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Sie wussten nicht genau, wo Mr. Mizrahi sie hinbrachte. Genf war anders als andere europäische Städte, die Mark und Kathy schon besucht hatten. Verglichen mit Genf wirkte sogar London hinterwäldlerisch. Mark hatte noch nie so viele Menschen an einem Ort gesehen. Auf den Straßen klingelte es überall, denn die Genfer Fahrradfahrer schienen sich genötigt zu fühlen, bei jeder Gelegenheit ihre Klingeln zu betätigen. Sie überquerten die Straßen durch gefährlich kleine Lücken im Verkehr. Die Fußgänger, die mit ihren Handys am Ohr scheinbar ziellos durch die Gegend schossen, schienen das Chaos um sie herum gar nicht wahrzunehmen.
Gabriel Mizrahi schob sich rücksichtslos durch die Menge und teilte dabei auch schon mal Ellbogen- und Schulterstöße aus.
Der Professor (der Mark über all den Krach geradezu ins Ohr schrie) hatte das Gefühl, dass sie auf dem Weg in eine nicht sonderlich gute Gegend waren. Erst als nach einer Weile die Menge immer dünner wurde und bald nur noch hier und da ein anderer Passant zu sehen war, wurde Mr. Mizrahi langsamer.
„Wo sind wir?“, fragte Mark
„Das ist das jüdische Viertel“, sagte er. „Das ist das Ghetto, das man hier für die Juden errichtet hat, die während des Krieges in der Schweiz waren. Die Gegend hat sich nie wirklich erholt. Die Leute hier sagen, es liegt ein schlechter Geruch in der Luft, und manche behaupten, dass es in den Gebäuden spukt.“
„Was denken Sie?“, fragte Mark.
„Ich denke...“ Er hielt inne. „Ich denke, dass mein Kontakt hier lebt und wir uns mit ihm unterhalten müssen.“
Mark spürte, dass Gabriel irgendetwas zurückbehielt, doch er wollte nicht nachhaken. Gabriel Mizrahi hatte in der kurzen Zeit einen ziemlich klaren Eindruck auf Mark hinterlassen, und das war nicht gerade der eines Mannes, der sich drängen ließ. Mark wusste, dass er einfach warten musste, bis die Antworten von selbst kamen.
Als sie ein nicht sonderlich hohes Gebäude mit abgedunkelten Fensterscheiben betraten, warf Gabriel einen Blick auf ein Stück Papier aus seiner Tasche und klopfte leise an.
Die Tür wurde einen Spalt breit geöffnet und ein Augenpaar starrte sie an.
„Bist du das, Gabriel?“
„Kannst du nicht sehen, dass ich es bin, Snead?“, antwortete Mizrahi.
„Ich sehe nicht mehr allzu gut im Licht. Was war der Namen unseres Rabbi, als wir zehn Jahre alt waren?“
„Schulman.“
„Und sein Vorname?“
„Zum Henker nochmal! Ich erinnere mich nicht an seinen Vornamen – würdest du jetzt bitte die Güte haben, die Tür zu öffnen?“
Der Mann, den Gabriel Snead genannt hatte, öffnete die Tür, starrte jedoch argwöhnisch seine Begleiter an.
„Sie gehören zu mir“, sagte Gabriel. „Sie sind der Grund, warum ich gekommen bin – lass sie rein.“
Es war die seltsamste Wohnung, die Mark je gesehen hatte. Es gab keine Möbel, nur ein paar verstreut liegende Kissen. Eine Kerze stand mitten im Raum auf dem Boden, darüber war jedoch ein großer Lampenschirm gestülpt worden, scheinbar, um sogar ihr schwaches Licht noch zu dämpfen. Der ganze Raum war in eine deprimierende Dunkelheit getaucht. Es war nicht stockfinster, die Kerze gab jedoch nicht genug Licht ab, um mehr als die schlimmsten Seiten des Lebens zu erleuchten.
„Lass sie nichts durcheinanderbringen“, sagte der Mann, als er die Tür wieder zuschob und nacheinander sieben Schlösser verschloss. Mark verstand nicht, was man hier durcheinanderbringen sollte.
Snead war ein nervöser Mann mit einem schmutzigen Bademantel und dicken Socken. Er hatte nicht mehr als einen leichten Bartschatten, darum ging Mark davon aus, dass er einen Rasierer besaß und sich zumindest in gewissem Maß pflegte. Mit seinen schmutzigen Fingern rieb er sich permanent die Nase.
„Willst du uns nicht bitten, Platz zu nehmen?“, fragte Gabriel. „Auch wenn ich sehe, dass du dieser Tage ein wenig spärlich eingerichtet bist. Alles versetzt?“
„Vielleicht“, antwortete der Mann. „Hast du irgendwas für mich?“
„Vielleicht“, schnurrte Gabriel. Sein Interesse war geweckt. „Wenn du mir den Kontakt zu ein paar guten Klempnern herstellen kannst.“
„Schwer zu kriegen dieser Tage… ein paar sind weg… im Knast oder sauber geworden“, murmelte der Mann.
„Oh, ich bin mir sicher“, fuhr Mizrahi ungerührt fort, „dass du jemanden für mich finden kannst. Was meinst du?“
Mr. Mizrahi griff in seine Tasche und zog eine kleine Plastiktüte hervor.
„Also“, sagte Snead. „Vielleicht ist Luc in der Stadt. Er könnte ein paar andere kennen. Damit kannst du vielleicht ein paar brauchbare Männer finden. Was ist das für eine Klempner-Arbeit von der du da sprichst? Großer Auftrag?“
„Der Größte.“
„Und die hier gehören irgendwie dazu?“, er machte ein vage Geste in Richtung von Kathy, Mark und Dr. LeTrec, die in Ermangelung jeglicher Möbelstücke nebeneinander an die Wand gelehnt standen.
„Dazu kann ich nichts sagen.“
„Du hast nie gerne mit offenen Karten gespielt“, sagte er kopfnickend, während er nach der kleinen Tüte in Gabriels Hand griff. „Und jetzt… darf ich?“ Doch Gabriel zog seine Hand weg.
„Zuerst solltest du einen Anruf für mich tätigen.“
„Natürlich, natürlich“, murmelte Snead und ging durch sein schäbiges Wohnzimmer in die Küche, die zumindest in Marks Vorstellung nicht viel schlimmer aussehen konnte.
„Vertrauen Sie mir“, sagte Mr. Mizrahi zu seinen Begleitern, als Snead das Zimmer verlassen hatte.
„Haben wir eine andere Wahl?“, brummte Mark.
„Guter Junge.“