Ignatia

Grundzug: Achterbahn der Gefühle

Ignatia ist kein sehr verbreiteter Typ (Natrium kommt bei mir ungefähr 50mal häufiger vor als Ignatia), aber wenn der Homöopath erst einmal ein Gefühl für diesen Typ entwickelt hat, kann er ihn nicht mehr verfehlen.

Emotionale Intensität

Das offensichtlichste Charakteristikum bei Ignatia ist die emotionale Intensität. Ignatia empfindet alle Emotionen – Ärger, Trauer, Freude, Liebe, Angst, Lust – mit einer Intensität, die es bei keinem anderen Konstitutionstyp gibt. In den meisten Fällen drückt Ignatia ihre Gefühle auch aus (bei der überwiegenden Mehrheit handelt es sich um Frauen), und deshalb gilt sie bei ihren Freunden und in der Familie als sehr emotionaler Mensch. Es gibt jedoch eine gewisse Tendenz, unangenehme Gefühle zu unterdrücken, und diese Tendenz wächst in dem Maße, in dem Ignatia psychische Störungen entwickelt. Wie ihre stabilere Schwester Natrium muriaticum kann sie Trauer lange Zeit unterdrücken und der Welt ein tapferes Gesicht zeigen. Irgendwann brechen die unterdrückten Gefühle bei Ignatia jedoch auf und bringen eine emotionale Flut hervor, die weitaus dramatischer als bei Natrium ist (Kent: »Sie ist unfähig, ihre Gefühle oder ihre Erregung unter Kontrolle zu halten«).

Weil Ernotionen, wie das lateinische Wort es ausdrückt, sich bewegen und vorübergehen, fühlt sich Ignatia oft sehr veränderlich und wirkt auch so (Kent: »Stimmung – wechselnd, veränderlich«). Bei den meisten Menschen filtert der Intellekt die Emotionen und schwächt sie so weit ab, bis sie die glatte, beständige Oberfläche des Selbstgefühls nicht länger bedrohen. Ignatia fühlt die Emotionen jedoch so intensiv, daß der Intellekt davon überwältigt wird und die Person am Ende nur noch aus ihren Gefühlen besteht. Die meisten Ignatia-Frauen sind sehr ausdrucksstark und lassen einen schnell wissen, ob sie wütend, ekstatisch, entsetzt oder tief deprimiert sind. (Diese emotionalen Extreme findet man bei Ignatia ebenso häufig wie die milderen Formen.)

Die gesunde Ignatia

In den persönlichkeitsbildenden Jahren reagieren Ignatia-Kinder sehr empfindsam auf ihre emotionale Umgebung. Einige wenige von ihnen haben das Glück, die Kindheit ohne ein wesentliches emotionales Trauma zu überstehen. Diese seltenen Fälle der emotional gesunden Ignatia zeigen alle positiven Charakteristika des Typs; sie sind frei von den Verzerrungen durch unterdrückten Schmerz und Ärger und von den Abwehrmechanismen, die man entwickelt, um weiteres Leid zu vermeiden.

Die ausgeglichene Ignatia ist sensibel, leidenschaftlich und kultiviert (Kent: »freundliche, empfindsame, zartbesaitete Frauen«). Intensiv empfindet sie die Schönheit der Erde, die Tiefe ihrer Liebe und das prickelnde Gefühl der Leistung. Ihr Verstand ist gewöhnlich scharf, aber sie nimmt sich selbst und ihre Umgebung nicht vorwiegend über den Intellekt wahr. Statt dessen ist sie mehr emotional, intuitiv und leidenschaftlich. Das gesunde Ignatia-Mädchen ist sehr offen für das Wunder des Lebens und scharfsinniger als die meisten anderen Kinder (Kent: »überernpfindsam«). Sie ist ein tiefgründiger Mensch, der Schönheit zu schätzen weiß und gründlich nachdenkt. Meist ist sie ein wenig still oder sogar schüchtern, wenn sie jung ist (Kent: »ruhig«), weil sie alles Ordinäre ablehnt, und so schützt sie sich bis zu einem gewissen Grad vor der Welt. Wie Silicea und China wird sie begeistert auf diejenigen reagieren, die sensibel genug sind, sie zu verstehen, aber auch auf jene, die zwar weniger sensibel sind, jedoch ihren guten Willen bewiesen haben. Die gesunde Ignatia ist warmherzig und liebevoll gegenüber ihren Freunden und der Familie; sie geht mehr aus sich heraus und ist spontaner als die meisten anderen sensiblen, kultivierten Typen.

Die meisten gesunden Ignatias haben künstlerisches Talent und interessieren sich häufig sehr für Kunst, entweder als Künstler oder als Kunstliebhaber. Ignatia hat viel Stil und schafft es mühelos, chic auszusehen. Weniger gesunde Ignatias machen große Anstrengungen, um gut auszusehen und andere zu beeindrucken, aber für die gesunde Ignatia ist Stil und guter Geschmack ein natürlicher Teil ihrer inneren Kultiviertheit. Es ist kein Zufall, daß französische Frauen für ihren guten Stil bekannt sind. Viele von ihnen sind Ignatia, ebenso wie viele andere Frauen aus romanischen Ländern.

Ich erinnere mich an eine solche gesunde Ignatia, eine Musiklehrerin und Kornponistin, die mich wegen ihrer Hypoglykämie konsultierte. Sie war extrem offen und dynamisch und strahlte vor übersprudelnder Energie, die mich belebte. Im Gespräch mit mir war sie begeistert und fröhlich, lachte immer wieder oder weinte auch gelegentlich, wenn sie von früheren traurigen Zeiten sprach. Ihr Charisma und ihre Offenheit erinnerten an Phosphor, aber sie hatte mehr Tiefe, und ihr Ego oder Identitätsgefühl war stärker. Ihre Hypoglykämie legte sich rasch nach einer Dosis Ignatia 1M, und bei der zweiten Konsultation wollte sie alles über Homöopathie wissen. Ignatias Mischung aus Sensibilität und Leidenschaft verleiht ihr eine Lebendigkeit, die man sonst am ehesten bei emotional gesunden Lachesis- und Medorrhinum-Frauen findet.

Freidenkerinnen und Feministinnen

Man kann Ignatia als den kraftvollsten aller femininen Typen bezeichnen. Gesunde Ignatias haben eine natürliche Autorität, die sich aus ihrem außergewöhnlichen Selbstbewußtsein in Verbindung mit ihrem scharfen Verstand ergibt. Sie sind gewöhnlich Freidenkerinnen, die von den tiefgründigsten und gleichzeitig fortschrittlichsten Ideen angezogen werden, und diese Ideen verfolgen sie oft wissenschaftlich oder beruflich. In meiner eigenen Praxis habe ich drei solche Ignatia-Frauen kennengelernt, die alle für den Rundfunk arbeiteten und alle Programme machten oder machen wollten, die das »Bewußtsein der Zuhörer wecken«, Eine dieser Frauen hatte Buddhismus an der Universität studiert und war auch Sanskrit-Studentin, und eine andere erforschte den kulturellen Einfluß der indischen Philosophie auf indische Frauen im 18. Jahrhundert. Wie viele Ignatia-Frauen fühlte sie sich herausgefordert, für die Rechte ihrer schwächeren Schwestern einzutreten, und war eine Art Feministin. Viele Ignatia-Frauen drücken feministische Ideen aus, denn sie sind mindestens so mutig und stark wie Männer, und sie geraten in Wut, wenn sie sehen, wie andere Frauen von Männern unterdrückt und beherrscht werden.

Unsicherheit und Launenhaftigkeit

Die meisten Ignatias erleben in der frühen Kindheit die eine oder andere Art von emotionalem Trauma. Ignatia ist so sensibel, daß sogar relativ »normale« Familienverhältnisse, die harmlos erscheinen, Unsicherheit hervorrufen können. So kann es beispielsweise vorkomrnen, daß die Eltern des Kindes sich zwar lieben, ihre Gefühle füreinander im Laufe der Jahre aber für selbstverständlich halten und ihre Zuneigung zueinander weniger zeigen. Das passiert bei den meisten Paaren, aber das sensible Ignatia-Kind empfindet so etwas vielleicht als Bedrohung (wenn auch nur unterbewußt), weil dem uneingeschränkten Strom der Liebe, den es braucht, irgend etwas fehlt. Ignatia-Kinder sind besonders anfällig für Verlassenheitsgefühle. Dabei ist es ein merkwürdiges Phänomen, daß Menschen, die mit einer Ignatia-Konstitution geboren werden, in ihrem Leben anscheinend Umstände anziehen, die zu einem dauerhaften Gefühl der Verlassenheit führen. Sie können zum Beispiel Waisenkinder sein und bei Pflegeeltern aufwachsen, die es zwar gut meinen, aber das Kind trotzdem nicht verstehen, oder ein Elternteil ist vielleicht kalt und unnahbar. Andere Kinder wachsen unter ähnlichen Umständen mit einer Natrium-Konstitution heran. Es scheint so, als seien die Konstitutionstypen schon vor der Geburt festgelegt und als würden die nachfolgenden Lebensbedingungen nur dazu dienen, mehr oder weniger gesunde Varianten des jeweiligen Typs hervorzubringen.

Ein Ignatia-Kind, das einmal tief verletzt wurde, wird nie wieder jemandem voll vertrauen. Um das verletzte Herz bildet sich eine Mauer oder eine Art Hornhaut, die mit jeder weiteren Verletzung, die das Leben bringt, immer dicker und fester wird. Diese Mauer der Abwehr drückt sich zunächst in Form von Ärger und Empörung aus, die jedesmal aufkommen, wenn Ignatia das Gefühl hat, daß sie zurückgewiesen, fallengelassen oder vernachlässigt wird (Kent: »Ärger–ausgelöst durch Widerspruch«). Die normalerweise liebevolle Ignatia kann dann zur Eiskönigin werden, und ihre zusammengepreßten Lippen und ihr eisernes Schweigen sagen in solchen Situationen genauso viel aus wie sonst bittere Beschimpfungen. Shakespeare hatte wahrscheinlich Ignatia im Sinn, als er den Satz prägte: »Keine Höllengewalt ist schlimmer als eine gekränkte Frau.« Wie Sepia, Nux und Lachesis kann sich die wütende Ignatia dann rächen (Kent: »Wut führt zu Gewalttätigkeit«), aber häufiger streicht sie den Menschen, der sie verletzt hat, aus ihrem Herzen und spricht nie wieder mit ihm. Ignatia neigt sehr zur Schwarzweißmalerei (und sie trägt diese Farben in der Tat häufiger als jede andere Frau). Entweder sie liebt, oder sie haßt, und wenn sie haßt, zieht sie es meist vor, sich emotional völlig vom anderen zu lösen, weil ihr Haß auf eine tiefempfundene Verletzung zurückgeht, die sie lieber vergessen möchte.

Das Ignatia-Kind drückt seine Unsicherheit in Form von Launen aus. Das kleine Mädchen ist vielleicht meist fröhlich, aber irgendeine Kleinigkeit, die ein weniger empfindsames Herz gar nicht bemerken würde, läßt das Gefühl des Ungeliebtseins aufkommen, das die Wurzel der Labilität von Ignatia ist. Vielleicht machen die Eltern viel Wirbel um den Geburtstag der Schwester, oder das Kind wird für eine besondere Schulleistung nicht ausreichend gelobt. Bei solchen Gelegenheiten schmollt Ignatia gerne und zieht sich auf eine ziemlich dramatische Weise zurück, womit sie die anderen gleichzeitig strafen und Aufmerksamkeit erregen will (Kent: »verdrossen«, »kindisches Verhalten«, »Wann immer man ihre Pläne durchkreuzt oder ihr widerspricht, will sie alleine sein und brütet über die Widrigkeiten des Lebens«). Wenn Natrium-Kinder sich verletzt fühlen, ziehen sie sich still in sich selbst zurück, tun aber nach außen so, als sei alles in Ordnung. Ignatia wendet sich dagegen von ihren Eltern ab, stürmt in ihr Zimmer und schreit vielleicht: »Geht weg! Ihr liebt mich nicht!« Die Eltern sind entsetzt, weil sie gar nicht wissen, worüber sich das Kind so aufregt.

Liebeskummer

Während der Pubertät neigt der Ignatia-Teenager mehr als seine Altersgenossen zu intensiven und wechselnden Launen. Das Mädchen verliebt sich vielleicht in verschiedene Jungen, und schließlich ist sie in einen von ihnen völlig vernarrt. Die meisten Ignatia-Teenager wissen, daß sie leicht verletzlich sind, und gehen keine Beziehungen ein, bevor sie nicht sicher sind, daß ihre Gefühle erwidert werden. Wenn sie dann doch von ihrem Partner zurückgewiesen werden, grämen sie sich über alle Maßen (Kent: »Beschwerden durch enttäuschte Liebe«). Nun ist natürlich folgendes passiert: Die Verteidigungswälle, die ihr Herz fast während des ganzen Lebens geschützt haben, sind gefallen, und in diesem verletzlichen Zustand bringt das Gefühl, verlassen worden zu sein, alle unterdrückten Schmerzen der Kindheit wieder zum Vorschein. Sie fühlt sich wieder genauso wie das Kind, das glaubte, nicht geliebt zu werden.

Während einer solchen Krise bricht Ignatia zusammen und schluchzt unkontrolliert. Sie verliert jeden Appetit, ißt wochenlang so gut wie nichts (und erbricht, wenn sie etwas gegessen hat), während sie über ihrem Schmerz brütet und sich nach der Liebe sehnt, die sie verloren hat. (Kent: »Trotz aller Bemühungen hat der Schmerz sie einfach in Stücke gerissen.«) Jeder Versuch, über ihre Gefühle zu sprechen, endet in einer Flut von Tränen, und in ihrer Verzweiflung sagt sie, daß sie sterben will. Einige Ignatias nehmen dann eine Überdosis Beruhigungsmittel oder andere Tabletten und bringen sich damit vielleicht sogar um, weil sich der Schmerz in ihrem Herzen so unerträglich anfühlt.

Ignatia-Frauen haben oft die Angewohnheit, sich in Männer zu verlieben, die ihre Liebe nicht erwidern können. Möglicherweise ist der betreffende Mann schon verheiratet, oder er ist einfach nicht fähig, frei zu lieben. Kent schreibt darüber in seinen Vorlesungen zur homöopathischen Arzneimittellehre, daß Ignatia sich entweder in einen verheirateten Mann verliebt oder in jemanden, »den sie sonst verachten würde«. Wir alle neigen dazu, in unserem Leben immer wieder in Situationen zu geraten, in denen wir die Konstellation der Eltern-Kind-Beziehung wiederholen. Es scheint so, als wolle die Psyche auf diesem Weg alte Wunden heilen, indem sie »das Drehbuch neu schreibt«. Ignatias Angewohnheit, sich in Männer zu verlieben, die sie nicht haben kann, läßt sich so als Spiegel der Kindheit verstehen, in der ihre Liebe zu ihren Eltern scheinbar nicht erwidert wurde.

Panik

Während emotionaler Krisen gerät Ignatia oft in Panik. Sie fühlt sich verwundbar und verliert die Kontrolle über sich, was Angst vor Geisteskrankheit auslösen kann. Es ist wunderbar zu beobachten, wie schnell die Arznei in solchen Fällen die Stabilität und Ruhe wiederherstellt. Ein einziger Tropfen im Sprechzimmer auf die Zunge gegeben, und der Gesichtsausdruck der Patientin wechselt von Angst zu Erleichterung und Erstaunen.

Wenn Ignatia unter Streß steht, kann sie auch Phobien entwickeln. Möglicherweise stehen sie in direktem Bezug zu bestimmten Erinnerungen an die schmerzhaften Erfahrungen, die die Krise heraufbeschworen haben. Beispielsweise hat sie vielleicht während einer Busfahrt realisiert, daß ihre Beziehung beendet war, und danach hatte sie bei jeder Busfahrt Angst. Der Ursprung ihrer Phobie muß ihr gar nicht bewußt sein, vor allem wenn sie erst Wochen oder sogar Jahre nach dem auslösenden Ereignis aufgetreten ist, nachdem eine andere Belastung die alten, unterbewußten Erinnerungen wieder geweckt hatte. Diese Phobien können allmählich vergehen, wenn Ignatia wieder stabiler wird, aber manchmal bleiben sie auch als Zeichen, daß der zugrundeliegende Schmerz nicht geheilt wurde.

Gram

Ignatia und Natrium muriaticum sind die beiden Arzneimittel, an die alle Homöopathen zuerst denken, wenn es darum geht, einen tiefen oder langanhaltenden Gram zu behandeln. Die Psychodynamik dieser beiden Mittel ist insofern sehr ähnlich, als beide Typen sich als Kinder ungeliebt fühlten (wenn auch vielleicht nur unbewußt) und ihr Gram mit dem alten Trauma eines Liebesverlustes zu tun hat, sei es nun durch den Tod eines geliebten Menschen oder durch Zurückweisung. Natrium ist kontrollierter und trauert oft schweigend, während Ignatia bei einem schmerzlichen Verlust meist jede Kontrolle verliert, zumindest am Anfang. Als eine Art aktiver Reaktion auf den Schock schluchzt sie zunächst hysterisch, gefolgt von Wochen emotionaler Reizbarkeit, in denen Ausbrüche von Wut und Tränen mit Perioden wechseln, in denen sie still (aber sehr schmerzlich) trauert. Wie Natrium neigt Ignatia dazu, sich zu isolieren, wenn sie verletzt ist (Kent: »Trost verschlechtert«, »Abneigung gegen Gesellschaft«). Sie ist einmal verlassen worden, und sie will das nicht ein zweites Mal riskieren, indem sie bei einem anderen Menschen Trost sucht. Zeitweise fühlt sie sich jedoch erheblich schlechter, wenn sie alleine ist, besonders in akuten Phasen des Grams.

Jeder Konstitutionstyp kann nach einem schmerzlichen Verlust oder nach der Trennung von einem geliebten Menschen in einen Ignatia-Zustand geraten. Die prinzipiellen Symptome sind unkontrolliertes Weinen, schnell wechselnde Gefühle, Übelkeit, Erbrechen und Appetitlosigkeit mit einem Gefühl der Leere im Magen, die durch nichts zu füllen ist, und einem Kloßgefühl im Hals. Wenn der Gram chronisch geworden ist und sich in eine Art Hintergrundtrauer verwandelt hat, die nur noch aufflackert, wenn der Patient an den Verlust erinnert wird, hilft wahrscheinlich eher Natrium muriaticum. Mit anderen Worten: Ignatia ist nützlich im akuten Stadium des Grams, Natrium für die chronischen Auswirkungen.

Eine der charakteristischen, aber ziemlich unüblichen Manifestationen des Ignatia-Grams ist Hysterie. »Hysterie« im medizinischen Sinne bedeutet, daß körperliche Symptome als Reaktion auf einen emotionalen Schock auftreten, und in diesem Sinne ist Ignatia wahrscheinlich das beste Arzneimittel zur Behandlung von Hysterie. (Kent weist in seinen Vorlesungen darauf hin, daß hysterische Persönlichkeiten, die sich bewußt unmöglich aufführen, um Aufmerksamkeit zu erregen, durch Ignatia nicht beeinflußt werden. Sie brauchen Mittel, die einen stärkeren Bezug zu geistig unausgeglichenen Typen haben, wie Moschus oder Lilium tigrinum.)

Zu den hysterischen Reaktionen von Ignatia gehören üblicherweise Symptome, die mit dem Nervensystem zusammenhängen, wie Epilepsie, Muskelkrämpfe, Taubheit und so weiter. Einen solchen Fall habe ich kürzlich erlebt, ein junges Mädchen, das plötzlich eine fluktuierende Blindheit entwickelte, verbunden mit schnellen, unfreiwilligen Augenbewegungen. Sie wurde von Augenspezialisten untersucht, die zu der Überzeugung kamen, daß die Symptome hysterisch waren, also ohne organische Ursache und lediglich durch Streß ausgelöst. Im Verlauf der Konsultation wirkte das Mädchen sehr sensibel. Sie war reif für ihr Alter (zwölf Jahre), aber sie hatte keine Erklärung dafür, warum eine so dramatische Reaktion aufgetreten war. Ihre Eltern waren fürsorglich, und es hatte in letzter Zeit kein erkennbares emotionales Trauma gegeben, das ihre offensichtlich hysterische Blindheit gerechtfertigt hätte. Gleichwohl gab sie zu, daß sie sich in den letzten Monaten sehr angespannt gefühlt hatte, und sie bestätigte, daß ihre Blindheit proportional zum Grad der Anspannung zugenommen hatte. Beim Gespräch mit ihren Eltern wurde klar, daß ihr Vater von seiner Arbeit besessen war und nur sehr wenig Zeit zu Hause verbrachte. Und selbst wenn er zu Hause war, war er gedanklich immer noch bei seinen Geschäften, und das Mädchen hatte kaum wirklichen Kontakt mit ihm. Weiterhin litt die Mutter an einer chronischen Krankheit, die sie daran hinderte, ganz sie selbst zu sein. Und schließlich hatte sich die Patientin in ihrer Schule niemals wohl gefühlt, denn während sie sensibel und kultiviert war, hatten die anderen Kinder einen einfacheren Hintergrund, bezeichneten sie als »Snob« und schlossen keine Freundschaft mit ihr. Mit anderen Worten, obwohl es kein herausragendes traumatisches Ereignis gab, das ihre Symptome hätte erklären können, hungerte sie permanent nachjener spontanen Liebe, die nur relative entspannte und zufriedene Eltern geben können, und diese subtile, unbeabsichtigte Zurückweisung wurde durch die weniger subtile Behandlung verstärkt, deren Opfer sie in der Schule war. Eine oder zwei Dosen Ignatia 10M besserten rasch die Augenprobleme, und der Streß wurde dadurch reduziert, daß sie in eine vornehmere Schule wechselte und der Vater sich mehr Zeit für die Familie nahm.

Bitterkeit und Vermännlichung

Wenn Ignatia von einem geliebten Menschen zurückgewiesen wird (oder auch nur das Gefühl hat, sie werde zurückgewiesen), dann wird sie gewöhnlich bitter oder sogar rachsüchtig (Kent: »Kränkung«, »streitsüchtig«, »Ärger – mit stillem Kummer«). Zu solchen Zeiten kann sie eine Salve von Beschuldigungen loslassen, wie unfair man sie behandelt hat, wie grausam der andere ist, wie selbstsüchtig und lieblos, wobei ihre Entrüstung vor allem verschleiern soll, daß sie sich tief in ihrem Inneren für nicht liebenswert hält. Einmal mehr bestätigen die äußeren Umstände sie in dieser Überzeugung. Eine unsichere Ignatia reagiert überempfindlich auf jede Art von Zurückweisung, sei sie auch noch so unbedeutend. Wenn eine Verabredung, auf die sie sich gefreut hat, kurzfristig abgesagt wird, nimmt sie das übel und drückt ihre Verstimmung auch deutlich aus. Die Zuneigung einer beleidigten Ignatia kann man zwar zurückgewinnen, aber dazu muß man sich erstens entschuldigen und ihr zweitens selber Zuneigung und Respekt entgegenbringen, die beiden Dinge, die sie am meisten braucht.

Ignatia-Frauen, die ein besonders schweres Leben haben, neigen dazu, hart und bitter zu werden. Je härter sie werden, desto männlicher erscheinen sie. Während die harte Ignatia-Frau immer noch das Verlangen nach irgendeiner Art von Bestätigung hat, aber nicht mehr wagt, emotional verletzbar zu sein, versucht sie Eindruck zu machen, indem sie andere dominiert. Sie ist herrschsüchtig, extrem reizbar und hat ein Temperament, das starke Männer vor Angst zittern läßt, Um sich wichtig zu fühlen, wird die harte Ignatia ehrgeizig und setzt auf soziale Anerkennung. Sie wird zur engagierten Karrierefrau und versucht, die Männer in ihrer eigenen Welt des Wettbewerbs und des Intellekts zu schlagen.

Je maskuliner Ignatia wird, desto stärker verläßt sie sich auf ihren Intellekt. Hier versucht sie andere zu beeindrucken, indem sie hochgradig intellektuell wird. Ignatia-Akademikerinnen sind oft sehr stolz auf ihre Zeugnisse und legen größten Wert auf die Titel vor dem Namen. Dadurch fühlen sie sich wichtig, und das ist fast genauso gut wie das Gefühl, geliebt zu werden. In unserer männlich dominierten Gesellschaft ist es im allgemeinen leichter, Anerkennung über den Intellekt zu erreichen als durch künstlerische oder praktische Tätigkeiten. Außerdem kann Ignatia, wenn sie sich in ihren Intellekt versenkt, die schmerzhafte Welt der Gefühle vermeiden, und für viele Ignatias ist es leicht, intellektuell zu glänzen, weil sie einen scharfen Verstand haben.

Die maskulinere Ignatia-Frau kann man leicht mit Nux vomica verwechseln, das man, obwohl es einem vorwiegend männlichen Typ entspricht, gelegentlich auch bei Frauen findet. Beide sind entschlossen, effizient und aggressiv, und viele Nux-vomica-Frauen sind ebenfalls intellektuell orientiert. Beide tragen gerne männliche Kleidung wie Hosenanzüge, haben recht »strenge« Frisuren und eine angespannte, aufrechte Haltung. Der Homöopath muß genau hinsehen, um die beiden zu unterscheiden. Ignatias Stärke ist brüchiger, weil sie lediglich ein Abwehrschild ist, um das empfindsame Herz zu schützen. So ist Ignatia defensiver als Nux und neigt mehr dazu, beim geringsten Anzeichen von Widerspruch oder Mißfallen aus der Haut zu fahren. Nux hat viel Vertrauen in sich selbst und ihre Fähigkeiten, und deshalb kann sie andere Meinungen eher ignorieren. Die harte Ignatia-Frau wird in vielen Fällen immer noch nach Liebe suchen und immer noch zusammenbrechen, wenn sie ihr Herz öffnet und sich dann zurückgewiesen fühlt. (Äußerlich sehen die beiden Typen ziemlich unterschiedlich aus, was eine zusätzliche Hilfe bei der Identifizierung ist.)

Der andere Typ, der mit der harten Ignatia-Frau verwechselt werden kann, ist die harte Natrium-Frau. Hier sind die Ähnlichkeiten stärker, weil die Psychologie vergleichbar ist. Der hauptsächliche Unterschied besteht darin, daß Ignatia schneller explodiert. Sie bricht rasch entweder in Ärger oder in Tränen aus, wogegen Natrium ihre Gefühle verbirgt und kontrolliert. Beide Typen suchen nach Selbstbestätigung durch ihre Karriere, aber Ignatia wird im allgemeinen eher durch das Prestige mächtiger Spitzenpositionen angezogen, während Natrium, gleichgültig wo sie arbeitet, zufrieden ist, wenn man sie für effizient und unentbehrlich hält.

Prestige

Oft ist die emotional unsichere Ignatia-Frau fast die ganze Zeit damit beschäftigt, ihr schwaches Selbstwertgefühl zu stärken. Sie wird ihren Freunden helfen, solange sie eine Gegenleistung erwarten kann, sowohl in Form verbaler Anerkennung als auch in dem Sinne, daß sie sich Unterstützung für eine ungewisse Zukunft sichert. Da sie das Gefühl hat, sie sei in der Vergangenheit (emotional) mißbraucht worden, paßt sie sehr auf, daß sie nicht übervorteilt wird, und sie wird gewöhnlich darauf achten, daß man sich an ihre Hilfe erinnert. Namen fallenzulassen gehört zu den bevorzugten Wegen, auf denen Ignatia nach Prestige sucht. Ignatia hat einen natürlichen Charme, und sie sieht oft bezaubernd aus. Ihr Äußeres, ihre Kultiviertheit und ihre Gabe, sich selbst ins rechte Licht zu setzen, bringen sie oft in Kontakt mit gesellschaftlichen Berühmtheiten, und sollte sie tatsächlich nicht als vollwertiges Mitglied in die gesellschaftliche Elite aufgenommen werden, wird sie zumindest das Beste aus ihren guten Kontakten machen. Ich habe mehrere Ignatia-Frauen kennengelernt, die regelmäßig ihre Bekanntschaft mit der einen oder anderen Berühmtheit im Gespräch erwähnten, und eine von ihnen sammelte sogar Zeitungsausschnitte, auf denen sie mit berühmten Klienten zu sehen war.

Ignatia ist im allgemeinen ein sehr geselliger Mensch. Die gesunde Ignatia genießt es, ihre Begeisterung mit anderen zu teilen, und hat eine herzliche Art. Die mehr verletzliche Ignatia nutzt gesellschaftliche Kontakte oft als Mittel, um sich Anerkennung und Unterstützung zu sichern. Oft füllt sie ihren Kalender mit Verabredungen, Partys und Soireen und hält Kontakt zu möglichst vielen Leuten. Bei solchen Gelegenheiten ist sie äußerst charmant und genießt die Bewunderung, die ihr zuteil wird, vor allem wenn sie vom anderen Geschlecht kommt. Ignatia ist sehr abhängig von der Wertschätzung anderer, und sie wird oft nach Komplimenten angeln, wenn sie nicht von alleine kommen. (Die Rollen, die die Schauspielerin Diane Keaton oft spielt, sind typisch für Ignatia und demonstrieren diese Eigenart sehr schön.)

Dramatik

Ignatia gehört zu den dramatischsten Typen. Viele Ignatia-Frauen nutzen diesen guten Effekt als Schauspielerinnen. Die Schauspielerei paßt in vieler Hinsicht ideal zu Ignatia, denn damit erntet sie Anerkennung für ihre naturgegebene emotionale Dramatik und Eitelkeit. Um dramatisch zu sein, braucht man Zuschauer, und Ignatia lernt von früher Kindheit an, ihre Zuschauer zu benutzen, um Liebe und Anerkennung zu bekommen oder sie für ihr Unglück zu geißeln. Selbst wenn sie glücklich ist, dramatisiert die unsichere Ignatia ihre Gefühle in dem Versuch, von ihrem jeweiligen Gegenüber eine positive Antwort zu bekommen in der Art wie: »Ja, du bist wundervoll, und ich liebe dich.« Die unsichere Ignatia brüstet sich damit, wie glücklich sie ist, und übertreibt alles, um als etwas Besonderes und dadurch liebenswert zu erscheinen. (Natrium muriaticum und Phosphor-Frauen tun das auch.) Wenn sie gelobt wird oder auch nur Zustimmung findet, ist sie hingerissen und kichert vor Vergnügen. (Kichern ist sehr charakteristisch für Ignatia.) Andererseits wird die Andeutung einer negativen Antwort (oder auch gar keine Reaktion) Bestürzung auslösen, und Ignatia ist dann entweder deprimiert oder verärgert. Ignatia sehnt sich danach, für irgend jemanden ein ganz besonderer Mensch zu sein, und sie verbringt den größten Teil ihrer Zeit damit, nach Anerkennung zu streben.

Kultiviertheit

Gesunde Ignatias sind meist sehr kultiviert, und zwar sowohl intellektuell als auch ästhetisch/künstlerisch. Ignatia ist zu einer subtilen akademischen Analyse ebenso fähig wie zu zarten, intuitiven Einsichten. Darin gleicht sie Silicea und auch einigen Sepias. Da sie so emotional ist, interessiert sich die gesunde Ignatia meist mehr für die Lebensbedingungen der Menschen (wie auch der Tiere und Pflanzen) als für die theoretischen Wissenschaften, die wenig mit ihren eigenen Lebenserfahrungen zu tun haben. Literatur, Metaphysik und Anthropologie sind Gebiete, für die sie sich oft interessiert, ebenso wie Ernährung, Gesundheit und Esoterik. Die »nüchternen Wissenschaften« wie Mathematik, Physik, lngenieur- und Wirtschaftswissenschaften überläßt sie den mehr rationalen Typen und auch den stärker maskulinen Ignatias. Sie ist zwar durchaus fähig, diese Fächer zu verstehen, aber sie erschließen sich ihr nicht intuitiv und natürlich.

Die gesunde Ignatia ist auch gesellschaftlich kultiviert. Sie wird sich in den meisten Fällen freundlich und höflich ausdrücken und nichts Vulgäres an sich haben. Weil ihre Gefühle so tief sind, ist ihr Wertesystem klar und fordert gegenseitigen Respekt und Verständnis. Wie Silicea verbindet Ignatia zarte Empfindsamkeit mit einem starken Identitätsgefühl und rückt nicht von ihren ethisch hohen persönlichen Ansprüchen ab. (Das Gefühl für die eigene Identität ist bei Ignatia insgesamt noch stärker als bei Silicea, weil sie nicht besonders unter Furchtsamkeit und Unentschiedenheit leidet.) Ignatia ist gewöhnlich bei all ihrer Zartheit doch recht zielstrebig, und sie wird leicht verwirrt und ärgert sich über sich selbst, wenn sie ihren eigenen Prinzipien untreu wird. Nur wenn sie schon unempfindlicher geworden ist, wird sie auch opportunistischer und senkt ihren ethischen Standard. Aber selbst dann hält Ignatia gewöhnlich ihr Wort und erwartet das auch von anderen, weil sie es nicht erträgt, enttäuscht oder ausgenutzt zu werden. Ignatias Integritätsgefühl ist in manchen Fällen so stark, daß sie krank wird, wenn sie sich nicht an ihre eigenen Maßstäbe hält. Ich habe einmal eine junge Frau wegen schwerer Panikanfälle behandelt, die mit Fieberanfällen verbunden waren. Ihre Symptome begannen plötzlich, während sie in einem tropischen Land unterwegs war, und die Mischung aus psychischen und körperlichen Symptomen machte die Diagnose schwierig.

Sie erzählte mir etwas verlegen, sie habe kurz vor Beginn der Krankheit eine Urlaubsromanze mit einem Mann gehabt, den sie auf der Reise kennengelernt hatte. Sie hatte ihn nicht für besonders großartig gehalten, und es hatte ihr auch nichts ausgemacht, ihn zu verlassen, aber sie wurde krank. Sie fühlte sich sehr verstört, versicherte aber, sie habe zu Hause eine feste Beziehung, die sie, wie ihr inzwischen klargeworden war, nicht gefährden wollte. Dabei wurde deutlich, daß ihr Seitensprung ihr Integritätsgefühl so stark aus den Fugen gebracht hatte, daß sie krank wurde. Ihre Krankheit wurde schließlich als Virushepatitis diagnostiziert, aber ich bin sicher, daß der Zeitpunkt der Erkrankung kein Zufall war, und die Patientin verstand das auch intuitiv. Ihre Panikanfälle und das Fieber verschwanden rasch nach einigen Dosen Ignatia 10M, und als sie entlassen wurde, fühlte sie sich nur noch müde, was sich durch die Einnahme von China besserte.

Körperliche Erscheinung

Körperlich läßt sich Ignatia in zwei Typen unterteilen, zwischen denen es aber keine scharfe Trennungslinie gibt. Die kultiviertere Ignatia ist sehr schlank mit Iangen, zarten Knochen. Der maskulinere Typ ist schwerer und nimmt leicht an Gewicht zu. In dem Maße wie Ignatia männlicher wird, entwickelt sie eine stärkere Behaarung am Körper und im Gesicht. Beide Typen haben einen sehr dunklen Teint, obwohl einige von ihnen rote oder sogar blonde Haare haben. Das Gesicht ist eher eckig als rund mit meist hohen Wangenknochen, weshalb Ignatias oft gesuchte Models sind. Die Wimperu sind lang und empfindlich, und die Nase ist im allgemeinen gerade oder gebogen und spiegelt einen starken und subtilen Intellekt. Zu den bemerkenswertesten Zügen von Ignatia gehören ihre Lippen, die sehr voll, aber in einem zarten Bogen geformt sind und sowohl emotionale Intensität als auch Kultiviertheit widerspiegeln. Anders als Sepia hat Ignatia meist dickes, lockiges Haar, weil sie leidenschaftlicher ist. (Die englische Komikerin Eleanor Bron ist in ihrer körperlichen Erscheinung und auch als Persönlichkeit ein gutes Beispiel für eine Ignatia-Frau, ebenso die Filmschauspielerin Barbra Streisand.)