Belladonna
Belladonna ist ein seltener Konstitutionstyp, sogar noch seltener als verwandte Typen wie Stramonium und Veratrum album. Es ist grundsätzlich bekannt als Akutmittel zur Behandlung von Fieber und Entzündungen, besonders wenn das Fieber von Delirien begleitet wird. Dies gibt uns einige Hinweise auf das Wesen der Belladonna-Konstitution.
Metaphysische Interessen
Belladonna ist der einzige aus einer ganzen Gruppe von potentiell psychotischen Konstitutionstypen, der geistig ebensogut gesund wie krank sein kann, und anders als meine Stramonium- oder Veratrum-Patienten waren die meisten meiner Belladonna-Patienten geistig relativ gesund, hatten jedoch individuelle Züge, die ein psychotisches Potential erkennen ließen.
Ein typischer Belladonna-Zug, den sowohl geistig gesunde als auch kranke Menschen zeigen können, ist das Interesse an Metaphysik. Ich habe es bei jedem meiner Belladonna-Patienten gefunden. Die geistig gesunden wie auch die geisteskranken unter ihnen sind geradezu besessen von spirituellen und übersinnlichen Fragen. Alle meine Belladonna-Patienten haben über mediale Fähigkeiten berichtet, und alle waren besessen von dem Wunsch, die immateriellen Aspekte der Wirklichkeit zu verstehen. Während eines Belladonna-Fiebers ist der Patient im Delirium und hat Halluzinationen von Geistern, Engeln oder Dämonen (Kent: »sieht Geister und Gespenster«). Der Belladonna-Konstitutionstyp neigt ebenfalls zu Visionen, Halluzinationen und übersinnlichen Wahrnehmungen. Geistig gesunde Belladonna-Typen haben statt Visionen und Halluzinationen eher Fähigkeiten, die auch bei einer stabileren Konstitution vorkommen, und können bestimmte Ereignisse vorhersagen oder sich auf Astralreisen begeben. Im allgemeinen sind diese Leute meist von ihren Fähigkeiten und anderen übersinnlichen Dingen fasziniert. Für den Homöopathen ist es schwer zu beurteilen, ob es sich dabei um echte oder eingebildete Fähigkeiten handelt. Ein gesunder Belladonna-Patient hatte an einem Kurs teilgenommen, bei dem es darum ging, übersinnliche Fähigkeiten bei Studenten zu untersuchen, und hatte dabei festgestellt, daß seine eigenen übersinnlichen Fähigkeiten die aller anderen Kursteilnehmer übertrafen. Er sagte, er denke viel über metaphysische Fragen nach und gehe davon aus, daß der menschliche Geist zu fast allem fähig sei.
Belladonna-Menschen haben oft das Gefühl, sie hätten eine Art magischer oder übersinnlicher Kraft, selbst wenn es dafür keine direkten Anzeichen gibt. Zwei meiner Belladonna-Patienten sagten, daß sie glaubten, sie hätten die Kraft, andere zu heilen, hätten es aber bisher noch nicht versucht. Ein anderer gab an, er sei sicher, mit etwas Übung könne er lernen, Dinge allein durch seinen Willen zu bewegen (Kent: »Wahnidee – daß er ein Magier ist«). Er sagte, dieses Wissen mache ihm angst, fasziniere ihn aber auch. Das erinnert an die Faszination, die Mercurius bei Magie empfindet, und auch an den Größenwahn von Veratrum und Platina. Ich habe jedoch nie erlebt, daß ein Mercurius-Patient übersinnliche Fähigkeiten in größerem Umfang angegeben hätte, und das Gefühl der persönlichen Macht ist bei Belladonna weit eingeschränkter als bei Veratrum und Platina. Deshalb findet man es auch bei geistig gesunden oder relativ gesunden Menschen.
Gewalttätigkeit
Alle Belladonna-Patienten, die ich behandelt habe, waren Männer. Das wundert mich jedoch nicht, denn Belladonna ist genauso ein anmaßender, feuriger Typ wie Sulfur. (Kent: »Die Geistessymptome sind alle aktiv, niemals passiv.«) Wie bei allen feurigen Typen ist Gewalttätigkeit ein herausragender Zug bei den Geistessymptomen von Belladonna. Hier kommen wir zu einem auffälligen Widerspruch in der Belladonna-Psyche: Die meisten Belladonna-Menschen beschreiben sich selbst als offen und warmherzig. Ein schizophrener Belladonna-Patient charakterisierte sich als »eine Kuschel-knuddel-Liebesmaschine«. Das ist jedoch kaum überraschend, wenn man daran denkt, daß Feuer sowohl wärmend als auch zerstörerisch sein kann. Alle feurigen Typen haben leidenschaftliche und destruktive Elemente in ihrer Psyche, und diese beiden Elemente sind bei den labilen Typen wie Belladonna und Platina extremer ausgeprägt als bei den stabileren Feuertypen wie Sulfur.
Belladonna hat ein explosives Temperament. Das mag er lange unter Kontrolle halten, wenn er relativ gesund ist, aber von Zeit zu Zeit wird es explodieren und Schaden anrichten. Belladonna-Menschen schaffen es oft, bei einer überraschenden Auseinandersetzung das Beste für sich herauszuholen, und sie können Anstifter sein. Ein Belladonna-Mann sagte, er habe Angst, daß Räuber in sein Haus einbrechen könnten. Das ließ mich an Natrium muriaticum denken, aber dann erklärte er, er fürchte sich davor, daß er eventuelle Einbrecher umbringen werde. Ein anderer Belladonna-Mann sagte, als Kind habe er seine Schwester mit dem Kopf gegen die Wand geschlagen, und ihm sei nicht klar gewesen, daß er damit etwas Unrechtes tat, bis man ihm das mehrfach und sehr ernsthaft eingetrichtert habe. Es ist dieser unbarmherzige Aspekt der Gewalttätigkeit, der den Unterschied zwischen Belladonna und der Wut von stabileren Typen wie Nux und Natrium muriaticum ausmacht.
Geistig relativ gesunde Belladonna-Menschen haben lediglich eine gewisse Neigung zur Gewalttätigkeit. Wie alle feurigen Typen sind sie eher herrisch und dominierend, vor allem gegenüber Menschen, die ihnen nahestehen. Weil er so labil ist, fühlt sich Belladonna unter Fremden leicht unwohl, und er mag dann schüchtern oder zurückhaltend wirken. In Gesellschaft von Menschen, die er gut kennt, ist er jedoch meist eigensinnig und anmaßend.
Die geistig weniger gesunden Belladonna-Menschen neigen zu Wutanfällen. Sie geraten leicht in manische Zustände, die sich ebenso in blinder Wut äußern können wie auch in anderen Formen der Erregung, beispielsweise religiöser oder sexueller Art.
Manie
Das spezielle Profil der Geisteskrankheit bei Belladonna überschneidet sich mit den Profilen anderer psychotischer Typen wie Anacardium und Stramonium. Ein herausragender Aspekt bei Belladonna sind visuelle und akustische Halluzinationen (Kent: »Wahnideen – sieht Gespenster, Geister«, »Wahnideen – hört Stimmen«). Ein junger Mann kam in meine Sprechstunde, weil er wegen einer paranoiden Schizophrenie seit Jahren von starken Beruhigungsmitteln abhängig war, die er nicht mehr nehmen wollte. Er war ein angenehmer, extrovertierter Mann, der sich mit großer Leidenschaft seinen metaphysischen Interessen widmete und davon überzeugt war, er könne Menschen heilen. Er wollte ein Therapiezentrum aufbauen, aber er war ziemlich labil und zu regelmäßiger Arbeit nicht fähig. Während er sprach, war sein Blick von manischer Intensität, und er brach häufig in lautes Gelächter aus (Kent: »lautes ungestümes Gelächter«). Er wirkte jedoch niedergeschlagen, wenn er über die Nebenwirkungen seiner Medikamente sprach, die ihm jedes Gefühl von Inspiration raubten, und er weinte, als er mir erzählte, niemand liebe ihn und selbst seine Schwester verhalte sich ihm gegenüber argwöhnisch. Er hörte zahlreiche Stimmen in seinem Kopf und hatte für jede einen Namen. Wie viele psychotische Menschen war er im psychologischen Bereich sehr scharfsinnig, und das nutzte er, um die Stimmen auf eine Weise zu identifizieren, die sie normaler erscheinen ließ. So bezeichnete er eine Stimme als sein höheres Selbst, weil sie von seiner spirituellen Berufung zum Heiler sprach und ihn an seine spirituellen Ursprünge erinnerte, während er eine andere Stimme sein Alter ego nannte, weil sie böse war und ihn davon zu überzeugen versuchte, daß er wertlos und verdammt sei und sein Ringen um mehr Stabilität genausogut aufgeben könne. Wieder andere Stimmen nannte er sein Ego und seine Führer. Häufig hatte er sowohl schöne als auch schreckliche Visionen, die er als wahre Bilder des Himmels und der Hölle interpretierte, und er hatte das starke Bedürfnis, anderen etwas über diese Welten zu vermitteln.
Wie auch andere potentiell psychotische Typen neigt Belladonna zu Paranoia. Wenn mein junger schizophrener Patient in einer manischen Phase war, hatte er das Gefühl, es würde ein Komplott geschmiedet, um ihn zu töten, und auch, realistischer, man werde ihn wegbringen. Er schimpfte über die Grausamkeit und Gleichgültigkeit der Psychiatrie und sagte, sie hätte ihn behandelt wie ein Tier. Es waren seine Wärme und Offenheit sowie seine mehr metaphysischen als religiösen Interessen, die mich bewogen, ihm Belladonna zu verordnen. Nach einer normalen Dosis von Belladonna 10M konnte er seine Beruhigungsmittel absetzen, und er blieb dann mehrere Monate lang relativ stabil. Wenn er wieder manischer wurde, habe ich die Häufigkeit der Arzneimittelgabe von wöchentlich auf täglich oder sogar stündlich erhöht, und das beruhigte ihn wieder. Leider kam er nach mehreren Monaten der erfolgreichen Therapie zu der Überzeugung, er brauche keine Behandlung mehr. Er erlitt einen Rückfall und wurde ins Krankenhaus eingewiesen.
Zusammenfassung
Unter den potentiell psychotischen Typen hat Belladonna die besten Chancen, relativ stabil und geistig gesund zu bleiben. Er besitzt alle feurigen Qualitäten wie Inspiration, Enthusiasmus, Ärger und Überheblichkeit, die beim geisteskranken Belladonna-Typ im Extrem auftreten. Gewöhnlich gibt es eine zwanghafte Beschäftigung mit metaphysischen und übersinnlichen Themen sowie den Glauben, man sei im Besitz übersinnlicher Kräfte. Im Vergleich dazu haben andere psychotische Typen eher rein religiöse Halluzinationen und Überzeugungen, obwohl sich hier manches überschneiden kann.
Der gesunde Belladonna-Typ leidet unter sprunghaftem Denken und Konzentrationsstörungen, aber er ist auch ein Querdenker und kann deshalb gut Probleme lösen. (Das gilt genauso für Mercurius und Argentum nitricum sowie einige der geistig gesünderen Angehörigen anderer potentiell psychotischer Konstitutionstypen.) Belladonna neigt zu Tagträumerei, statt sich auf die anstehende Arbeit zu konzentrieren. Seine Phantasie tendiert zu unwirklichen Vorstellungen wie in der Science-fiction oder im Herrn der Ringe von J. R. Tolkien. Er ist ein ziemlich herrischer, anmaßender Typ, der nicht besonders zu Depressionen neigt und seine Ansichten meist kompromißlos vertritt.
Der geisteskranke Belladonna-Typ hat Halluzinationen ebenso wie Momente der Ekstase, der Wut, der sexuellen Erregung und der intellektuellen Inspiration. Außerdem kann er unter Verfolgungswahn leiden.
Symptome, die Belladonna bestätigen, sind unter anderem Hyperaktivität in der Kindheit, die Tendenz zu Entzündungen und starke Körperhitze.
Körperliche Erscheinung
Belladonna-Männer sind meist stämmig und muskulös (Kent: »kräftig, mit Blutüberfülle«). Das Gesicht ist oft breit, und die Lippen sind im allgemeinen ziemlich dick. Die Haare sind gewöhnlich dunkel und wellig.