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Das Stöhnen kam aus dem Inneren des Schuppens. Remy stieß die Tür auf, bevor ihm die Nerven durchgingen. Drinnen erwartete sie der amüsanteste Anblick der Nacht: das Stöhnen kam vom Friedhofsgärtner, der so betrunken gewesen sein musste, dass er sich selbst im Schuppen eingesperrt hatte. Er lag auf einem Sack Mulch und hatte eine Flasche billigen Armagnac zwischen den Beinen. Die beiden Männer starrten ihn an, und er starrte sie an – Unverständnis in den Augen.

„Wir übernehmen deine Schicht, Kumpel“, sagte Claude, der als erster die Kontrolle wiedergewonnen hatte. „Du kannst nach Hause gehen.“

„Sssollte ich vielleicht“, lallte er und versuchte aufzustehen. Remy bückte sich und half dem Mann auf. Er wankte, als er schließlich stand, doch er wirkte halbwegs sicher.

„Lebst du weit von hier?“, fragte Remy, doch der Mann schüttelte nur heftig mit dem Kopf.

„Danke“, sagte er und wollte sich an den Hut fassen, warf ihn jedoch nur hinunter. Claude hob den Hut auf und setzte ihn dem Mann wieder auf den Kopf. Er bemerkte, dass es ein ähnlicher schlichter, schwarzer Hut wie ihrer war und konnte nicht fassen, wie viel Glück sie gehabt hatten.

„Komm gut nach Hause“, sagte Claude.

Claude und Remy beobachteten ungläubig mit in die Hüften gestützten Händen, wie der Friedhofsgärtner die Straße hinuntertorkelte und um eine Ecke verschwand. Das Glück war in dieser Nacht wirklich auf ihrer Seite. Die beiden Männer scheuten sich, sich zu früh über ihr Glück zu freuen, darum holten sie die Schaufeln und gingen zurück auf den Friedhof, um ihre unangenehme Aufgabe zu vollenden. Remy dachte bei sich, dass Shakespeare wahrscheinlich nie selbst ein Grab ausgehoben hatte, sonst wären seine Beschreibungen des Vorgangs weniger geistreich gewesen. Ein Grab auszuheben, das lang und tief genug für einen Menschen war, war schwerer, als sie sich vorgestellt hatten und eine schweißtreibende Arbeit. Immer wieder mussten sie erschöpft innehalten und sich auf ihre Schaufeln stützen. Sie redeten kaum, und Remy ließ seine Gedanken wieder in die Vergangenheit schweifen.

* * *

Remy und sein Vater besuchten die Beerdigung des Mannes, dessen Ermordung sie Zeuge geworden waren. Remys Vater hatte den Morgen damit verbracht, an Zeitungsständen irgendwelche Informationen über die Ermittlungen zu finden, doch es schien fast so, als hätte die Polizei den Mann aufgegeben. Das war die Realität der Polizeiarbeit – meist blieben ihre Ermittlungen ergebnislos. Er hatte jedoch über den Mann gelesen, zu dessen Beerdigung sie gingen, und es stimmte ihn traurig. Wie sein Sohn ihm bereits gesagt hatte, war der Mann vollkommen allein. Er war Professor an der Universität gewesen (und als Remy viele Jahre später selbst eine Professur übernahm, musste sein alternder Vater wieder daran denken) und hatte ziemlich zurückgezogen gelebt, als seine Frau recht jung gestorben war. Er hatte nie wieder geheiratet, doch den Berichten seiner Studenten und Kollegen zufolge war er ein lebhafter und freundlicher Mann gewesen, immer offen für Diskussionen. Sein Fachgebiet war Philosophie gewesen, und Remys Vater fragte sich, was der Mann wohl über seine eigene Todesart gedacht hätte. Er hätte sicher einen passenden Syllogismus für den Augenblick seines Todes gehabt, doch Remys Vater wusste es nicht.

Remy und sein Vater waren die einzigen Menschen, die die Beerdigung des Mannes besucht hatten, außer jenen, die es aus beruflichen Gründen taten. Es war unfassbar für Remy und seinen Vater, dass keiner seiner Studenten oder Kollegen gekommen war. Vater und Sohn kamen zu dem Schluss, dass die Philosophie kein freundliches Fachgebiet gewesen sein musste. Darum verbrachten die beiden mit feierlichen und ernsthaften Gesichtern ihren Morgen bei der Beerdigung und trauerten so sehr, wie man um einen vollkommen Fremden trauern konnte. Als der Priester betete, liefen Remy zum ersten Mal seit dem Tod seiner Mutter Tränen über das Gesicht. War das alles, was das Leben zu bieten hatte?

* * *

„Ich kenne jemanden, der auf diesem Friedhof begraben ist“, sagte Remy und brach damit eine minutenlange Stille.

„Was?“, antwortete sein Freund.

„Da drüben.“ Remy stützte sich auf seine Schaufel und deutete in die Dunkelheit. Er hatte den Friedhof erkannt, als er vor Stunden die Wohnung des Toten verlassen hatte, um sich umzusehen. Er hatte kurz überlegt, nach einem anderen Friedhof zu suchen, hatte die Idee jedoch schnell verworfen. „Zumindest denke ich, dass es da drüben ist. Warte.“ Remy kletterte aus dem Loch. Es war jetzt tief genug, dass es ihn ein wenig Anstrengung kostete. Sie hatten gute Fortschritte gemacht. Claude beobachtete, wie Remy über den Friedhof ging und hatte das Gefühl, ihm folgen zu müssen. Als Remy stehen blieb, starrte er ein Grab an, das vernachlässigt aussah. Unkraut wuchs darauf, und anders als bei den anderen Gräbern lagen hier keine welkenden Blumen, die jemand liebevoll vor dem Stein drapiert hatte. Claude sah zu, wie Remy auf die Knie ging und anfing, energisch das Unkraut auszureißen. Er warf es wütend hinter sich. Als er fertig war, ließ er sich schwer atmend auf seine Knie nieder und starrte den Grabstein an. Er war alt und die Schrift verblasst; billig, wahrscheinlich von einer dieser Wohltätigkeitsorganisationen gekauft, die Grabsteine für Leute ohne Nachlass stifteten.

„Wer ist er?“, fragte Claude.

„Niemand“, antwortete Remy. „Niemand. Nur ein alter Akademiker wie wir.“

Remy stand auf und legte die Hand auf Claudes Schulter.

„Lass uns ihn unter die Erde bringen.“

Claude bemerkte, dass Tränen über Remys Wangen liefen und glaubte zumindest in gewisser Weise zu verstehen, warum Remy so sehr darauf bestanden hatte, den Mann zu beerdigen, der vorgehabt hatte, sie zu foltern, bis sie Mark Lockheeds Aufenthaltsort enthüllt hätten. Ganz konnte er es nicht verstehen und würde es wahrscheinlich niemals tun, doch er konnte damit leben.

Von diesem Moment an arbeiteten sie schnell. Als sie fertig waren, klopften sie die Erde wieder so gut es ging fest. Ein zufriedenes Gefühl überkam sie, als sie dem geistesgestörten Mann die letzte Ehre erwiesen hatten. Sie stellten die Schaufeln zurück in den Schuppen, in dem sie den betrunkenen Friedhofsgärtner gefunden hatten und verschlossen ihn wieder.

Ohne sich noch einmal umzusehen, verließen sie den Friedhof und gingen die Straße hinunter. Remy schlug vor, zum Labor zu gehen. Sie mussten nachsehen, wie weit der Datierungsprozess fortgeschritten war. Claude nickte zustimmend. In all dem Chaos hatte er fast den Anlass vergessen, der ihn wieder mit seinem alten Kollegen zusammengeführt hatte.  Es war ein langer Fußmarsch zur Universität, doch keiner von beiden beschwerte sich. Sie brauchten den Spaziergang, um ihre Gedanken zu ordnen, und es war eine angenehme, kühle Nacht. Als sie jedoch am Labor ankamen, bemerkten sie, dass etwas nicht stimmte. Sie gingen am Rand des Parks gegenüber der Universität entlang und konnten sehen, dass zwei Männer vor der Tür zum Labor standen – und es waren nicht bloß irgendwelche Männer.

Ihre Uniformen verrieten sie. Sie waren Polizisten.

 

Die Jagd nach dem Heiligen Gral
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