Veratrum album
Veratrum ist ein seltener Konstitutionstyp und gehört zu den wenigen Arzneien, die mit Menschen in Resonanz stehen, die ihr Leben an der Schwelle zum Wahnsinn verbringen. Es ist nahe verwandt mit Stramonium und Syphilinum, hat jedoch seine eigenen, einzigartigen Charakteristika.
Die meisten Veratrum-Menschen, die einen Homöopathen konsultieren, sind geistig relativ gesund. Gleichwohl wirkt Veratrum auch während relativ stabiler Phasen nach außen hin etwas merkwürdig, wie auch viele stabile Anacardium-Patienten. Die auffälligste Abweichung ist zunächst oft die Sprache. Veratrum ist psychisch ein sehr rigider Typ, und das drückt sich in seiner Stimme aus. Ein Veratrum-Patient sprach während der Fallaufnahme unangemessen laut, während ein anderer in einem angespannten Stakkato redete, als sei er ein Roboter. Kalium carbonicum spricht oft ein wenig steif, aber er ist weder in seinem Denken noch in seiner Sprache auch nur annähernd so steif wie Veratrum, der geistig wahrscheinlich der starrste aller Konstitutionstypen ist. Die nächste ungewöhnliche Eigenschaft, die auffällt, ist eine drängende, überzogen selbstsichere Art zu sprechen. Das wirkt insgesamt noch unangemessener als bei anderen selbstsicheren Typen wie Nux und Sulfur, denn die Veratrum-Persönlichkeit ist geistig aus der Balance und interpretiert die Wirklichkeit nicht auf »normale« Weise.
Veratrum-Patienten, die lediglich über körperliche Beschwerden klagen, wirken vielleicht nur ein wenig steif und laut, bis man näher auf die Geistessymptome eingeht. Veratrum erfüllt nur mit Mühe die sozialen Normen, die wir für selbstverständlich halten. Wahrscheinlich lacht er ein bißchen zu laut, oder er beginnt mit der Beschreibung seiner Symptome, kaum daß er sich hingesetzt hat, und wartet nicht, bis der Homöopath ihn anspricht (Kent: »Rüpelhaftigkeit«). Wenn man zur Beurteilung der Geistessymptome kommt, besteht das auffallendste Charakteristikum gewöhnlich in der arroganten Art, mit der Veratrum vielfach auf seinen eigenen Vorstellungen beharrt, und in dem Dogrnatismus, mit dem er seine Meinungen vertritt. Zwei Veratrum-Patienten haben mir gesagt, andere Leute hätten sie einen »kleinen Hitler« genannt, und sie gaben zu, daß sie sehr herrisch waren. Einer stritt sich ständig mit seinen Mitbewohnern (Kent: »streitsüchtig«), weil er der Meinung war, ihre Musik sei zu laut, sie seien zu unsauber, oder weil er die Freunde, die sie mit nach Hause brachten, nicht leiden konnte. Er wußte, daß er etwas diktatorisch war, sagte das jedoch mit einem Lächeln und ohne das geringste Zeichen von Bedauern.
Ein anderer Veratrum-Patient berichtete, ihm sei wegen seiner »Einstellung« gekündigt worden. Er zeigte mir den Briefwechsel zwischen ihm, seinem ehemaligen Chef und den jeweiligen Rechtsanwälten, der eine Menge über seinen Charakter aussagte. Sein ehemaliger Chef, ein Bankdirektor, hatte geschrieben, mein Patient sei »diktatorisch, intolerant und zu keinem vernünftigen Verhältnis mit seinen Kollegen fähig«. Aber das war nicht der einzige Grund für die Kündigung. Er hatte auch manische Phasen gehabt, in denen es ihm egal war, welche Zahlen er ins Hauptbuch schrieb. Aber obwohl es für seine Entlassung triftige Gründe gab, führte er unnachgiebig einen Prozeß um seine Wiedereinstellung, der ihn ein Vermögen gekostet haben muß und schließlich doch nicht zum Erfolg führte. All dies tat er nur, weil er sicher war, im Recht zu sein, ungeachtet der Tatsachen. Als er mit mir über diese Angelegenheit sprach, geriet er zunehmend in Wut, und ich mußte ihn von diesem Thema abbringen, damit er sich wieder beruhigte (Kent: »leicht beleidigt«). Seine hauptsächlichen Beschwerden waren Kopfschmerzen, die sich nach einer Dosis Veratrum 10M schnell besserten. Er hatte jedoch kein Interesse daran, die Behandlung fortzusetzen, so daß ich nicht sagen kann, welchen Einfluß das Mittel auf seine Gesamtpersönlichkeit hatte.
Veratrums Besserwisserei macht es ziemlich schwierig, mit ihm zu leben oder ihn um sich zu haben. Einer meiner Veratrum-Patienten war verheiratet, und er erzählte mir, seine Frau wünsche sich, er würde weniger herrisch sein. Ich fragte ihn, auf welche Weise er herrisch sei, und er erzählte mir, daß fast alles nach seinen Vorstellungen gehen müsse. Beispielsweise entschied er, in welcher Farbe das Wohnzimmer gestrichen werden sollte, ohne dabei die Wünsche seiner Frau zu berücksichtigen. Er berichtete auch, er zeige ziemlich regelmäßig Nachbarn an, die ihr Auto ordnungswidrig auf der Straße parkten (obwohl sie seine Einfahrt nicht versperrten), und er beschwere sich oft bei den Behörden, wenn Leute in Bereichen mit Rauchverbot rauchten.
Die Art, wie der Veratrum-Patient sich dem Homöopathen gegenüber verhält, ist ein gutes Beispiel für seine Arroganz. Ein Patient stellte mir viele Fragen über die Mittel und ihre Wirkung und reagierte dann mit einem Zynismus, der an blanken Unglauben grenzte (Kent: »überheblich«), Ich stellte fest, daß ich dieses Kreuzverhör nur vermeiden und die Fallaufnahme fortsetzen konnte, indem ich mich sehr deutlich ausdrückte. Das schien ihn zu überraschen und ließ ihn kooperativer werden.
Manisch-depressive Psychose und Religiosität
Veratrum-Menschen sind oft anfällig für manisch-depressive Psychosen, wobei die manische Phase im allgemeinen ausgeprägter ist als die Depression. Der Bankangestellte, der seinen Job verloren hatte, beschrieb alle typischen Züge der Manie, als er sein Verhalten während einer manischen Phase schilderte. In solchen Zeiten fühlte er sich extrem rastlos (Kent: »Neigung zu ziellosen Aktivitäten«), gab zuviel Geld aus, unternahm sexuelle Annäherungsversuche bei Fremden (Kent: »erotische Manie«) und aß tagelang nichts (Kent: »weigert sich zu essen«). Veratrum ist auch in seinen besten Zeiten ein sehr unruhiger Typ. Selbst wenn er sich nicht in einer manischen Phase befindet, fällt es ihm wahrscheinlich schwer, lange Zeit still zu sitzen. Ein Patient erzählte mir, er laufe abends zu Hause oft hin und her, und wenn diese Rennerei hektischer werde, wisse seine Frau, daß ein weiterer manischer Anfall bevorstehe (Kent: »Rastlosigkeit – ängstlich«).
Nach der manischen Phase kann Veratrum in eine Depression abgleiten, die durch Vor-sich-hin-Brüten und Verzweiflung charakterisiert ist. Der depressive Veratrum wird stundenlang schweigend darüber nachdenken, wie elend er sich fühlt, und sich vorstellen, daß er sich nie wieder besser fühlen wird (Kent: »verzweifelt an seiner Genesung«). In solchen Zeiten ist er meist noch ängstlicher als gewöhnlich, besonders wenn er alleine ist, und er denkt dann vielleicht darüber nach, daß Selbstmord ein Ausweg aus seiner Misere sein könnte.
Ein sehr charakteristischer Zug der Veratrum-Persönlichkeit ist die Neigung zum religiösen Fanatismus. Von den drei Veratrum-Patienten, die ich in den letzten Jahren behandelt habe, war einer nicht religiös, einer sagte, er sei früher von Religiosität besessen gewesen, und der dritte war im Hinblick auf seine Religion fanatisch. Gewöhnlich gehört zu einem solchen religiösen Fanatismus die Angst vor der Verdammnis und die Hoffnung auf Erlösung. Veratrum kann besessen sein von der Idee, daß er verdammt ist (Kent: »Angst um das Seelenheil«), und sich große Mühe geben, fromm zu sein und für seine Sünden zu büßen (Kent: »beten« – Fettdruck). Er kann aber auch die Rolle des Predigers übernehmen und versuchen, andere zu überzeugen, daß sie Buße tun und sich Gott zuwenden müssen (Kent: »ermahnt zur Reue, predigt«), In manischen Phasen wird diese Religiosität verstärkt, und Veratrum steht vielleicht an einer Straßenecke und predigt erregt vor Passanten. In solchen Zeiten glaubt er möglicherweise, er sei von Christus auserwählt, die Massen zu retten, oder er hält sich sogar selbst für Christus (Kent: »exaltierter religiöser Wahnsinn«). Das ist ähnlich wie die Religiosität von Platina-Frauen, bei denen der Größenwahn jedoch stärker ausgeprägt ist als der Hang zum Predigen.
Die Arzneimittellehren sind voll von Hinweisen auf Veratrums Gewaltpotential (Kent: »beleidigend«, »beißt«, »Delirium – rasend vor Wut«). Einige meiner Veratrum-Patienten haben zugegeben, daß sie zu Gewalttätigkeiten neigen, aber das war selten ein herausragendes Merkmal ihrer Selbstdarstellung. Ich vermute, man müßte in den entsprechenden Situationen dabeisein oder Zeugen befragen, um Veratrums Ausbrüche einschätzen zu können. Mit Sicherheit ist Veratrum dogmatisch, aggressiv und manchmal wie von Sinnen, und es ist leicht nachzuvollziehen, wie diese Eigenschaften vor allem während manischer Phasen zur Gewalttätigkeit führen können. Ich glaube, daß Adolf Hitler wahrscheinlich Veratrum war. (Die Alternative wäre Stramonium.) Er war nicht nur dogmatisch und mußte stets seine eigenen Vorstellungen durchsetzen, sondern er stand auch an der Grenze zur Geisteskrankheit und rneinte, er habe einen beinahe göttlichen Auftrag, eine Superrasse zu schaffen und zu führen. Er war tief in okkulte Traditionen verstrickt, von denen er glaubte, daß sie seinen weltweiten Machtanspruch begründeten, und in seinen Reden verwendete er zahlreiche religiöse Vorstellungen.
Furcht und Besessenheit
Wie andere syphilitische Typen kann Veratrum zu Zwangsverhalten und Besessenheit neigen. Je weniger der syphilitische Typ geistig gesund ist, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, daß solche Störungen auftreten. Deshalb zeigt sich bei Arsenicum und Kalium carbonicum oft nur ein geringfügiges Zwangsverhalten, während Syphilinurn, Veratrum und Hyoscyamus häufig unter erheblichen Zwängen leiden. Einer meiner Veratrum-Patienten war besessen von Pünktlichkeit. Er war nicht nur selbst immer pünktlich und reagierte extrem ungehalten, wenn andere Leute sich verspäteten, sondern er hatte auch einen sehr strengen Tagesablauf, schloß die Vorhänge jeden Abend exakt zur gleichen Zeit und gestattete sich genau eine halbe Stunde nach dem Abendessen, um die Zeitung zu lesen. Andere Veratrums kümmern sich generell pedantisch um jede Kleinigkeit, sei es nun die Anzahl der Rosinen in ihrem Müsli oder die Frisur ihrer Frau. Während andere zwanghafte Typen ängstlich werden, wenn man ihre starre Routine durchbricht, reagiert Veratrum meist reizbar oder bekommt einen Wutanfall.
Ihre Ängste waren für meine Veratrum-Patienten kein herausragender Aspekt ihrer Krankengeschichte. Gleichwohl habe ich bei Veratrum gelegentlich eine irrationale Angst vor dem Tod und auch ein gewisses Maß an Paranoia festgestellt. Ein Beispiel dafür war der Veratrum-Angestellte, der meinte, er sei ungerechtfertigt entlassen worden.
Mir ist noch keine Veratrum-Frau begegnet, obwohl Kent das Mittel als nützlich für hysterische oder geisteskranke Frauen mit ziemlich intensiven prämenstruellen Symptomen beschreibt (»Veratrum könnte viele Frauen vor der Irrenanstalt retten, besonders jene mit Gebärmutterbeschwerden«).
Körperliche Erscheinung
Veratrum hat als Ausdruck seiner starren Mentalität meist ein sehr knochiges Gesicht. Die Nase ist gewöhnlich kräftig und gerade, was auf Entschlossenheit hinweist, und der Blick ist oft durchdringend oder manisch. Der Körper ist in der Regel straff und drahtig. Ein gutes Beispiel für die äußere Erscheinung von Veratrum ist David Koresh, der fanatische Prediger, der zusammen mit vielen seiner Anhänger in Waco, Texas, starb, nachdem er den Befehl gegeben hatte, ihre belagerten Gebäude anzuzünden.