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Maan war ein Genie. Sie hatten auf dem unwegsamen Gelände nur sechs Stunden gebraucht, um den Fluss zu erreichen, und mussten seiner Meinung nach nur der Strömung folgen, um den Fuß der Berge zu erreichen.
„Oder“, kicherte er, „wenn es dir lieber ist, können wir uns direkt zum Mittelmeer tragen lassen. Zu dieser Jahreszeit soll es besonders schön sein.“
Remy lachte. Er war bester Stimmung. Das Glück war ihm hold und hatte ihm diesen Teenager geschickt, der ihm den Weg wies. Sie scherzten und lachten, als sie sich dem Fluss näherten. Schon aus der Ferne konnten sie einen Anlegesteg sehen. Sie wollten jemanden anheuern, der sie den Fluss hinunter bringen sollte, da keiner von ihnen Erfahrung darin hatte, ein Boot zu steuern, nicht einmal ein Kanu oder Kajak. Sie liefen mit vor Aufregung beschwingten Schritten darauf zu, doch als sie näher kamen, sahen sie, dass der Steg verlassen war. Sie sahen sich um. Anlegestege bieten jedoch generell nicht viele Möglichkeiten, sich zu verstecken, und dieser hier war menschenverlassen. Er war nicht nur menschenverlassen. Er schien aufgegeben worden zu sein und das scheinbar schon vor langer Zeit, denn es fehlten ein paar Bohlen und ein paar hingen ins Wasser, als warteten sie darauf, von Zeit und Wasser davongespült zu werden.
Remy betrat vorsichtig den Steg. So heruntergekommen er auch wirkte, er schien zu halten, darum ging er weiter. An den Seiten lagen ein paar Boote mit Spinnweben an den Tauen. Maan folgte ihm schweigend, und es fiel ihm sichtlich schwer. Er war ein junger Mann, der in der Regel heraussprudelte, was er dachte. Das Schweigen wirkte betäubend. Das Rauschen des Flusses war nicht mehr als ein Hintergrundgeräusch, das nur die Stille des verlassenen Anlegestegs betonte.
„Ich schätze, dass wir diese Änderung dem Premierminister zu verdanken haben?“, brach Remy das Schweigen und versuchte, dabei nicht allzu negativ zu klingen.
„Ich habe gehört, dass Kamali die Grenzen dicht machen will, doch ich wusste nicht, dass er sich auch vom Mittelmeer abschotten will. Ich meine, was bringt ihm das?“
„Ich habe das Gefühl“, sagte Remy, „dass das nichts mit dem Konflikt mit Griechenland zu tun hat… eher damit, was sich da oben befindet.“
Maan schwieg, und Remy fragte sich, ob der junge Mann, der ihn begleitete, die Tragweite dessen verstand, was sie zu tun versuchten. Das hier war kein Schulausflug.
Remy war in Gedanken versunken, wurde jedoch von einem Platschen zurück in die Gegenwart geholt. Er blickte auf und sah, dass Maan in den Fluss gesprungen war. Er stand hüfttief im Wasser und zog eines der kleinen Boote vom Steg weg, nachdem er zuvor seinen Rucksack hineingeworfen hatte. Er watete auf den Steg zu und hangelte sich dabei an dem Seil entlang, mit dem das Boot festgemacht war.
„Was tust du da?“, fragte Remy.
„Ich nehme an, dass wir nicht ewig hier rumsitzen und uns selbst bemitleiden wollen, oder? Das sollte eine Abkürzung sein. Wenn wir rumsitzen, werden wir all die Spinner nie einholen.“
„Ich bin einer dieser Spinner“, sagte Remy.
„Entschuldige“, sagte Maan. „Ich wollte sagen, dass wir sonst die anderen Spinner nie einholen werden. Mein Fehler.“
Remy sprang ins Boot und spürte zum ersten Mal eine gewisse Nervosität, als es unter seinem Gewicht schaukelte.