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Premierminister Giorkis Kamali war in seinem Zelt – es war eher ein mobiles Schlafzimmer als ein Zelt. Vier Männer und vier Maulesel waren allein dafür abgestellt, es zu transportieren. Ein bequemer Sessel, eine Leselampe und ein Kaffeetischchen gehörten neben einem komfortablen ??? zu den Dingen, auf die der Premierminister nicht verzichten wollte. Er saß im Licht der Lampe in seinem Sessel und las, als die Zeltbahn vor dem Eingang zurückgeschlagen wurde und einer seiner schwarz gekleideten Bodyguards eintrat.
„Mein… Kollege… möchte gerne mit Ihnen sprechen. Ich habe ihm gesagt –“
Der Premierminister hob seine Hand.
„Das hast du gut gemacht. Ich bin müde und werde mich bald hinlegen. Sag ihm, dass ich später mit ihm sprechen werde, und dass er sich lieber auf seine Aufgabe konzentrieren sollte.“
„Ja, Sir“, sagte der Mann und wandte sich zum Gehen.
„Und Ibrahim?“
„Ja, Premierminister?“
„Behalte ihn im Auge.“
Premierminister Kamali wandte sich wieder seinem Buch zu, als wäre er nie gestört worden. Er legte seinen Finger auf den Text, um eine interessante Stelle ganz genau zu studieren.
Kaum zwanzig Meter entfernt saß Kathy neben Mark, der mit einem Stock im schwachen Lagerfeuer herumstocherte. Es war kalt. Während ihres Ritts am Tag war es erdrückend heiß gewesen, doch nach Sonnenuntergang war die Temperatur dramatisch gefallen. Sie hatten eine Decke um ihre Schultern gelegt und saßen eng aneinander geschmiegt, um sich gegenseitig zu wärmen.
„Was denkst du, was da drüben los ist?“, fragte Kathy mit einem Nicken in Richtung des Zelts des Premierministers. Einer seiner Bodyguards stand vor dem Zelt und scharrte mit den Füßen, während der andere hineinging.
„Nichts Gutes“, sagte Mark und rieb seine Hände aneinander.
„Hast du schon darüber nachgedacht, wie wir ihn davon abhalten sollen, den Gral zu zerstören?“, fragte Kathy
„Das ist so ziemlich das einzige, woran ich den ganzen Tag denken konnte. Doch ganz ehrlich… ich bin mir nicht sicher, ob wir ihn aufhalten sollten.“
Dickes Schweigen legte sich über sie, während Kathy ihre Worte sorgfältig abwägte.
„Was meinst du damit – ob wir ihn aufhalten sollten?“
„Nun“, sagte Mark und sah sie an. „Ist der Gral unser beider Leben wert? Es ist meine berufliche Pflicht als Archäologe, dafür zu sorgen, dass der Becher erhalten bleibt. Er ist von größter historischer Wichtigkeit, Tausende von Jahren alt. Aber Kathy… ich glaube nicht, dass er göttlich ist. Ich bin nicht Reginald oder Gabriel. Es ist nur ein Becher. Würdest du dein Leben für dein Berufsethos geben? Was, wenn wir einen anderen Beruf hätten?“
„Wir müssen es versuchen“, sagte Kathy leise. „Wir müssen es einfach.“
Ihre Unterhaltung schlief ein, als die Nacht um sie herum immer finsterer wurde und der Schlaf wichtiger wurde als ihr moralisches Dilemma.
Sie wachten am Morgen zu lebhafter Betriebsamkeit auf. Sie schienen die letzten der Karawane zu sein, die immer noch geschlafen hatten. Mark und Kathy rieben sich noch den Schlaf aus den Augen, als der Premierminister – bereits in Reitkleidung – mit zwei dampfenden Humpen auf sie zukam.
„Kaffee für meine geschätzten Archäologen?“, sagte er gutgelaunt. Auch wenn sie nicht einer Meinung mit ihm waren, mussten sie doch zugeben, dass er ein charmanter Mann war.
Sie standen auf, um sich zu strecken und nahmen dankbar den angebotenen Kaffee entgegen. Sie beobachteten, wie einige Männer aus der Karawane einpackten und die Pferde und Maulesel beluden. Rufe hallten durch die kühle Morgenluft, Befehle wurden hin und her gerufen und teils lautstark diskutiert. Es herrschte rege Geschäftigkeit im sonst so ruhigen Vorgebirge. Der Premierminister bemerkte, dass Mark die Aktivität beobachtete.
„Wir werden als kleinere Gruppe weiterreisen. Auf mein Zelt muss ich von hier an leider auch verzichten.“
„Das ist schon hart, nicht wahr?“, bemerkte Mark. „Kehren sie um?“
„Nicht alle“, sagte er. „Das unerlässliche Personal bleibt.“ Er ging nicht weiter darauf ein, was er damit meinte. „Irgendwann lassen wir dann auch den Rest zurück. Man kann keine ganze Karawane in die Berge führen. So funktioniert das leider nicht.“
„Nein“, sagte Mark, „ich fürchte nicht.“
* * *
Kathy hatte sich entschuldigt, während der Premierminister mit Mark sprach. Ihr Kaffee stand immer noch dampfend auf ihrer Decke. Sie verschwand im allgemeinen Getümmel und nutzte die einzige Waffe, die es gab, wenn man etwas erledigen wollte: Selbstbewusstsein. Sie mischte sich unter die Männer und tat so, als gehörte sie dazu. Sie prüfte Satteltaschen und tat dabei so beschäftigt wie möglich. Sie ging von einem Maulesel zum anderen und nickte dabei den Männern zu. In einer der ersten Satteltaschen steckte ein Ouija – ein Hexenbrett – und so seltsam es auch war, sie wusste, was sie tun musste. Sie zog es heraus und nahm es mit.
Sie brauchte ein paar Minuten um zu finden, wonach sie suchte. Sie blickte in eine Satteltasche und sah, wie die Sonne vom Lauf reflektiert wurde. Vorsichtig hob sie den Revolver vom Typ Sarsilmaz 357 heraus und nahm auch noch eine Handvoll Extra-Munition mit. Sie öffnete die Schachtel des Hexenbretts und legte den Revolver und die Munition hinein. Mit der Schachtel unter dem Arm kehrte sie zu Mark zurück. Mark sah sie aus der Ferne auf sich zu kommen und warf ihr einen fragenden Blick zu. Da sie Mark ansah und nicht auf den Weg achtete, stieß sie versehentlich mit einem der Bodyguards des Premierministers zusammen. Der Stoß, den er ihr versetzte, ließ sie stolpern.
„Passen Sie auf, wohin sie laufen“, sagte er mit kratziger Stimme. Sie gewann ihre Balance zurück, als eine starke Hand sie stützte. Sie blickte auf und sah Kamali vor sich stehen.
„Entschuldigen Sie bitte seine raue Art“, sagte der Premierminister. „Er hat keine Manieren, doch er ist gut in seinem Job.“
„Danke“, sagte sie kurz angebunden und ging weiter.
„Oh, und Kathy?“, fragte er. Sie sah ihn über ihre Schulter hinweg an.
„Lassen Sie uns bei Gelegenheit Ihr Spiel spielen. Ich liebe Spiele!“ Seine Augen waren auf die Schachtel unter ihrem Arm gerichtet. Sie nickte und ging schnell zu Mark zurück.