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Remy hatte niemals den Augenblick vergessen, als er zum ersten Mal einen Schuss gehört hatte. Im Fernsehen oder im Kino wird der Augenblick nie laut genug dargestellt. Das war der Gedanke, der in seinem damals zwölf Jahre alten Verstand mehr als alles andere herumschoss. Zum einen, weil er emotional nicht mit der Gehirnmasse umgehen konnte, die auf die Spitzen seiner Turnschuhe in Größe 33 spritzte, die beim Laufen aufblitzten, und zum anderen, weil die Lautstärke des Knalls ihn wirklich überrascht hatte.
Sein Vater hatte ihn wie schon viele Male auf ein Sorbet eingeladen. Seine Mutter war zwei Jahre zuvor gestorben, und es war schwer gewesen, doch sein Vater tat sein Bestes, und Remy war ein ungewöhnlich intelligenter Junge gewesen, der das erkannte und zu schätzen wusste. Eine der ersten Lösungen für die Tatsache, dass er plötzlich alleinerziehender Vater geworden war, war Zucker gewesen. Er hatte nicht so viel über Kindererziehung gewusst, wie er sich gewünscht hätte, doch er wusste, dass Kinder Zucker mochten. Remy mochte Sorbet nicht einmal besonders, doch er mochte den Gedanken, dass sein Vater sich bemühte. Darum war kurz nach dem Tod seiner Mutter die Tradition entstanden, am Samstagmorgen ein Sorbet essen zu gehen. Sie waren immer zu Fuß von ihrer Wohnung aus gegangen und hatten die längste Route genommen. Der Spaziergang dauerte in der Regel mehr als eine Stunde, auch wenn man die Distanz in einer Viertelstunde hätte zurücklegen können. Es war eine Übung in Vater-Sohn-Bindung.
An diesem Morgen nieselte es, und sie machten nicht so viele Umwege wie sonst. Sie beeilten sich nicht, doch der Regen, gepaart mit der generellen Monotonie, die sich mit jeder Routine einstellt, selbst einer, die so angenehm war, wie der Sorbet-Spaziergang, dämpfte ihre gute Laune ein wenig. Bald, sehr bald sollten sie einfach nur froh sein, dass sie noch am Leben waren. Es geschah, als Remys Vater dankend das Wechselgeld ablehnte, das der Besitzer des Sorbet-Stands, der zwischenzeitlich beinahe ein Freund der Familie geworden war, ihm geben wollte.
Remys Vater hatte seinen Sohn instinktiv zu Boden gerissen und ihm mit seinem eigenen Körper Deckung gegeben, doch da war es schon geschehen. Der Schuss war nur wenige Meter von ihnen entfernt abgefeuert worden, und ihr Gehör sollte danach nie wieder so sein wie zuvor.
Jemand hatte eine Waffe auf einen Mann irgendwo hinter ihnen in der Schlange gerichtet, doch dieser hatte sich geweigert, seinen Geldbeutel herzugeben. Er hatte nach der Waffe gegriffen, und der Schuss hatte sich gelöst. Auf so kurze Distanz war von seinem Schädel nicht viel übrig gewesen. Als Remys Vater ihn zu Boden gerissen hatte, war der Räuber schon schwer atmend um die nächste Ecke abgebogen, ohne sich für seine zurückgelassene Waffe zu interessieren.
Als sein Vater ihn losgelassen hatte, war Remy aufgestanden und sich plötzlich der Gefahr bewusst geworden, die gerade eben noch bestanden hatte. Remy hatte beobachtet, wie die Leute um ihn herum ihn angesehen hatten und wie sich ihre Münder bewegt hatten. Es schien nichts herauszukommen, doch es sah gespenstisch aus, wie sie versuchten, mit ihm zu reden. Einige deuteten auf seine Füße. Auf seinen Schuhen war eine gräulich-weiße, klumpige Masse. Der Mann, der sich zur Wehr gesetzt hatte, lag keine zwei Meter weit weg. Als er entfernte Sirenen bemerkte, war das das erste Geräusch, das er wieder hörte.
* * *
Remy hatte nie vergessen, wie sich ein Schuss in geringer Entfernung anhörte. Dieses frühe Trauma hatte ihn unauslöschlich geprägt, und als er beobachtete, wie Claude mit Lloyd Rica kämpfte, wusste er, was geschehen würde, lange bevor es tatsächlich geschah.
Als Lloyd ihnen befohlen hatte, sich die Fesseln anzulegen, hatte Claude so getan, als wollte er genau das tun, hatte jedoch dann die schwere Eisenfessel genommen und nach Lloyd Rica geworfen. Glücklicherweise war die Kette lang genug gewesen, sodass das schwere Metallteil Lloyd vollkommen unvorbereitet am Bauch traf. Claude bewegte sich überraschend flink und stürzte sich auf Lloyd. Mit beängstigender Verbissenheit kämpften sie um die Waffe. Remy stand wie angewurzelt da – seine Kindheitserinnerungen trübten sein Urteilsvermögen, selbst wenn er sich durchaus der Tatsache bewusst war, dass sein Leben vom Ausgang des Kampfes abhing, der sich vor ihm abspielte.
Ein Schuss fiel. Er war genauso laut, wie Remy es in Erinnerung hatte, und als alles vorbei war, lag Lloyd Rica auf dem Boden der Wohnung, und die beiden Wissenschaftler warteten stumm darauf, dass die Polizei kam, um sie zu verhaften. Doch die Minuten verstrichen, und nichts geschah. Niemand schien dem Schuss Beachtung geschenkt zu haben. Lloyd Ricas Blut ergoss sich auf den Boden und tränkte Claudes Schuhe und Socken. Angewidert warf er die Waffe in die Ecke. Sie schlitterte über den Boden und blieb in der Nähe der Wand liegen.
„Ist er?“, flüsterte Remy schließlich.
„Ja. Er ist tot.“
Beide hatten es gewusst, doch es musste ausgesprochen werden. Niemand konnte so viel Blut verlieren und überleben. Das war vollkommen unmöglich.
„Was sollen wir tun?“ Claude stellte die Frage, die auf der Hand lag, doch keiner der beiden Männer hatte eine Antwort auf die Frage. „Sollen wir uns der Polizei stellen? Es war schließlich Notwehr. Er hat offensichtlich vorgehabt, uns zu foltern.“
„Nein. Auf gar keinen Fall. Das werden wir nicht tun.“
„Was dann?“
„Wir beerdigen ihn.“
„Bist du wahnsinnig?“
„Das habe ich mich auch schon gefragt.“