den anderen damals begegnet ist? Es wäre möglich.«
»Aber wieso straft Gott sie für ihre frevlerische Heirat, obwohl sie eine Dispens hat, und mich nicht, obwohl ich für die gleiche Sünde exkommuniziert bin?«, wollte Alan weiter wissen.
»Das verstehe ich auch nicht«, musste King Edmund einräumen. »Was wirst du jetzt tun, Alan?«
»Gar nichts«, antwortete er unversöhnlich.
»Mein Sohn …«
»Sie hat Haimon dazu angestiftet, Oswald und mir Rollo de Laigle auf den Hals zu hetzen. Sie ist in diese Halle stolziert und wollte meine Frau, meine Großmutter und uns alle in einer Winternacht davonjagen. Sie …«
»… hat Anrecht auf deine Hilfe.«
»Sie würde gar keine Hilfe von mir annehmen.«
»Oh doch. Sie würde jede Hilfe annehmen. Das muss sie. Willst du sie wirklich dazu verurteilen, dem nächsten Raubritter, der an ihrem Tor vorbeikommt, Einlass in ihre Burg und ihr Bett zu gewähren, damit er sie und ihre Kinder beschützt und ernährt? Du weißt, wie gottlos die Zeiten sind. Es würde früher oder später so kommen. Aber du bist nicht schuldlos an dem Weg, den sie eingeschlagen hat, Alan. Du kannst nicht alles, was du getan hast, damit rechtfertigen, dass das Schicksal und Haimon dir einen bösen Streich gespielt haben und du dein Gedächtnis verloren hattest. Du hast es zurückbekommen. Und du hast auch alles andere bekommen, was du wolltest: Helmsby, deine jüdische Frau, gesunde Kinder. Susanna musste weichen, weil sie dem, was du wolltest, im Wege stand. Wenn du hoffst, dass Gott dir deine Sünden je vergibt und dich zurück in den Schoß seiner Kirche führt, dann ist jetzt der Zeitpunkt, Einsicht zu zeigen und ein gutes Werk an jenen zu tun, denen du Unrecht zugefügt hast.«
Alan hatte ihm sehr unwillig gelauscht. Als er merkte, wie sein Griff sich um den Hals der Laute gekrampft hatte, lockerte er ihn hastig, denn er wollte das kostbare Erbstück nicht ein zweites Mal in seine Einzelteile zerlegen. Dann sah er zu Miriam hinüber, die mit Agatha am Stickrahmen saß und ihr geduldig die ersten Handgriffe mit der Nadel beibrachte. Zu Aaron, der mit Guillaumes Söhnen zusammen am unteren Ende der Halle lautstark um den Besitz einer panisch flatternden Gans rangelte, die sie verbotenerweise und aus unbekannten Gründen aus dem Stall in die Halle verschleppt hatten. Nur wenige Schritte von den kleinen Unholden entfernt saß die Amme mit Emma zusammen am Tisch und wiegte die schlafende Judith. Ja, musste er gestehen, viele seiner Wünsche waren in Erfüllung gegangen. Aber hatte er nicht einen angemessen hohen Preis dafür bezahlt? Tat er das nicht immer noch?
»Woher willst du das so genau wissen, Edmund?«, fragte er. »Mein Herz sagt mir, Gott will, dass ich seinem auserwählten König hier in England helfe, seine Krone zu gewinnen. Wenn ich Glück habe, verzeiht er mir dann. Susanna hat überhaupt nichts damit zu tun.«
Edmund schnaubte verächtlich. »Das hast du dir ja fein zurechtgelegt.«
»Was soll das heißen?«, fragte Alan gereizt.
King Edmund hob streng den Zeigefinger. »Du versuchst nur, all das Blut zu rechtfertigen, das du vergossen hast und immer noch weiter vergießen willst. Also schön.« Er vollführte eine Geste, als wolle er Alan fortscheuchen. »Tu es nur, zieh mit Henry und Simon in den Krieg. Aber mit Blut wirst du Gottes Gnade nicht erlangen.«
»Nein? Ist es nicht genau das, was die Streiter Christi im Heiligen Land tun?«
»Gib acht, Alan. Du versündigst dich. Die Streiter Christi vergießen Blut, um die Geburtsstätte unseres Glaubens zu verteidigen. Den heiligen Boden, wo der gnädige Herr Jesus Christus gewandelt, gestorben und auferstanden ist. Und du? Warum willst du immer noch mehr Blut vergießen?«
»Wie kommst du darauf, dass ich das will?«, entgegnete Alan. »Aber wir können England nicht kampflos Eustache de Boulogne überlassen, Edmund. Und ich habe es Gloucester auf dem Sterbebett versprochen.« Damit dieses verfluchte Schiff endlich aufhört, unschuldige Menschen in den Tod zu reißen. Denn es sinkt immer noch … Bei dieser Erinnerung wurde Alan klar, dass auch Haimon letztlich ein Opfer dieser Schiffskatastrophe geworden war. Und wenn man noch ein bisschen genauer hinschaute, galt das auch für Susanna.
King Edmund breitete resigniert die Hände aus. »Nun, ich bin überzeugt, du wirst tun, was du für richtig hältst.«
Alan lehnte die Laute vorsichtig an den freien Sessel neben sich und stand auf. »Sei versichert. Aber ich werde meinen Steward bitten, einen Karren mit Lebensmitteln und eine Wache nach Fenwick zu schicken.«
Edmund hob verblüfft den Kopf. »Woher der plötzliche Sinneswandel?«, fragte er sichtlich erfreut.
Alan machte von dem Privileg Gebrauch, das ihm als Herrn der Halle zustand: Er blieb die Antwort einfach schuldig.