Helmsby, April 1152

»Halte den Trichter gerade, Agatha, sonst verschüttest du die Milch«, warnte Alan. »Schau, wie Oswald es macht. So ist es richtig.«

Er war einen Schritt zur Seite getreten, hatte die Hände in die Seiten gestemmt und sah seiner Tochter und Oswald zu, die jeder ein Kälbchen mit Trichter und Kelle aus einem Milcheimer fütterten. Oswalds Kalb trank munter, aber Agathas fand diese neue Fütterungsmethode offenbar höchst suspekt, denn allenthalben hörte es auf zu trinken und fing an zu jammern.

»Sie will zurück zu ihrer Mutter«, erklärte Agatha und ließ den Trichter sinken. Der Inhalt versickerte im Stroh.

»Was habe ich dir gerade gesagt«, schalt Alan seufzend. »Ich wusste doch, du bist noch zu klein dafür.«

»Bin ich überhaupt nicht«, entrüstete sich die Siebenjährige. »Aber können wir Josy nicht noch ein paar Tage bei ihrer Mutter lassen, Vater? Bitte!«

Alan schüttelte den Kopf, kniete sich neben das Mädchen und nahm ihm den Trichter ab. Sehr viel geschickter fütterte er das Kalb, und auf einmal trank es folgsam und anscheinend mit großem Appetit. »Nächste Woche wird es auch nicht leichter. Aber Kälber müssen entwöhnt werden, genau wie Menschenkinder. Wenn wir es nicht tun, trinken die Kälber uns die ganze Milch weg. Wir hätten keine Butter und keinen Käse. Willst du das?«

Agatha schüttelte unwillig den Kopf.

»Na siehst du.« Alan nahm einen ihrer blonden Zöpfe und zog sacht daran.

»Aber Josy ist so traurig«, warf Oswald ein.

Alan bedachte ihn mit einem finsteren Blick. »Vielen Dank, dass du mir in den Rücken fällst, alter Freund.«

»Ist aber wahr«, gab Oswald ungerührt zurück. »Ich weiß, es muss sein, aber es ist schwer.«

Und für niemanden schwerer als für dich, wusste Alan.

Oswald hatte während der friedlichen Jahre in Helmsby seine Bestimmung gefunden, und seine Bestimmung, hatte sich herausgestellt, waren Rinder. Er liebte sie, und sie vergötterten ihn. Er konnte schneller melken als jeder andere in Helmsby, er konnte wütende Bullen besänftigen, und während der Weidemonate ging er jeden Morgen durchs Dorf, öffnete Stalltüren, holte seine Schützlinge heraus und führte sie zusammen mit Alans Kühen auf die Weide, wo er meist mit ihnen blieb. Abends zum Melken brachte er sie zurück, und sie folgten ihm wie einem Leittier durchs Dorf, wo ein jedes von selbst in den Stall trottete, wohin es gehörte. Oswald blieb auf ein Schwätzchen mit den Bauern stehen, schaute beim Müller vorbei, legte hier und da beim Melken mit Hand an. Die Leute schätzten ihn für seine Fürsorglichkeit und das, was Emma seinen »Küheverstand« nannte, und wenn sie ihn gelegentlich sonderbar fanden, ließen sie es ihn nicht merken. Es war ein geruhsames Leben, das kaum besser auf einen jungen Mann mit einem schwachen Herzen hätte zugeschnitten sein können. Oswald war angekommen.

Alan zog es vor, von weiteren Debatten über Kälberaufzucht Abstand zu nehmen, und konzentrierte sich lieber auf das, was seine großen Soldatenhände taten. Gerade bei Jungtieren musste er immer achtgeben, dass er nicht zu fest zupackte. »Da«, sagte er schließlich und zeigte nicht ohne Stolz auf sein Kalb. »Satt. Siehst du, Agatha? Plötzlich ist Josy ganz zufrieden mit der Welt.«

»Aber könnten wir nicht …«

Ein Räuspern von der Stalltür bewahrte Alan vor einer von Agathas berüchtigten Ideen.

Alle drei wandten die Köpfe, und Alan lächelte, als er seinen Besucher erkannte. »Tom. Sei willkommen.«

»Heißen Dank.«

»Tritt ein. Hier ist nichts, was dich beißen könnte, du hast mein Wort.«

Zögernd trat Thomas Becket über die Schwelle und achtete sorgsam darauf, wohin er die feinen Stiefel setzte. Kalbsleder, bemerkte Alan. Das sagen wir Agatha lieber nicht …

Der Gast schlang sich den langen weinroten Mantel über den Arm, damit das edle Tuch nicht über den Stallboden schleifte. »Dringende Staatsgeschäfte führen mich zu Lord Helmsby«, bekundete er der niedrigen Decke. »Und treffe ich ihn bei der Falkenjagd an oder beim Fechten oder beim Lautespiel? Nein. Er füttert eine kleine Kuh.«

»Kalb«, verbesserte Agatha.

Alan lachte in sich hinein. »Erlaubst du, dass ich das hier eben fertig mache? Du kannst zuschauen und etwas lernen.«

Becket seufzte leise. »Bitte, wenn du darauf bestehst. Mangelt es dir an Knechten, Alan?«

Der schüttelte den Kopf und rutschte auf den Knien zu dem nächsten Kälbchen, das nah der Bretterwand des Pferchs im Stroh döste. »Sie eggen, sie pflanzen Lauch und Zwiebeln und Flachs … Im Frühjahr haben die Tage nie genug Stunden für all die Arbeit. Und mein Steward ist in Blackmore.«

»Und außerdem macht es dir Spaß«, mutmaßte Becket.

»Wenn du es so nennen willst.« Wer so viel Leben vernichtet hat wie ich, tut gut daran, Leben zu hegen und gedeihen zu lassen, dachte Alan. »Aber falls du bis morgen bleiben kannst, reite ich mit dir zur Jagd. Ich habe einen neuen Falken, den musst du dir ansehen.«

Becket schüttelte bedauernd den Kopf. »Ich fürchte, das müssen wir verschieben. Ich will gleich morgen früh weiter, denn ich bin im Begriff, nach Rom zu reisen.«

»Dann sieh dich nur vor, dass du nicht ins Wasser fällst«, spöttelte Alan und fragte nicht, was Becket in die Heilige Stadt führe.

Seit Simon de Clare sie vor drei Jahren miteinander bekannt gemacht hatte, zählte Alan Thomas Becket zu seinen wenigen Freunden. Andere mochten ihn einen eitlen Geck und ehrgeizigen Ränkeschmied nennen, aber Alan schätzte Beckets bissigen Humor, seinen Scharfsinn und ganz besonders seine Toleranz gegenüber Andersgläubigen. Eine seltene Gabe bei Kirchenmännern, wusste er. Was er hingegen nicht schätzte, war, dass Becket ihn stets in die Welt von Politik und Krieg zurücklocken wollte.

Becket verschränkte die Arme auf einem Querbalken und beugte sich vor. »Es ist Eustache de Boulogne, der mich zu dir führt.«

Alan antwortete nicht, legte die Hand unter das Kinn des Kälbchens und füllte den Trichter geschickt aus der hölzernen Kelle. Aller Frohsinn sickerte aus seinem Herzen wie Sandkörner aus einem Stundenglas.

»Alan …«, drängte Becket leise, aber beharrlich.

Der schaute auf. »Das hier ist weder die Zeit noch der Ort«, entgegnete er mit einem vielsagenden Blick auf seine Tochter.

Becket hob die Hände zu einer Geste der Entschuldigung und wartete mit mühsam bezähmter Ungeduld, bis das Kalb abgefüttert war.

Schließlich stand Alan auf und klopfte sich Strohhalme von den Knien. »Oswald, wärst du so gut, den Rest zu erledigen?«

»Sicher.« Oswald sah nicht auf. Die Gegenwart des eleganten Normannen machte ihn scheu.

»Danke.« Alan streckte die Hand aus. »Komm, Agatha.«

»Ich bleib bei Oswald«, beschied diese.

»Kommt nicht infrage. Du würdest irgendeinen irrsinnigen Plan zur Befreiung meiner Kälber aushecken. Außerdem wartet King Edmund mit dem Leseunterricht auf dich, schon vergessen?«

»Aber …«

»Agatha.«

Sie verzog das Gesicht, stapfte in stummem Protest zu ihrem Vater herüber und ergriff die Hand.

Im vorletzten Herbst hatte Cuthbert der Schmied sich bei der Arbeit an einem seiner Werkzeuge verletzt. Nach zwei Tagen war die Wunde brandig geworden, und eine Woche später war Cuthbert gestorben. Alan hatte seine Tochter aus Metcombe nach Helmsby geholt, und sowohl er selbst wie auch seine Frau taten alles, um ihr ein warmes Nest zu geben. Doch es war nicht immer einfach. Agatha sträubte sich gegen alle Bemühungen, etwas anderes aus ihr zu machen als das Bauernmädchen, das sie war. Sie lernte nur unwillig Normannisch, und manchmal begegnete sie ihrer jüdischen Stiefmutter, ihren beiden kleinen Geschwistern und auch ihrem Vater mit tiefem Misstrauen. Dann wieder gab es Tage, da sie so anhänglich war, dass sie wie eine kleine Klette an ihm oder Miriam hing, und man bekam eine Ahnung davon, wie groß ihre Furcht davor war, wieder verlassen zu werden.

Er führte seine Tochter und seinen Gast aus dem Stallgebäude zum Brunnen im Burghof, schöpfte und goss das Wasser in einen zweiten Eimer, in welchem er sich gründlich Hände und Unterarme wusch. Unaufgefordert folgte Agatha seinem Beispiel und machte Anstalten, den schweren Eimer aufzuheben. Alan hielt sie mit einer Geste zurück, nahm das Gefäß und schüttete den Inhalt in einem schimmernden Bogen auf die Beete des nahen Küchengartens, wo sich die ersten, zartgrünen Halme zeigten.

Dann gingen sie Richtung Motte.

»Kommst du aus Canterbury?«, fragte er seinen Gast.

»Aus Norwich.«

Alan wandte den Kopf. »Tatsächlich?«

»Dein Schwiegervater hat sein Hospital wiedereröffnet.«

So, so, dachte Alan. In diesem Streit zwischen Sheriff und Bischof hat zur Abwechslung einmal der Sheriff obsiegt …

Die Halle von Helmsby Castle war nahezu verwaist; alle Bewohner nutzten das trockene Frühlingswetter für die Arbeit im Freien. Nur Miriam saß nah am Fenster an dem großen Stickrahmen und arbeitete an einem feinen weißen Tuch, in welches sie indes keine Heiligenbilder, sondern ein filigranes Rankenmuster stickte. Zu ihren Füßen spielte der vierjährige Aaron mit einem Holzschiff im Stroh, und auf dem Tisch in ihrer Reichweite lag ein winziger Säugling in einem Weidenkörbchen und schlief.

Becket verneigte sich höflich. »Lady Miriam.«

Sie erhob sich mit einem Lächeln. »Master Becket. Was für eine Überraschung.«

Er zeigte auf den Korb. »Wozu darf ich Euch gratulieren? Sohn oder Tochter?«

»Judith«, stellte Alan vor, trat zu seiner Frau und legte ihr einen Arm um die Taille.

»Sie ist eine Schönheit«, befand Becket.

Aaron war aufgesprungen und hatte sich artig vor ihrem Gast verbeugt. »Sie sieht aus wie eine Trockenpflaume«, widersprach er mit einem abschätzigen Blick auf seine kleine Schwester.

»Das ist nicht sehr charmant, junger Mann«, rügte Becket und hatte sichtlich Mühe, ein Grinsen zu unterdrücken.

»Nicht Charme, sondern Aufrichtigkeit ist Aarons große Tugend«, erklärte Alan und strich dem Jungen über den dunklen Schopf.

Denn sein Sohn sagte nichts als die Wahrheit. Judith war erst eine Woche alt, und ihr Gesicht trug unverändert die Spuren des harten Kampfes, der ihre Geburt gewesen war. Auch die Schwangerschaft war beschwerlich gewesen, genau wie bei Aaron. Doch Miriam hatte sich rasch erholt und ihre Pflichten im Haus wieder aufgenommen. Sie war eine gesunde junge Frau, und die blasse Zerbrechlichkeit, die ihr früher zu eigen gewesen war, war verschwunden. Das Leben auf dem Land lag ihr nicht nur, es bekam ihr auch gut.

»Agatha, lauf und hol die Amme, sei so gut«, bat sie.

Die Kleine verschwand Richtung Treppe, kam wenig später mit der jungen Magd zurück, die die Kinder hütete und Judith stillte, und während sie ihre Schützlinge hinausführte, betrat Miriam die Estrade und schenkte Wein in drei Becher. Alan und Becket schlossen sich ihr an.

Der Gast kostete und tat einen Seufzer des Wohlbehagens. »Dein Keller ist der beste in East Anglia, Alan.«

Alan nahm selbst einen Zug und konzentrierte sich auf den Geschmack des leichten Weißweins. Dann nickte er zufrieden.

»Vom Rhein?«, tippte Becket.

Alan schüttelte mit einem geheimnisvollen kleinen Lächeln den Kopf. »Aus Blackmore.«

»Du willst mir einen Bären aufbinden.«

»Das würde ich nie wagen.«

»Aber dieser Wein schmeckt hervorragend

»Hm. Mit der Hilfe meines vielseitig gebildeten Schwiegervaters haben wir die Traube veredelt.«

Becket schüttelte den Kopf. »Nicht zu fassen.« Er sah sich in dem leeren Raum um, der an diesem sonnigen Tag lichtdurchflutet war. »Es ist still hier ohne deine Großmutter.«

Eine Fieberepidemie war im Advent über East Anglia hereingebrochen, und der schwarze Geselle mit der Sense hatte eine reiche Ernte gehabt. Lady Matilda war eine der Ersten gewesen, die er geholt hatte, und anlässlich ihrer Beerdigung hatte Alan zum ersten Mal seit seiner Exkommunikation wieder seine Kirche betreten. Weder hatte die Erde gebebt, noch hatte King Edmund ihn hinausgeworfen. Seither ging Alan wieder täglich zur Messe. Gab es anlässlich hoher Feste eine allgemeine Kommunion, konnte er nicht teilnehmen, denn die Sakramente waren ihm verwehrt, aber es war eine große Erleichterung, überhaupt wieder in einem Gotteshaus zu sein. Es kam ihm immer vor wie ein Abschiedsgeschenk seiner Großmutter.

»Ja, sie fehlt uns sehr«, antwortete Miriam ihrem Gast. »Seid Ihr hungrig, Master Becket? Kann ich Euch ein wenig Brot und Käse holen?«

»Nein, vielen Dank. Der Koch des Bischofs von Norwich war so beglückt über das Ende der Fastenzeit, dass er mich heute früh mit Eierkuchen vollgestopft hat.«

»Aber ihr bleibt zum Essen, hoffe ich?«

»Da sag ich nie Nein, wie Ihr wisst, Madame. Wenn nur mehr Christen wüssten, wie köstlich koscheres Essen sein kann, würde das allerhand zur Verständigung zwischen uns und euch beitragen, will mir scheinen. Da fällt mir ein: Die … Schwierigkeiten im Hospital Eures Vaters sind beigelegt. Als er nach der Schließung durch den Bischof seine schweren Fälle zur Burg brachte, um sie dem Sheriff in Verwahrung zu geben, hat der beim Bischof interveniert. Ich glaube, in Zukunft braucht Ihr Euch über diese Sache keine Sorgen mehr zu machen. Der Sheriff hat Bischof Turba eine Urkunde abgeschwatzt, die das Hospital der Jurisdiktion der Krone, nicht der Kirche unterstellt.«

»Gott segne Sheriff Chesney«, murmelte Alan.

»Ein guter Mann«, pflichtete Becket ihm bei. »Ich habe lange mit ihm gesprochen. Er ist sehr besorgt über die Zustände in East Anglia. Er sagt, man könnte meinen, Geoffrey de Mandeville sei zurückgekehrt.«

Alan runzelte die Stirn. »Und was soll das heißen? Ich habe nichts von Unruhen gehört.«

»Nein, wie auch, da du es vorziehst, dich in Viehställen und Scheunen zu verkriechen.«

Alan hob abwehrend die Linke. »Henry hat sich seit zwei Jahren nicht in England blicken lassen, Tom. Dieser Krieg ist vorbei. Henry hat zu lange gezaudert, und jetzt haben die Lords sich mit Stephen arrangiert. Dieser Krieg war im Grunde an dem Tag vorbei, als Gloucester starb.« Er brach ab und trank einen Schluck, um seinen Zorn ob dieser Tatsache zu verbergen. Er hatte sein halbes Leben an diesen verfluchten Krieg verschwendet, hatte sein Blut vergossen und sein Seelenheil riskiert, und das alles für nichts.

Becket schüttelte den Kopf. »Er ist nicht vorbei. Henry hatte viel Ärger in der Normandie. Stephens famoser Kronprinz, Eustache de Boulogne, hat König Louis’ Schwester geheiratet, wusstest du das?«

»Natürlich.«

»Und seither haben die beiden Schwäger sich zusammengetan, um Henry die Normandie zu entreißen. Bislang ohne Erfolg, aber er hatte alle Hände voll damit zu tun, sie zu halten. Er würde lieber heute als morgen nach England kommen, glaub mir. Und als er vor zwei Jahren hier war, hat er viel erreicht und bei Lords und Bischöfen großen Eindruck gemacht, das weißt du genau. Viele Lords mögen sich mit Stephen auf dem Thron abgefunden haben, aber was sie glauben, ist, dass Henry der rechtmäßige Nachfolger ist. Es steht indessen wieder einmal alles auf Messers Schneide. König Stephen schläft nämlich nicht, auch wenn er meist den Anschein erweckt. Er hat sich überlegt, seinen Sohn nach französischer Sitte noch zu seinen Lebzeiten zum König von England krönen zu lassen. Wenn das passiert, dann schaffen Stephen und Eustache Fakten, denen wir nur schwerlich etwas entgegensetzen können. Darum dürfen wir das nicht zulassen.«

Alan fuhr sich mit dem Daumennagel übers Kinn und dachte nach. Die Vorstellung, dass dieser Kronprinz vor der Zeit zum König gekrönt wurde, gefiel auch ihm ganz und gar nicht. »Aber wie kommt Stephen nur auf so eine seltsame Idee? In Frankreich mag es üblich sein, aber nicht in England.«

»Genau.« Becket tippte ihm mit dem Finger an die Brust. »Darum hat er eine Delegation zum Papst entsandt, um dessen Erlaubnis einzuholen. Der Papst wiederum hat Erzbischof Theobald in einem Brief gebeten, ihm einen Gesandten zu schicken, der ihm rät, wie er entscheiden soll. Der ihm vor allem darlegt, ob der junge Eustache das Zeug zum König hat. Dieser Gesandte bin ich, wie der Zufall es will.«

»Dann sag dem Papst, die Antwort lautet nein. Stephen mag ein freundlicher, harmloser Einfaltspinsel sein, aber sein Sohn ist alles andere.«

»Ah ja? Und woher weißt du das?«

Alan schwieg einen Moment. Es fiel ihm schwer, über diese Dinge zu reden. Seit er vor fünf Jahren mit Miriam nach Helmsby heimgekehrt war, hatte er seine Frau, seine Kinder und seinen Gutsbetrieb zum Mittelpunkt seines Lebens gemacht. Es war ein geruhsames, gleichförmiges Dasein. Viel zu zahm für den Mann, den sie einst »Mauds schärfstes Schwert« genannt hatten, glaubten manche, aber Alan wusste es besser. Es war ein gutes Leben.

»Alan?«, hakte Becket beharrlich nach.

Er gab sich einen Ruck und sah seinen Gast wieder an. »Also schön, meinetwegen. Eustache muss … ungefähr zwölf gewesen sein, als mein Onkel Gloucester beim Rückzug aus Winchester unseren Feinden in die Hände fiel. Stephen war zu der Zeit unser Gefangener, war also nicht da, um darauf zu achten, dass seine kostbare Geisel pfleglich behandelt wurde. Hinter dem Rücken des Kommandanten hat dieser Bengel den Wachen befohlen, Gloucester in Ketten zu legen, dann hat er sie rausgeschickt und ihm mit einem Fackelstock zwei Rippen gebrochen. Als Gloucester ihn ausgelacht hat, hat Eustache die Fackel angesteckt.« Er warf einen Blick auf seine Frau, ehe er an Becket gewandt fortfuhr: »Den Rest kannst du dir denken. Gloucester hat die Geschichte immer als komische Episode abgetan, aber ich habe die Narben gesehen, als er schließlich gegen Stephen ausgetauscht wurde. Das war kein schiefgegangener Lausbubenstreich, Tom. Das war böse. Und nach allem, was ich höre, ist Eustache mit zunehmendem Alter nicht besser geworden. Also sei so gut und sag seiner Heiligkeit, er soll diesen Kelch an England vorübergehen lassen. Vielleicht kannst du ihn ja davon überzeugen, dass wir zur Abwechslung einmal einen guten König verdient haben.«

Thomas Becket lehnte sich in seinem Sessel zurück und schlug die Beine übereinander. Kopfschüttelnd bemerkte er: »Ich glaube, ich habe dich noch nie so viel auf einmal sagen hören, Alan. Das war höchst aufschlussreich. Was Eustache de Boulogne betrifft, aber auch was deinen angeblichen Rückzug aus der Politik angeht.«

Alan schüttelte ärgerlich den Kopf. »Du sagst es immer so, als wäre es meine Wahl gewesen«, hielt er Becket entgegen. »Das war es nicht. Aber ich bin exkommuniziert und selbst am Hof meines Cousins, des neuen Earls of Gloucester, Persona non grata. Das ist bitter, glaub mir, denn ich habe lange in diesem Krieg gekämpft und hätte ihn gern gewonnen, damit ich mir wenigstens vormachen kann, er hätte einen Sinn gehabt. Aber meine Hilfe ist nicht mehr erwünscht. Und es gibt nichts, was ich dagegen tun könnte.«

»Henry will deine Hilfe. Und er braucht sie.«

»Henry ist in der Normandie.«

»Aber seine Feinde sind hier. Kratz den Rost von deinem Schwert, Mylord. Es ist Eustache de Boulogne und kein anderer, der in den Fens sein Unwesen treibt.«

Miriam hatte selbst gekocht, wie meistens. Zu Anfang war die Köchin ein wenig grantig darüber gewesen, aber inzwischen hatten sich alle daran gewöhnt, dass die Lady der Halle für sich und ihre Familie eigene Gerichte in eigenen Töpfen zubereitete, und niemand rührte ihre Vorratsfässer an. Was sie brauchte, besorgten sie und Alan bei ihren Besuchen in Norwich. An diesem Abend gab es geschmortes Lamm mit Rauke und dazu Fladenbrot, und nicht nur Thomas Becket schwelgte.

»Werdet Ihr Henry und Simon besuchen, wenn Ihr auf den Kontinent reist?«, fragte Miriam ihn, nachdem er eine dritte Portion unter deutlichen Anzeichen von Ermattung abgelehnt hatte.

»Gut möglich«, antwortete Becket. »Auch Henry muss erfahren, was Stephen vorhat. Ich bin allerdings nicht sicher, wo er sich aufhält. Er wird ja verrückt, wenn er mehr als zwei Nächte im selben Bett schlafen muss. Ah! Apropos verrückt. Da erscheint uns euer Heiliger.«

King Edmund kam gelegentlich abends auf einen Becher Ale auf die Burg hinauf, sprach mit Alan über das Wetter, die Saat oder die Sorgen seiner Schäfchen und spielte mit Agatha oder mit Oswald eine Partie Mühle. Miriam und Alan war er immer willkommen.

»Lass ihn ja zufrieden«, raunte Letzterer seinem Gast zu.

»Mein lieber Alan, ich hege den größten Respekt für Euren King Edmund«, beteuerte der, doch es funkelte verräterisch in seinen Augen.

»Gott segne euch«, grüßte King Edmund, und auf Alans einladende Geste ließ er sich ächzend in einen der Sessel an der hohen Tafel sinken. King Edmund kam in die Jahre.

»Master Becket.« Es klang eine Spur kühl. Eitle Kirchenmänner in edlen Gewändern mussten damit rechnen, King Edmunds Missbilligung auf sich zu ziehen.

»Vater Edmund«, erwiderte Becket aufgeräumt. »Wie kommt Ihr mit Eurem Boethius voran?«

»Die Lektüre ist über die Maßen erbaulich. Aber meine Augen werden nicht besser, mein Sohn, darum ist es mühsam. Habt Ihr inzwischen endlich die Priesterweihe empfangen?«

Becket biss sich schuldbewusst auf die Unterlippe. »Immer noch nicht, fürchte ich. Ich weiß auch nicht. Ich habe nie die Zeit.«

»Was könnte wichtiger sein?«, konterte Edmund streng.

»Die Belange der Welt und die Wünsche des Erzbischofs sind natürlich nicht wichtiger«, musste Becket einräumen. »Aber es hat den Anschein, als würden sie all meine Zeit und meine Gedanken in Anspruch nehmen.«

»Vielleicht seid Ihr nicht berufen.«

»Der Gedanke ist mir auch schon gekommen.« Der Schalk war aus seinen Augen verschwunden. »Woran merkt man es, Vater Edmund? Wie kann ein Mann je sicher sein, dass er berufen ist?«

»Es gibt keine Sicherheit«, antwortete Edmund. »Das ist das Vertrackte, auch Berufung befreit nicht von Zweifeln. Aber Ihr spürt es, wenn Gott seinen Finger auf Euer Herz legt. Wenn es passiert, werdet Ihr es wissen.«

Becket nickte, ließ sich zurücksinken und trank versonnen einen Schluck. »Und habt Ihr nie mit Gott gehadert wegen des Opfers, das er Euch abverlangt hat?«

»Oh ja, das habe ich«, räumte King Edmund mit einem schmerzlichen kleinen Lächeln ein.

»Doch Ihr wart niemals versucht, ihm den Rücken zu kehren und davonzulaufen?«

»Gott kann man nicht davonlaufen, Master Becket. Denkt nur daran, was dem armen Jonas passiert ist, als er es versucht hat: drei Tage im Bauch eines Fisches.« Er schüttelte sich.

»Lieber das als gemartert und tot.«

»Lieber gemartert und tot als von Gott verlassen.«

»Tja.« Becket leerte seinen Becher. »Der Unterschied zwischen uns ist, mein Freund: Ihr seid ein Heiliger, und ich bin ein ganz gewöhnlicher Sünder.«

Bist du das wirklich?, fuhr es Alan durch den Kopf, der genau wie Miriam schweigend gelauscht hatte und diskret unter dem Tisch mit den schmalen Fingern seiner Frau spielte. Bela, die junge Magd, die ihnen Rosinen in Mandelmilch und neuen Wein auftrug, war ein so hinreißend schönes Mädchen, dass Alans Puls sich jedes Mal beschleunigte, wenn sie ihm unter die Augen kam. Und er war nicht der Einzige. Jeder Mann in seiner Halle folgte ihr mit mehr oder weniger verstohlenen Blicken. Nur Thomas Becket schien einfach durch sie hindurchzusehen.

»Vielleicht zieht er Männer vor, um seine Sünden zu begehen«, spekulierte Alan eine Stunde später im Schutz der geschlossenen Bettvorhänge.

Miriam schnalzte leise, hob den Kopf von seiner Schulter und bedachte ihn mit einem strafenden Blick. »Alan, wie kannst du nur.«

»Oh, ich weiß, bei euch ist es noch verbotener als bei uns – falls das möglich ist –, aber es kommt dennoch vor.«

»Nur weil Thomas Becket mehr Beherrschung besitzt als Lord Helmsby und dessen Mägde nicht mit lüsternen Blicken verfolgt, unterstellst du ihm, er lasse sich mit Männern ein?«

Alan zog verwundert die Brauen in die Höhe und richtete sich auf einen Ellbogen auf. »Höre ich eine verdeckte Unterstellung?«

»Mag sein.«

»Und wie lange, denkst du, werden wir verheiratet sein, ehe du anfängst, mir unumwunden zu sagen, was du meinst?«

Sie lächelte schwach. »Noch ein Weilchen länger, so scheint es.«

»Miriam … Ich habe sie nicht angerührt. Gott, ich kann nicht fassen, dass wir diese Unterhaltung führen. Ich habe überhaupt keine andere Frau angerührt, seit wir verheiratet sind. Ich dachte, das wüsstest du.«

Sie sah ihm in die Augen, mit diesem geruhsamen, steten Blick, den niemand so beherrschte wie sie. »Ich war nicht sicher. Du hast es früher getan. Und jeder Mann in deiner Halle scheint es zu tun.«

»Unsinn …«

»Manchmal, Alan, seid ihr immer noch Fremde für mich. Selbst du. Auch nach fünf Jahren.«

»Ich weiß. Mir geht es ebenso.« Er streckte sich wieder auf dem Rücken aus, boxte sein Kissen zurecht und zog seine Frau mit der anderen Hand näher. »Es hat mich nie gestört. Es gefällt mir, dass du ein ewiges Geheimnis bleibst. Wir kommen ganz gut zurecht, oder?« Schließlich hatte Miriam sich diesem Land und seinen Menschen immer verbunden gefühlt, auch schon bevor sie sich begegnet waren. Und seit sie mit ihm nach Helmsby gekommen war, hatten sie viele praktikable Kompromisse gefunden: Miriam hielt den Sabbat und die hohen jüdischen Feiertage ein, nahm aber ebenso an den Festen zu Weihnachten und Ostern in der Halle teil. Alan aß mit ihr koscher, sagte aber nicht Nein, wenn einer seiner Pächter ihm bei einem Besuch eine Scheibe Schinken anbot. Aaron hatte die Taufe empfangen und war zwei Tage später – zu Alans heimlichem Schrecken – in Norwich beschnitten worden. Wenn die Zeit kam, würden Josua und King Edmund ihn unterweisen, und eines fernen Tages würde Aaron seine Wahl treffen.

»Ja«, antwortete sie. »Wir kommen gut zurecht.«

»Ich glaube, jetzt höre ich Vorbehalte.«

»Nein.«

Alan seufzte. »Miriam …«

»Es ist … Moses’ Bar-mizwa nächsten Monat. Mein kleiner Bruder wird ein Mann, und ich bin nicht dabei.«

»Dann lass uns hinreiten.«

»Du weißt, wie schwierig es ist. Wie die Leute im Judenviertel mich ansehen. Was sie hinter vorgehaltener Hand tuscheln. Mir macht es nichts, aber für meinen Vater ist es schrecklich.«

»Manchmal glaube ich, ihn quält vor allem die Sorge, das Getuschel und die bösen Blicke kränken dich. So seid ihr beide um des anderen willen bekümmert, und das ist albern. Wir reiten zu Moses Bar-mizwa, und bei der Gelegenheit könnte ich den Sheriff aufsuchen und in Erfahrung bringen, was er über Eustache de Boulogne hört. Was meinst du?«

»Vermutlich ist es das, was mir in Wahrheit zu schaffen macht: die Vorstellung, dass du wieder in den Krieg ziehst.«

»Und nicht wiederkomme und du mit deinen halb jüdischen, halb christlichen Kindern allein in einer Welt zurückbleibst, wo du nirgendwo richtig hingehörst.«

Sie regte sich unruhig. »Es klingt abscheulich, wie du es sagst. Selbstsüchtig und …«

»Keineswegs. Es ist eine berechtigte Sorge.«

»Ich glaube, wenn du in den Krieg ziehst und nicht wiederkommst, ist mir egal, was aus mir wird.«

Er drehte den Kopf und küsste sie auf die Schläfe. »Das ist sehr schmeichelhaft. Aber so darfst du nicht denken.«

»Nein. Ich weiß.« Sie strich mit dem großen Zeh über sein Bein. Er liebte es, wenn sie das tat, aber da sie erst vor einer Woche ein Kind bekommen hatte, konnte es heute leider zu nichts führen.

»Dein Vater würde dich und die Kinder aufnehmen, bis Aaron alt genug ist, sein Erbe anzutreten.«

»Das heißt, du wirst gehen?«

Alan legte beide Arme um sie. »Ja.«

Nach Regy hatte er sein Schwert für alle Zeiten aus der Hand legen wollen. Aber Simon – auf einmal so erwachsen geworden – hatte ihm ausgeredet, einen Eid zu schwören. Du wirst ihn eines Tages brechen, hatte er gewarnt. Denn auch wenn der Krieg dich anwidert, willst du ihn immer noch gewinnen. Für deinen Vater, für Gloucester und für Henry.

Er hatte ja so verdammt recht.

»Ich muss, Miriam. Die Menschen von East Anglia haben genug gelitten. Und wenn irgendwer hier in der Gegend Unheil stiftet, ist mein Cousin Haimon meist nicht fern. Ich kann nicht so tun, als ginge mich das nichts an.«

»Nein. Das verstehe ich.«

»Ich hoffe nur, Henry Plantagenet bemüht sich in absehbarer Zeit her und kümmert sich endlich selbst um seine Krone.«