Syphilinum

Grundzug: krankhafter Trübsinn

Syphilinum ist ein seltsamer und deshalb faszinierender Konstitutionstyp. Er ist nicht weit verbreitet, und seine Geistessymptome werden in den alten Arzneimittellehren kaum berücksichtigt. Vereinfacht kann man die drei Miasmen nach folgenden funktionellen Kriterien unterteilen:

  • Psora – Unterfunktion (z. B. verstopfung, Apathie)
  • Sykose – Überfunktion (z. B. Durchfall, Eile)
  • Syphilis – gestörte Funktion (z. B. Darmgeschwüre, Geisteskrankheit)

Mittel, die mit geistig gestörten Persönlichkeitsbildern korrespondieren, wie Stramonium, Hyoscyamus und Anacardium, gehören im wesentlichen zum syphilitischen Miasma. Insofern ist es kein Wunder, daß Syphilinum selbst ein merkwürdiges Bild geistiger Störung bietet. Ich möchte jedoch gleich betonen, daß einige Syphilinum-Menschen nur wenige oder gar keine der abnormen Geistessymptome des Mittels zeigen und fast nur auf der Basis ihrer körperlichen Symptome, ihrer Familiengeschichte und der Allgemeinsymptome identifiziert werden können.

Die Tochter des Todes

Der merkwürdigste und faszinierendste Aspekt im Persönlichkeitsprofil von Syphilinum ist die Tendenz, sich von allem angezogen zu fühlen, was mit dem Tod zusammenhängt. Eine Syphilinum-Frau, die mir in jeder Beziehung geistig normal vorkam, erzählte mir, daß sie als Kind vom Tod so fasziniert war, daß sie die Körper toter Tiere in einer Schublade aufhob, um hin und wieder einen Blick daraufwerfen zu können. Sie begrub ihre Katze im Garten und grub sie alle paar Monate wieder aus, um die Überreste zu untersuchen. Dabei spürte sie keine Traurigkeit, sondern war lediglich fasziniert von dem fortschreitenden Verfall. Ihre Hauptbeschwerde war eine starke Agoraphobie (Platzangst), die nur in fremder Umgebung auftrat und sehr gut auf Syphilinum 10M reagierte.

Syphilinum-Menschen können sich von allem angezogen fühlen, was mit dem Tod zusammenhängt. Eine meiner Patientinnen, ein auf typische Weise blasses, abgemagertes Mädchen, sagte, ihre Lieblingstiere seien Spinnen und Fledermäuse. Sie hielt sich eine Spinne als Haustier und fütterte sie gelegentlich mit Fliegen. Außerdem liebte sie Friedhöfe, wo sie oft spazierenging und sich die Grabsteine ansah. Das gab ihr ein Gefühl des Friedens. Wie viele Syphilinum-Menschen war sie oberflächlich relativ normal und zeigte ihre ungewöhnlichen Vorlieben und ihre krankhaften Geistessymptome nur bei näherem Hinsehen. Einige Syphilinums haben eine Art sadistischer Ader: Sie beobachten gerne, wie Tiere sterben, und zertreten deshalb Insekten oder werfen sie ins Wasser und beobachten, wie sie ertrinken. Ich habe bisher nicht erlebt, daß sich Syphilinum auch gegenüber Menschen grausam verhält, aber das Potential ist wahrscheinlich vorhanden.

Daß Syphilinum vom Tod und von makabren Dingen fasziniert ist, spiegelt sich manchmal auch in ihren Träumen. (Die meisten Syphilinum-Patienten, die ich kennengelernt habe, waren weiblich.) Eine Patientin erzählte mir, sie träume oft von Skeletten oder Schädeln oder davon, daß sie selbst begraben sei, und sie empfinde diese Träume nicht als Alpträume. Der Homöopath muß sich klarmachen, daß diese Art, vom Tod fasziniert zu sein, echt und tief verwurzelt ist und nicht etwa eine Marotte, die der Patient pflegt, um sich interessant zu machen. Gewöhnlich weiß der Syphilinum-Mensch, daß seine Interessen sonderbar sind, und behält sie deshalb für sich.

Mir sind keine Patienten mit sexuellen Fetischen begegnet, die etwas mit Verstorbenen zu tun gehabt hätten, aber die Porträts von zwei Menschen mit solchen Fetischen in den beiden Filmen Der Mann, der die Blumen liebte und Golden Braid, die der australische Regisseur Paul Cox kunstvoll inszeniert hat, erinnern sehr stark an Syphilinum. Beide Charaktere beschäftigen sich nicht nur besessen mit dem Tod und Verstorbenen, sondern sammeln auch zwanghaft schöne Dinge. Ich hatte eine Syphilinum-Patientin, deren liebstes Hobby es war, schöne Vasen zu sammeln, und die meisten Syphilinum-Patienten, die ich behandelt habe, liebten alles Schöne und neigten auch dazu, Dinge zu sammeln.

Zwanghaft-besessen

Alle syphilitischen Arzneimitteltypen neigen zu Zwangsverhalten. Die Pedanterie von Arsenicum ist allgemein bekannt, und das am besten bekannte mentale Symptom von Syphilinum ist gewöhnlich der Waschzwang. Davon sind zwar nicht alle Syphilinums betroffen, aber die meisten, die ich kennengelernt habe, hatten diesen Zwang an irgendeinem Punkt ihres Lebens bis zu einem gewissen Grad (Kent: »wäscht immer ihre Hände«). Am häufigsten findet man den Zwang, sich oft die Hände zu waschen. Der Betreffende hat in der Regel das Gefühl, vergiftet zu sein, und fürchtet sich vor Krankheitserregern; deshalb werden die Hände zigmal oder sogar hunderte Male am Tag gewaschen. Wenn eine solche Frau jemandem die Hand gegeben hat, fühlt sie sich verseucht und hat keine Ruhe, bis sie sich die Hände gewaschen hat. Eine Syphilinum-Patientin, die ganz klassisch von Beerdigungen, Spinnen und dergleichen fasziniert war, wusch sich auf eine andere, aber genauso zwanghafte Art. Jeden Morgen und jeden Abend verbrachte sie ungefähr eine Stunde im Badezimmer und schrubbte jeden Zentimeter ihres Körpers sauber. Als Kind hatte sie damit ihre Familie verärgert, die sich an ihr Reinigungsritual hatte anpassen müssen, Sie sagte, sie fühle sich schmutzig und habe auch Angst, wenn sie sich nicht so ausgiebig wasche.

Manchmal ist der Waschzwang von Syphilinum subtiler, oder die Patientin versucht, ihn wegzurationalisieren. Eine Frau, die sehr deutlich Syphilinum war, sagte, sie wasche ihre Hände zwar häufig, aber das habe damit zu tun, daß sie Köchin sei. Es kam mir so vor, als habe sie unbewußt einen Beruf gewählt, in dem sie ihren Waschzwang beibehalten konnte.

Wenn wir vom Ursprung der Nosode ausgehen, dann scheint es irgendwie passend, daß Syphilinum-Menschen sich oft vor Verseuchung fürchten. Eine junge Frau konsultierte mich, um ein sonderbares Syndrom behandeln zu lassen, das seine Ursache angeblich darin hatte, daß sie in ihrem Beruf als Druckerin mit einer Zyanidverbindung in Berührung gekommen war. Obwohl die fragliche Berührung vor etwa 18 Monaten stattgefunden hatte, sagte sie, ihre Haut scheide immer noch Zyanid aus, und alles, was sie anfasse, werde davon verseucht. Wenn sie es dann einen Tag später wieder berühre, bekomme sie dadurch Symptome wie Hautbrennen, Kopfschmerzen und geistige Verwirrung. Deswegen konnte sie keine Bücher lesen, kein Essen in den Kühlschrank stellen, und sie mußte ihre Kleidung nach einmaligem Tragen waschen. Sie war eine intelligente Frau und hatte sich die Mühe gemacht, Laborberichte zu beschaffen, die offenkundig bestätigten, daß sie kurz nach der angeblichen Exposition Spuren von Isozyanaten an ihrer Kleidung hatte. Sie konnte jedoch nicht nachweisen, daß ihre Haut anderthalb Jahre später immer noch das Toxin absonderte, und ich machte ihr klar, daß, selbst wenn es so sein sollte, die Symptome unabhängig davon auftreten würden, ob sie etwas zuvor durch sie »Infiziertes« anfaßte oder nicht. Dafür hatte sie eine ziemlich komplizierte Erklärung, daß nämlich die Toxine, die aus ihrer Haut kämen, sich nach einer Weile an der Luft chemisch veränderten und dann freies Zyanid abgäben, was bei Berührung zu den entsprechenden Symptomenführe.

Ihre Erklärung erschien so überzeugend, daß ich dachte, es könnte möglicherweise doch etwas daran sein, aber um nicht irgendwelchen Hirngespinsten nachzujagen, beschloß ich, sie zunächst konstitutionell zu behandeln. Es gab nur wenige Leitsymptome, aber sie hatte die für Syphilinum typische geisterhafte Blässe und den ausgezehrten Körper. Außerdem hatte sie offenbar die Wahnidee, verseucht zu sein, und so gab ich ihr Syphilinum 10M. Nach einigen Wochen berichtete sie, ihre körperlichen Symptome seien etwas geringer geworden, aber was noch wichtiger war, sie beherrschten ihr Leben nicht mehr, weil sie weniger darauf achtete. Allmählich war sie bereit, die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, daß ihre Symptome prinzipiell einen psychischen Ursprung haben könnten, und sie gab mir eine interessante Zusatzinformation. Kurz bevor sie mit der Chemikalie in Berührung gekommen war, war sie vergewaltigt worden. Ich hatte den Eindruck, daß diese Vergewaltigung die konstitutionell in ihr angelegte Neigung, sich verseucht zu fühlen, aktualisiert hatte. Seitdem hatte sie wiederholt gedacht, sie hätte beim Einkaufen das Gesicht des Vergewaltigers in der Menge gesehen, obwohl der Vorfall sich mehrere hundert Meilen entfernt abgespielt hatte. Nach der Einnahme von Syphilinum verschwanden diese störenden Phänomene.

Eine andere verbreitete Besessenheit von Syphilinum ist die Neigung, Dinge zu sammeln und sie dann in einer bestimmten Ordnung aufzustellen. Das ist aber nicht so spezifisch, weil man es bei jedem der syphilitischen Typen finden kann. Ein Beispiel ist die Patientin, die Vasen sammelte, sie dann in Papier wickelte und sehr ordentlich in ihren Schränken aufbewahrte. Diese Eigenart kann sich auch einfach in der Tendenz manifestieren, Blechdosen in der Vorratskammer in Reih und Glied aufzustellen oder Briefmarken zu sammeln und peinlich genau zu ordnen. Wahrscheinlich handelt es sich dabei um einen psychologischen Abwehrmechanismus, der einem Geist, der sich unbewußt (oder bewußt) vor Desintegration fürchtet, das Gefühl von Stabilität vermitteln soll.

Selbstzerstörung und Verzweiflung

Das syphilitische Miasma ist destruktiv. Auf der körperlichen Ebene manifestiert es sich in Form von Geschwüren, Schwäche und angeborenen Mißbildungen. Auf der psychischen Ebene kann es verschiedene Arten von Geistesstörungen hervorrufen. Eine der charakteristischen Eigenschaften von Syphilinum ist der Hang zu einem selbstzerstörerischen Verhalten. Der Syphilinum-Typ ist passiver als Hyoscyamus und Stramonium, und er ist im allgemeinen psychisch »normaler«. Während letztere ein offen selbstzerstörerisches Verhalten wie Selbstverstümmelung zeigen können, tendiert Syphilinum häufiger zu einer Art Stoizismus und zur Vernachlässigung. Eine Patientin berichtete beispielsweise, wenn sie einen Stein im Schuh habe, gehe sie einfach weiter und entferne ihn erst, wenn der Fuß blute, obwohl sie auch vorher schon beträchtliche Schmerzen habe. Es war nicht so, daß sie die Schmerzen genossen hätte, aber sie nahm sie einfach nicht wichtig.

Eine andere Frau, die offensichtlich psychisch normal war, sich aber als Kind vom Tod fasziniert gefühlt hatte, erzählte, sie habe als Anfängerin beim Bergsteigen einen Unfall gehabt, bei dem ihr ein großer Felsbrocken auf den Kopf gefallen sei, was zu einer Gehirnerschütterung geführt habe. Ihre Gruppe war der Meinung, sie solle nicht weiterklettern, sondern lieber umkehren, aber sie weigerte sich, obwohl sie erhebliche Kopfschmerzen hatte. Eine Syphilinum-Frau hielt jahrelang an einer Beziehung fest, in der ihr Partner ihr verbot, das Haus zu verlassen. Er hatte ihr befohlen, dort zu bleiben und auf ihn zu warten, und genau das tat sie. Sie gab seinetwegen sogar eine vielversprechende Karriere als Künstlerin auf. Als ich sie nach dem Grund fragte, konnte sie nur sagen, sie habe ihn geliebt. Dieselbe Frau neigte dazu, sich zu betrinken, wenn sie unglücklich war, und dann nach sehr lauter Musik zu tanzen, nachdem sie vorher ihr Gesicht grell geschminkt hatte. Ihr neuer Partner war bei der Konsultation anwesend und berichtete, seine Freundin sei dann wie wahnsinnig, und sie werde gewalttätig, wenn er versuche, sie zu beruhigen.

Keiner meiner Syphilinum-Patienten war Alkoholiker, aber viele betranken sich anscheinend, wenn sie deprimiert waren, und viele hatten eine Familiengeschichte, in der es entweder Fälle von Alkoholismus oder Selbstmord gab (was von vielen anderen Homöopathen bestätigt wird). Einige Syphilinum-Menschen haben Depressionen, die sehr stark und charakteristisch sind. Sie sprechen von einem Gefühl der Leere, als seien sie in einem Ödland, und von dem Gefühl, ihr Leben werde sich nie zum Besseren ändern (Kent: »zweifelt an der Genesung«, »Gleichgültig, kann sich über nichts freuen«).

Eine Frau erzählte mir, daß sie in solchen Phasen stundenlang Löcher in die Luft starre, in einer Art Selbstvergessenheit, in der sie wenig fühle und gar nichts denke. Wenn Freunde versuchten, sie aus diesem Zustand herauszuholen, hatte sie das Bedürfnis, sich umzubringen. Dieselbe Frau fürchtete sich davor, ins Bett zu gehen. Sie stand dann nachts stundenlang auf einem Fleck und starrte ins Leere, bis sie schließlich auf dem Fußboden einschlief. Ihre Depressionen und ihr seltsames nächtliches Verhalten verschwanden nach einigen Dosen Syphilinum 10M. Statt dessen fühlte sie nun jedoch eine anscheinend unbegründete Wut auf ihren Ehemann. Als Kind war sie von einem aggressiven Vater, der Alkoholiker war, unterdrückt worden, und ich hatte den Eindruck, daß dies die eigentliche Ursache ihrer Depressionen und Ängste war. Insofern war die Verwandlung der Depressionen in Wut ein gesundes Zeichen, auch wenn sie diese Wut nun auf den Ehemann projizierte. Vor der Einnahme von Syphilinum war diese Patientin auf eine ungesunde Weise passiv. Sie schloß sich jedem an, der einen stärkeren Willen hatte als sie selbst, und hatte das Gefühl, es sei eigentlich egal. Nur unter dem Einfluß von Alkohol und lauter Musik war sie in der Lage, ihre unterdrückte Vitalität und auch ihre Wut zu spüren. Nachdem sie das Mittel genommen hatte, gewann sie anscheinend erheblich mehr Kontrolle über ihr Leben und war nicht länger davon abhängig, daß ihr Mann alle Entscheidungen für sie traf.

Das Gefühl der Leere, über das manche Syphilinum-Menschen berichten, scheint mit ihrer tödlichen Blässe und ihrem oft ausgemergelten Körper übereinzustimmen. Man hat den Eindruck, daß sie nur zaghaft nach dem Leben greifen, und dieser Eindruck wird dadurch verstärkt, daß sie vom Tod so fasziniert sind. Eine Syphilinum-Patientin erzählte mir, sie habe als Kind nicht gewagt, schlafen zu gehen, bevor sie nicht ihr Gesicht im Spiegel gesehen hatte. Es war so, als habe sie Angst gehabt, sie würde im Schlaf einfach aufhören zu existieren, wenn sie sich nicht vorher im Spiegel davon überzeugt hatte, daß es sie gab. Die morbide Todesfaszination der eher klassischen Syphilinum-Persönlichkeit, kombiniert mit dem charakteristischen blassen Teint und den spitzen Zähnen, haben schon zu Vergleichen mit Vampiren und Zombies geführt. Syphilinum-Menschen mögen manchmal so aussehen, als hätten sie schon einen Fuß im Grab, aber zumindest reflektiert der Spiegel noch ihr Bild.

Furcht und mediale Begabung

Wie Stramonium und Hyoscyamus kommt Syphilinum oft mit übersinnlichen Bewußtseinsinhalten in Berührung, die für die meisten von uns unbewußt bleiben. Bei Stramonium brechen diese unbewußten Kräfte auf dramatische Weise an die Oberfläche und verschwinden dann wieder. Bei Syphilinum ist die Verbindung beständiger und weniger dramatisch. Die Aspekte des Lebens (und besonders des Todes), die die meisten Menschen gerne ins Unterbewußtsein verdrängen, sind bei Syphilinum Bestandteil der Persönlichkeit, und daraus erwächst ein relativ stabiles, aber sehr ungewöhnliches Individuum. Ein Aspekt von Syphilinums Zugang zu Informationen, die normalerweise im Unterbewußtsein angesiedelt sind, ist ihre Tendenz, in vielen Fällen mediale Fähigkeiten zu zeigen. Viele Syphilinums neigen zu übersinnlichen Erfahrungen wie Hellsichtigkeit, außerkörperlichen Erlebnissen und Halluzinationen. Eine Syphilinum-Frau, die ich behandelt habe, konnte nicht Auto fahren, weil sie nach einer Weile immer Halluzinationen bekam, bei denen sie sich einbildete, Menschen am Straßenrand oder sogar auf der Straße zu sehen. Eine andere Frau stellte fest, daß die Straßenlampen immer erloschen, wenn sie daran vorbeiging. Ich begleitete sie eines Abends und bestätigte, daß das tatsächlich passierte. Zu ihrer Freude entdeckte sie schließlich, daß sie die Beleuchtung wieder anstellen konnte, indem sie sich darauf konzentrierte. Das war für sie sehr wichtig, weil sie immer das Gefühl gehabt hatte, sie sei verhext und vom Unglück verfolgt. Als sie feststellte, daß sie die Straßenbeleuchtung sowohl anstellen als auch abschalten konnte, begann sie zu denken, sie habe sowohl konstruktive als auch destruktive Fähigkeiten.

Mediale und halluzinatorische Tendenzen destabilisieren oft den Verstand, und das führt dazu, daß einige Syphilinum-Menschen Angst um ihre geistige Gesundheit haben (Kent: »fürchtet, den Verstand zu verlieren«). Daraus kann sich auch eine allgemeine Furchtsamkeit entwickeln, die sich in Form grundloser Ängste oder als Agoraphobie äußert. Eine Syphilinum-Patientin pflegte in Panik zu geraten, wenn sie sich zu lange in der Stadt aufhielt. Als Kind hatte sie geträumt, unsichtbar zu sein, und wenn sie in Hut und Mantel ausging und so ihre Identität verbarg, fühlte sie sich sicherer. Viele Syphilinum-Menschen verhalten sich in Gesellschaft bescheiden und ziemlich passiv, aber sie haben durchaus eine wilde Seite, die unter dem Einfluß von Alkohol und manchmal auch beim Sex herauskommt.

Ich bin sicher, daß Syphilinum als Arznei einige Zustände von Demenz und Geisteskrankheit abdeckt (Kent: »Idiotie«, »lachen und weinen ohne Grund«), aber ich habe sie noch nicht erlebt. Als Homöopathen bekommen wir selten die ausgeprägteren Beispiele geistiger Labilität zu Gesicht, die unsere Vorgänger im vergangenen Jahrhundert wahrscheinlich häufiger in ihrer Praxis gesehen haben.

Ein komplizierter männlicher Syphilinum-Fall

Die meisten Syphilinum-Patienten, die ich kennengelemt habe, waren Frauen, und bei ihnen spielte Wut entweder keine Rolle, oder sie kam nur unter dem Einfluß von Alkohol auf. Ich habe jedoch einen männlichen Syphilinum-Patienten behandelt, der sehr viel Wut ausdrückte und gleichzeitig andere sehr klassische Syphilinum-Züge wie selbstzerstörerisches Verhalten und Angst vor Schmutz aufwies. Sein Fall unterschied sich stark von meinen weiblichen Syphilinum-Patienten und erinnerte mehr an das populäre Bild des aggressiven, selbstzerstörerischen Typs, das viele Homöopathen von Syphilinum haben. Deshalb vermute ich, daß das Geschlecht der Patienten großen Einfluß darauf hat, wie das syphilitische Miasma ausgeprägt wird. Wie bei Stramonium neigen die männlichen Vertreter der Syphilinum-Konstitution offenbar stärker dazu, die aktiven und aggressiven Eigenschaften des Typs auszudrücken, während bei den Frauen die mehr passiven Eigenschaften des Typs stärker zur Geltung kommen. Mein männlicher Syphilinum-Patient, den ich Dave nennen will, war ein begabter Musiker, der fähig war, in einen fast mystischen Strom musikalischer Inspiration einzutauchen, so daß er sehr spontan Lieder komponieren konnte. (Das erinnert mich an den begabten Mercurius-Dichter, der ähnlich inspiriert war. Diese beiden Typen haben viele Gemeinsamkeiten.)

Als ich Dave zum ersten Mal sah, dachte ich sofort an Syphilinum, weil seine beiden Augen zwei völlig unterschiedliche Farben hatten. Er führte das darauf zurück, daß seine Mutter im Hinterland von Australien nuklearer Strahlung ausgesetzt gewesen war. Ob das nun stimmte oder nur ein weiteres Beispiel für Syphilinums Angst vor Verseuchung darstellte, war mir nicht klar. Bei seiner ersten Konsultation war Dave in einem ausgesprochen überaktiven Zustand. Seine Gedanken überschlugen sich, und er sprach schnell und etwas zerstreut. Mit anderen Worten, er war manisch. Er sagte, er habe eine Stoffwechselstörung, die zu diesen dramatischen Stimmungsschwankungen führe. Seine Launen wirkten wie ein Wechsel zwischen selbstmörderischer Verzweiflung, Wut und inspirierter Begeisterung. Dazwischen fühlte er sich eine Zeitlang normal, aber wenn er etwas aß, kamen die Anfälle wieder. Er sagte, er würde oft fasten, um sie zu vermeiden. Während eines Anfalls hatte er das Gefühl, sein Bewußtsein würde auseinanderfallen, und seine Gliedmaßen würden zittern und seien nicht mehr mit dem Körper verbunden (ähnlich wie bei Baptisia und Phosphor im Fieber). Während seiner Anfälle ließ er seinen Ärger an unbelebten Dingen aus. Beispielsweise schlug er bei einer Gelegenheit Blecheimer platt und schnitt sich dabei in die Hand. Seine Wut wurde besonders durch jeden sexuellen Kontakt verschlimmert, und zwar so sehr, daß er nicht mit seiner Frau schlafen konnte. Wenn er es doch tat, wollte er einen harten, gewalttätigen Sex, über den er anschließend beschämt war. Er litt zweifellos große Qualen, und obwohl man ihn nicht als geisteskrank bezeichnen konnte, war er doch nicht weit davon entfernt.

Dave war ein hyperaktives Kind gewesen. Seltsamerweise hatte er bis zum Alter von sechs Jahren nicht gesprochen. Diese Art einer extrem ungewöhnlichen Entwicklung findet man oft in der Geschichte von Syphilinum-Patienten, obwohl es hinsichtlich der jeweiligen Ausprägung erhebliche Unterschiede geben kann. Dave sagte, er habe seitdem nicht mehr aufgehört zu reden. Seine Geburt war sehr schwierig gewesen. Er war im Geburtskanal steckengeblieben und hatte seine Mutter fast »zerrissen« und dem Tod nahegebracht. Er sagte, man habe ihn für tot gehalten und beiseite gelegt, später jedoch bemerkt, daß er atmete. Diese Geschichte finde ich ziemlich symbolisch für Syphilinum. Diese Menschen werden gewöhnlich in eine schwierige Umgebung hineingeboren, oder sie haben einen familiären Hintergrund, der durch Gewalt, Alkoholismus und Selbstmord geprägt ist. Oft sind sie körperlich oder geistig gestört, und häufig führen sie ein Leben voller Qualen. In Daves Fall hatte sexueller Mißbrauch zu seiner lebenslänglichen Wut beigetragen, und das kommt ebenfalls häufiger vor bei dieser Art von schwer gestörter Grundverfassung, in der der Syphilinum-Samen aufgeht.

Dave sagte, er könne sich jeden Tag umbringen, außer wenn er Alkohol trinke. Er fühlte sich nicht auf morbide Weise vom Tod angezogen, wie ich es bei Syphilinum-Frauen mit ihrer Liebe zu Friedhöfen etc. beobachtet habe, sondern er war statt dessen zu Tode verzweifelt. (Ich vermute, daß die morbide Faszination bei manchen Syphilinum-Frauen eine sublimierte Form des selbstmörderischen Impulses ist, eine Art stellvertretender Erkundung des Todes.) Seltsamerweise brauchte Dave nur ein Bier am Tag zu trinken, um seinen geistigen Zerfall unter Kontrolle zu halten. So war er kein Alkoholiker im üblichen Sinne, aber er war abhängig vom Alkohol und sagte, sein Verlangen danach sei enorm. Ein anderer Weg, seine innere Spannung abzubauen, bestand für Dave darin, sich selbst Schmerz zuzufügen. Hier haben wir eine Erklärung für das selbstzerstörerische Verhalten von Syphilinum. Dave sagte, manchmal müsse er sich selbst Schmerz zufügen, um die Energie, die durch ihn hindurchfließe, zu unterdrücken. Erst kürzlich habe er deshalb seine Hände in heiße Kohlen gehalten und auch auf einem Nagelbett geschlafen! Er sagte, der Schmerz verschaffe ihm ein Gefühl der Ruhe.

Dave hatte verschiedene Formen der typischen Syphilinum-Furcht vor Verseuchung. Manchmal konnte er es nicht ertragen, schmutzig zu werden, und mußte sich übergeben, wenn er mit Schmutz in Berührung kam. Zu anderen Zeiten, wenn er entspannter war, genoß er es sogar, schmutzig zu werden. Er achtete sehr auf Hygiene und hatte große Angst vor Virusinfektionen. In seinem Fall schien diese Furcht gerechtfertigt, denn er sagte, er werde jedesmal todkrank, wenn er sich einen Virus fange, verliere Gewicht und höre manchmal sogar auf zu atmen. Vielleicht ist das der Ursprung von Syphilinums Angst vor Verseuchung, ein (normalerweise unbewußtes) Wissen darum, daß eine Infektion für ihren Organismus zu verheerend ist, was wahrscheinlich mit dem ererbten syphilitischen Miasma selbst zusammenhängt, denn Syphilis war in der vorantibiotischen Zeit eine verheerende Krankheit.

Dave hatte zahllose Nahrungsmittelallergien, die so schlimm waren, daß jedes Nahrungsmittel ihn in ernste Gefahr bringen konnte. Dies ist eigentlich nur eine andere Version von Syphilinums Angst vor Verseuchung, ganz gleich ob dahinter eine körperliche Überempfindlichkeit steckt oder nicht. Dave hatte außerdem eine paranoide Furcht vor Strahlung jeder Art, einschließlich Röntgenstrahlen und Mikrowellen. Außerdem war er sehr medial veranlagt und sagte, er reagiere zu sensibel auf die Schwingungen, die von anderen Menschen ausgingen, und könne deren Gedanken gelegentlich telepathisch wahrnehmen. Als Beispiel führte er eine Patientin an, die er getroffen hatte, als er einen Verwandten in einem psychiatrischen Krankenhaus besuchte. Diese Frau hatte seit Jahren nicht mehr gesprochen, sondern nur »sinnlos« ihre Hände bewegt. Dave wußte sofort, was diese Bewegungen bedeuten sollten, und antwortete ihr. Er berichtete, daß dieser Durchbruch in bezug auf die Kommunikation der Frau zu ihrer Genesung und Entlassung aus dem Krankenhaus geführt habe. (Auch wenn diese Geschichte phantastisch klingt, ist sie doch fast genau die gleiche, die C. G. Jung in seinen frühen psychiatrischen Aufzeichnungen notierte. Er hatte auch intuitiv das seltsame Verhalten – in diesem Fall »irres Gerede« – einer »verrückten« Patientin verstanden und sie offensichtlich dadurch geheilt, daß er ihr antwortete.)

Daves mediale Sensibilität führte dazu, daß er abends Angst hatte, ins Bett zu gehen. Nachts reiste er in seinen Träumen in andere Welten und sprach mit den Geistern dort. Manchmal waren es wundervolle Gespräche mit spirituellen Wesen, aber bei anderen Gelegenheiten waren es auch furchterregende Auseinandersetzungen mit Dämonen, Er hatte außerdem hellsichtige Träume und konnte die Zukunft anderer Menschen intuitiv erkennen. Bei einer dieser Gelegenheiten hatte er plötzlich das Gefühl gehabt, nicht mehr atmen zu können, und kurz danach wurde das Baby eines Freundes tot aufgefunden.

Ein Aspekt von Daves Symptomen war eindeutig syphilitisch, aber ich hatte ihn bisher noch bei keinem Syphilinum-Fall festgestellt. Er sagte, er sei so analytisch, daß er manchmal keinen ganzen Satz verstehen könne, weil er so damit beschäftigt sei, jedes einzelne Wort, das gesagt wurde, zu analysieren. Dadurch hatte er in der Schule Schwierigkeiten gehabt, denn er geriet in Verwirrung und beantwortete Fragen, die gar nicht gestellt worden waren. Hyperanalytisches Denken findet man auch bei anderen syphilitischen Typen, besonders bei Arsenicum und Kalium carbonicum, aber ich habe es noch nie in einem solchen Ausmaß wie bei Dave erlebt. Es hat etwas mit der wohlbekannten zwanghaft-besessenen Art von Syphilinum zu tun, zu der auch ein ausgeprägter Blick fürs Detail gehört. Einmal mehr wirkt Syphilinum wie eine extreme Version von Arsenicum.

Obwohl Dave ein sensibler Mensch war, schuf er zu seinem Selbstschutz eine dominierende, aggressive Persönlichkeit. Das war ihm vollkommen klar. Er nannte diese Persönlichkeit den »Diktator«, Als Diktator konnte er sexuell aktiv sein, aber nur auf eine dominierende Weise, und er sagte, der Diktator unterdrücke sowohl seine Verletzlichkeit als auch seine Kreativität als Musiker. So war er hin und her gerissen zwischen der Sicherheit des Diktators und der Kreativität seines ungeschützten Selbst. Daves Schutzmechanismus erklärt auch die diktatorischen Tendenzen anderer syphilitischer Typen einschließlich Veratrum und Mercurius. Letztere neigen ebenfalls zu Gefühlen großer Verletzlichkeit, und das ist wahrscheinlich der Ursprung ihrer diktatorischen Tendenzen.

Nach der Einnahme von Syphilinum 10M fühlte Dave sich einige Stunden lang »aufgedreht« und anschließend sehr ruhig. Das Verlangen nach Alkohol hörte fast umgehend auf, und als ich ihn eine Woche später wiedersah, war er auch mental besser in der Realität verankert. Er war wesentlich ruhiger und sprach klar und normal. Eine Weile brauchte Dave wöchentliche Dosen der Arznei, um ausgeglichen zu bleiben, aber allmählich konnten wir die Einnahmeabstände verlängern. Auch heute nimmt er das Mittel noch gelegentlich, wenn er das Gefühl hat, die geistige Kontrolle zu verlieren. Daves Fall zeigt auf ziemlich dramatische Weise, wie heftig die geistigen Störungen bei einigen Syphilinum-Menschen sein können, die sich hart an der Grenze zur Geisteskrankheit bewegen, aber doch nicht wahnsinnig werden. Er erklärt den Eindruck der Selbstzerstörung, den wir bei den Syphilinum-Frauen gewonnen haben, ebenso die medialen Tendenzen von Syphilinum und die mannigfaltigen Formen, in denen sich die Angst vor Verseuchung ausdrückt. Daves Fall macht deutlich, daß der selbstmörderische Impuls ein starker Zug bei Syphilinum ist, und bestätigt die klassische Einschätzung, daß ein starkes Verlangen nach Alkohol vorliegt (Kent: »Verlangen nach hochprozentigen Getränken«).

Körperliche Erscheinung

Körperlich gibt es viele charakteristische Merkmale, die man oft bei Syphilinum-Menschen findet. Sie sind im allgemeinen sehr dünn, und der Teint ist gewöhnlich sehr blaß. Meist haben sie außergewöhnlich spitze Zähne, die man auch als »Sägezähne« bezeichnet. Diese drei Merkmale findet man alle in der auffallenden Erscheinung des berühmten Rockmusikers und Sängers David Bowie. Zusätzlich ist die Iris in Bowies Augen unterschiedlich groß und verschieden gefärbt. Solche Entwicklungsstörungen findet man bei Syphilinum-Menschen weit häufiger als bei anderen Typen. Ich habe Syphilinum-Kinder gesehen, bei denen nur die Eckzähne wuchsen, und andere, bei denen eine Schicht der Haut fehlte, so daß sie fast transparent wirkten.

Das Gesicht ist im allgemeinen dünn und knochig mit entweder scharfgeschnittenen oder groben Zügen. Einige Syphilinum-Menschen haben eine relativ normale, ausgeglichene Persönlichkeit, aber eine sehr ungewöhnliche körperliche Erscheinung, während andere sowohl körperlich als auch psychisch relativ normal sind. Bei letzteren muß man sich auf die körperlichen Symptome und auf einzelne mentale Symptome verlassen, um das Mittel zu identifizieren.